Menschenwerkzeug im All, wissenschaftliche Erforschung des Alls, der Mensch selber im All: um welches Ziel herbeiführen zu können? Wir wollen die Bedeutung des Sputnik-Starts vor 50 Jahren im Kontext dieser Frage erörtern. Sie ist durchaus nicht leer, wenn wir sie so allgemein stellen. Es war Nietzsches Epochendiagnose gewesen, dass die Menschen die Unendlichkeit und Ziellosigkeit ihrer Existenz entdeckt hätten. Früher hätten sie geglaubt, ein Ziel sei ihnen "in Gott" objektiv vorgegeben. Doch das habe sich als Illusion erwiesen. Seitdem breite sich der Nihilismus aus. Der einzige Weg, dem Nihilismus zu entkommen, bestehe darin, dass große Menschen ein neues Ziel, das mit allen bisherigen Zielen breche, frei erfänden. Doch woher sollte es kommen? Zuletzt kann Nietzsche, der sich selbst als großen Menschen zu sehen versuchte und daran zerbrach, als erfundenes Ziel nur den "Übermenschen" vorweisen, dessen Qualifikation darin besteht, die Ziellosigkeit zu ertragen.
Ist der Weg ins All ein großes Menschheitsziel, eine "Utopie"? Nietzsche glaubte das nicht: "Das Glück höherer Wesen auf Sternen", wie er es bei seinem Zeitgenossen Eugen Dühring fand, schien ihm nur "eine feinere Ausflucht vor der irdischen Unbefriedigung" zu sein; Leute, die so dachten, rechnete er zu "den Hinter- und Überweltlern", das heißt, er sah Jenseitsgläubige in ihnen. Ziele im Jenseits waren Ersatzziele, an die man nicht mehr ernsthaft glauben konnte. Auch Ernst Bloch glaubte es nicht: "Der Nihilismus des absinkenden Bürgertums lässt, indem er das Erdleben zur Sackgasse macht, das Human-Geographische gänzlich im Astronomischen entwertet sein, ohne jeden eigenen Bezugspunkt darin." Blochs Utopie war irdisch. Er postulierte die "utopische Zentralerde", "mit einem Markusplatz, der jetzt schon essentieller dreinsieht als die gesamte Inflation bloß astronomischer Unendlichkeit".
Wenn Nietzsche Marx gekannt hätte, hätte er sich fragen können, ob der Schrecken der Ziellosigkeit nicht vielleicht eine ganz banale Ursache hatte: das Kapital. Sobald eine Gesellschaft von der unendlichen Profitmaximierung durchdrungen ist, macht diese nicht nur jedes scheinbar objektiv vorgegebene Ziel zunichte. Sie verschleißt auch jedes erfundene Ziel in immer kürzerer Zeit. Noch das letzte Verpackungsdesign von Papiertaschentüchern kann nicht bleiben, was es ist, sondern muss wieder und wieder verändert werden. Die "Mode" wechselt - das kann sogar Spaß machen.
Die Phantasie der Supermächte
Wer in Berlin wohnt, hat den Sputnik ständig vor Augen. Der Fernsehturm am Alexanderplatz ist sein blinkendes Denkmal: eine sich verjüngende Röhre, die eine langsam rotierende Kugel trägt. Die Kugel mit Restaurantbetrieb stellt den Sputnik dar. Mit dieser Idee hatte der Architekt Hermann Henselmann 1959 einen Ostberliner Wettbewerb gewonnen. Man versteht es gut. Der einzige innerstädtisch angelegte Fernsehturm Europas, gebaut zwischen 1965 und 1969, überragte nicht nur die damalige Hauptstadt der DDR. Er war auch in Westberlin unübersehbar. Die Westberliner wurden mit den Augen auf einen der ganz großen Erfolge der Sowjetunion gestoßen: Ihr - und nicht den USA - war der erste Schritt ins Weltall gelungen.
Aber hier stocken wir schon. Der "erste Schritt ins Weltall", vonseiten der Menschheit wohl, getan durch ihre Repräsentanten? War das die Bedeutung des Sputnik-Starts am 4. Oktober 1957? Werden Supermächte aktiv, um sich solchen Träumen hinzugeben? Es scheint doch eher, dass der Sputnik-Start ganz andere Gründe hatte. Die gewaltigen Ressourcen waren nicht eingesetzt worden, um "der Menschheit einen alten Traum zu erfüllen". Vielmehr hatte das Wettrüsten die Phantasie der Supermächte beflügelt. Erdumkreisende Sonden sollten die Militärspionage perfektionieren. Jedes Gebäude, jeder Panzer im Feindland würde bald fotografiert werden können. Bis dahin hatte man es mit Spionageflugzeugen versucht, musste es auch noch in den ersten Jahren nach dem Sputnik-Start so halten. Denn zunächst blieb das Problem ungelöst, wie man Filmrollen zur Erde zurückholen konnte. Aber das sollte ein Ende haben. Gab es doch, wenn Flugzeuge abgefangen wurden, viel peinliches Aufsehen wie im Mai 1960, als die U-2 des amerikanischen Piloten Powers den Sowjets in die Hände fiel.
Deshalb hatten auch die US-Militärs die Aussetzung einer Sonde geplant. Und deshalb war es ihre Hauptsorge, es würde Proteste geben wegen der Souveränitätsverletzung beim Überfliegen von Staatsgrenzen. Um dem entgegenzuwirken, ließen sie die Sonde als Beitrag zum Internationalen Geophysikalischen Jahr 1957/58 ankündigen. Das geschah im Juni 1955 durch den Präsidenten Eisenhower. Die Sowjets reagierten rasch - nicht mit Protesten, sondern indem sie ein paar Tage später ebenfalls eine Sonde ankündigten. Als sie dann vier Monate schneller waren - der amerikanische Explorer 1 startete erst am 1. Februar 1958 -, waren die US-Militärs trotz des allgegenwärtigen "Sputnik-Schocks" nur mäßig erschrocken. Denn wenn die Sowjets sich neue Spionageräume eröffneten, war ihnen dasselbe doch auch gestattet.
Ein Ereignis wie der Sputnik-Start fällt nicht vom oder in den Himmel: Es ist der Kreuzungspunkt seiner Nachwirkungen und seiner Vorgeschichte. Wenn wir daraus, was sich da kreuzt, die Bedeutung des Sputnik-Starts ablesen wollen, stoßen wir abermals auf Militärisches. So waren drei Viertel der 3.000 künstlichen Erdsatelliten, die es 1987 gegen Ende des Kalten Krieges gab, mit militärischen Aufgaben betraut. Und schon bevor der Sputnik zu blinken begann, war die Interkontinental-Rakete R-7 gebaut worden, mit der man Atombomben transportieren konnte und die nun eben den Sputnik transportierte. Einen "Schock" löste der Sputnik-Start ja nicht zuletzt deshalb aus, weil nun auch die Öffentlichkeit wusste, die USA lagen in der Reichweite der sowjetischen Bombe. Auch Juri Gagarin wurde 1961 von der R-7, die man in seinem Fall in VOSTOK-1 nur umbenannte, ins All geschossen. Und was war die R-7 ihrerseits? Weiter nichts als eine Weiterentwicklung der "Wunderwaffen", die in Deutschland am Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt worden waren. Ebenso verhielt es sich mit der amerikanischen Rakete, die den Explorer trug.
Um atmen zu können
Die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs beuteten nicht nur die "Wunderwaffen" aus, sie hatten sich auch die dazugehörigen Techniker ins Land geholt. Der bekannteste Fall ist Wernher von Braun, der den Amerikanern diente. Die Sowjets hätten ihn auch gern bekommen. Ein anderer, nach dem sie vergeblich fahndeten, hieß Eugen Sänger. Sich seiner zu erinnern, ist nur scheinbar ein Exkurs.
Wie von Braun war auch Sänger für Militärisches eingespannt worden. Seit 1937 arbeitete er beim Forschungsinstitut der deutschen Luftwaffe, seit 1940 war er an der Entwicklung der Strahlentriebwerke beteiligt, dem Kern des V 1-Programms. Seine Schrift aus dem Jahr 1944 Über den Raketenantrieb für Fernbomber ist offenbar eine militärische Untersuchung. Doch in ihr ist auch schon die Technik des "Sänger-Projekts" vorgezeichnet, das Jahrzehnte später als die Trumpfkarte galt, mit der sich die Bundesrepublik in die Avantgarde der Raumfahrtmächte einreihen wollte. Mit dem "Sänger-Projekt" hatte sich der Fernbomber in etwas ganz Ziviles verwandelt: einen "Raumgleiter" mit der Eignung, Sonden und andere Nutzlast ins All zu bringen. Das deutsche Projekt setzte sich zwar gegen den französischen HERMES nicht durch. Aber noch 1991 glaubte man, HERMES sei nur eine Vorstufe, danach werde SÄNGER gebaut. Nach dem Sinn des Unternehmens gefragt, sagte der damalige Bundesforschungsminister Riesenhuber dem Spiegel: "Wir machen einen Sprung, der langfristig die Wirklichkeit verändert. Die US-Weltraumbehörde spielt ein Szenario durch, in der fernen Zukunft den Mars zu besiedeln."
Womit wir wieder bei den "Träumen" sind. Man kann sie nicht abtun, denn sie sind die Welt, in der die Pioniere der Weltraumtechnik lebten. Von Wernher von Braun ist es bekannt, es trifft auch für Eugen Sänger zu. "Die Menschen müssten die Dynamik ihres Charakters verlieren", schrieb er 1963 in seinem Buch Raumfahrt heute - morgen - übermorgen, "wenn sie sich in diesen nächsten Jahrhunderten Ellbogen an Ellbogen auf einer vollbesiedelten und polizeilich wohlgeordneten Erdoberfläche, deren einzelne Punkte nur mehr in stundenweiter Entfernung voneinander liegen, wohlfühlen und ihr Auge nicht mehr zu den Sternen erheben würden." - "Nicht nur um essen, sondern um geistig und seelisch atmen zu können, wie Menschen es müssen, werden sie nicht nur ihren Siedlungsraum, sondern ihren gesamten Lebensraum in den nächsten Jahrhunderten über die Enge ihres irdischen Gefängnisses hinaus ausweiten müssen."
Ohne Menschen wie Sänger und von Braun wären die Militärs nicht zu ihren Raketen gekommen. Sänger interessiert uns hier auch deshalb, weil schon allein seine Karriere davon zeugt, dass Menschen seines Schlags keine bloßen Hilfskräfte sind. Für einen wie ihn ist es kein Problem, aus der Nazizeit in die Nachkriegsdemokratie überzuwechseln. Ein Jahr nach Kriegsende wird er Berater des Ministeriums für Bewaffnung in Paris, 1951 wählt man ihn zum Präsidenten der neugegründeten Internationalen Gesellschaft für Raketenforschung und Astronautik. 1963 bekommt er einen Lehrstuhl an der Technischen Universität Berlin. Bei all dem muss er weder seinen fortdauernden Rassismus verschweigen noch sich auf die Seite des Westens gegen den Osten stellen. In dem genannten Buch spricht er von "verschiedenen Menschenrassen", unter denen die weiße Rasse führend sei. Ost und West im Kalten Krieg betrachtet er als die "beiden Flügel weißer Menschheit".
Obwohl er weiß, dass man Menschen wie ihn nur zur Erledigung militärischer Aufgaben herbeiruft, sieht er in sich und seinesgleichen die eigentlichen Herren. Sängers Argumentation klingt gar nicht verrückt: "Was überwiegend noch aus den alten Begriffen überlegener Zerstörungswaffen entstanden sein mag, das ganze militärische Arsenal der ballistischen Raketen mit ihrer weltumspannenden Bodenorganisation, ihrer wohleingespielten Zuliefererindustrie, ihrem bestausgebildeten, einschlägig erfahrenen und einsatzbereiten Personal und ihren von Jahr zu Jahr gesicherten Verteilungsbudgets von oft über zehn Prozent des Nationaleinkommens, stellt technisch die natürliche Grundlage praktischer Raumfahrtausübung dar." Das Militärische, meint er, wird in den Hintergrund treten, sobald der Kampf um die Erdherrschaft entschieden ist. Dann ergibt sich "die Möglichkeit, die gewaltigen Rüstungsindustrien der großen Industrieländer allmählich und ohne Erschütterung der Nationalwirtschaft in eine Raumfahrtindustrie überzuführen".
Der Mensch in der Wiege
Mit dem Namen Sputnik - deutsch Begleiter - hatten die Sowjets Konstantin E. Ziolkowski ehren wollen, den frühesten Pionier der Raumfahrttechnik. Von ihm war der Start eines "künstlichen Begleiters der Erde" als erster Schritt zur Eroberung des Alls vorausgesagt und für die Zeit um 1950 angesetzt worden. Sein Buch Die Erforschung des Weltraums mit Raketenkörpern hatte schon 1903 die theoretischen Grundlagen der Raumfahrt gelegt. Damals noch russischer Provinzlehrer, kam er später in der Sowjetunion zu hohen Ehren. Von ihm stammt der Satz: "Die Erde ist die Wiege des Verstandes, doch der Mensch kann nicht ewig in der Wiege bleiben." So ähnlich steht es auch auf seinem Grabstein. Wie man sieht, ist sein Motiv nicht militärischer, sondern anthropologischer Art.
Als der Sputnik gestartet war, bestand die Reaktion der Philosophin Hannah Arendt darin, dass sie sich an Ziolkowskis Grabstein erinnerte. Das bezeugt ihr 1958 erschienenes Buch The Human Condition (deutsch 1967 als Vita activa). Es setzt mit der Frage ein, warum der Sputnik-Start bei manchen Amerikanern "ein Gefühl der Erleichterung" geweckt habe, darüber, "dass der erste Schritt getan sei, um dem Gefängnis der Erde zu entrinnen". Eben wie schon Ziolkowski es erträumt hatte. Dem "Gefängnis der Erde" entrinnen: Arendt gebraucht dieselben Worte wie Sänger. Aber sie weitet den Kontext aus, indem sie das Fluchtmotiv auch am Werk sieht "in den Versuchen, Leben in der Retorte zu erzeugen oder durch künstliche Befruchtung Übermenschen zu züchten oder Mutationen zustande zu bringen, in denen menschliche Gestalt und Funktionen radikal verbessert werden würden". Übergreifend sei der Versuch, die natürlichen Existenzbedingungen des Menschen "umzutauschen" gegen künstlich geschaffene. An der Erfolgschance des Versuchs könne nicht gezweifelt werden: "wie wir ja auch leider keinen Grund haben, daran zu zweifeln, dass wir imstande sind, alles organische Leben auf der Erde zu vernichten". Damit spielt Arendt auf den drohenden Atomkrieg an. Von Umweltkatastrophen war damals noch nicht die Rede.
Wir sind wieder beim Militärischen. Aber in Arendts Diagnose ist nicht das Militärische grundlegend und der anthropologische "Umtausch" nur Überbau. Sie sieht es gerade umgekehrt: Das anthropologische Experiment wird schon durchgeführt. Es ist kein bloß geistiges Experiment, sondern ein handfest materielles. Das Militärische dient ihm, indem es durch Vernichtung des Umzutauschenden den Umtausch erzwingt. Was ist nun Grund, was Folge? Das lässt sich so abstrakt gar nicht beantworten. Denn was jedenfalls Marxisten als materielle Basis einer Gesellschaft bezeichnen, ist weder militärisch noch anthropologisch, vielmehr ökonomisch. Militär und Anthropologie sind zum Überbau zu rechnen. Natürlich wirken sie auf die Basis zurück: Es kann eine Atomwirtschaft, eine Raumfahrtindustrie geben, und die Retortenproduktion des Lebens kann profitabel betrieben werden. Was aber wichtiger für die Entwicklung wird - militärische oder anthropologische Antriebe -, kann nur der Gang der Geschichte entscheiden.
Zur Zeit des Sputnik-Starts waren beide Antriebe real. Dieser Kreuzungspunkt leitet also nicht nur vom Bau der "Wunderwaffen" zu den mehr als 2.000 Militärsonden von 1987 über. In ihm deutet auch die von Riesenhuber erwartete Mars-Besiedelung auf die weit kühneren Hoffnungen zurück, die ein Ziolkowski einst hegte. Der erste Pionier der Weltraumtechnik hatte sich vorgestellt, der Tod würde einmal abgeschafft sein, auch jeglicher Schmerz. Und sogar die Schwere. Denn eine künftige Menschheit werde sich im All aufhalten. Freilich sollten nur "die Ruhigsten, die Erfinderischsten, Ausdauerndsten, junge und wenn möglich zölibatäre Wesen, kurz, Engel in einer menschlichen Haut" den Zutritt zur Schwerelosigkeit haben. Ziolkowskis Anthropologie sieht vor, dass die Menschheit lediglich in einer überlegenen Rasse von Genies fortlebt, herangezüchtet unter einem zentralisierten Wissenschaftler-Regime durch Eugenik und Vernichtung von Schädlingen. Natürlich war das alles vergessen, als der Altvordere durch den Sputnik-Start noch einmal geehrt wurde. Beunruhigend sind seine Träume dennoch. Denn was einmal gedacht worden ist, verschwindet nicht so leicht.
Erdpolitik
"Das planetarische Zeitalter hat begonnen", überschrieb die FAZ den Leitartikel, mit dem sie am 7. Oktober 1957 den Sputnik-Start kommentierte. Tatsächlich war es eine Hauptwirkung des Ereignisses, dass Menschen sich als Bewohner nicht dieser oder jener Gegend, sondern der Erde bewusst zu werden begannen. Satellitenblick. Die Visualisierung der Erde im Zuge der Weltraumfahrt ist eine Veröffentlichung des Wissenschaftszentrums Berlin überschrieben. In ihr will Wolfgang Sachs zeigen, dass "durch das Foto aus dem All der Planet erst als Objekt konstituiert wurde". Er will sagen: nicht zuletzt als Objekt einer Ökologiebewegung, die nun erst entstand. " Rettet die Erde wäre vorher ein absurd-komischer Schlachtruf gewesen." Tatsächlich setzen einige der wichtigsten Texte dieser Bewegung mit dem Hinweis auf Erdfotos ein oder beziehen sich auf ihre motivierende Wirkung: zum Beispiel James Lovelocks Bücher über die Gaia-Hypothese, das die Erde zu einem einzigen Lebewesen erklärt, der Bericht der Brundtland-Kommission oder das Buch Wege zum Gleichgewicht von Al Gore.
Aber man muss zwei Phasen unterscheiden. Die erste Phase, in der die Erde nur eng umkreist wurde, konnte noch kein Photo von ihr im Ganzen hervorbringen. Dennoch führte der Umstand, dass die Erdmenschen nun einen "Begleiter" hatten, der selbst nur ein verlängertes Menschenauge war, auch ohne Foto sofort zur planetarischen Gesamtsicht. In ihr war die Erde noch kein Rettung heischendes Objekt, vielmehr ließ sie gesteigerte Macht erleben. Man könnte von hier aus auf all die Navigations-, Televisions- und Kommunikations-Satelliten zu sprechen kommen, die in den folgenden Jahrzehnten immer dichtere Netze von Bezügen um die Erde spannten. Eine Epoche der "Erdpolitik" begann, lange vor der Ökonomie der "Globalisierung", schon bald nach dem Sputnik-Start. Mit dem Wort "Erdpolitik" beschreibt der deutsche Ökologe Ernst Ulrich von Weizsäcker die Aktivitäten des Präsidenten John F. Kennedy seit 1961 - seit dem Mondlandungsprojekt, der amerikanischen Antwort auf Gagarin. Sachs erläutert: Das Mondlandungs-Projekt wurde zum "Paradefall einer Politik der massiven Staatsintervention um der wissenschaftlich-technischen Mobilisierung willen, um zahlreiche Probleme, vom Wohnungsbau bis zum Welthunger, in einem Höhenflug an Machbarkeitswillen zu lösen".
Das hatte noch nichts mit Ökologie zu tun. Bei den MERCURY- und GEMINI-Flügen der Jahre 1962 bis ´66 wurde zwar schon die unvergleichliche Schärfe von Erdfotos deutlich, die außerhalb der Atmosphäre aufgenommen werden. 1964 richtete man ein Forschungsprogramm ein, das klären sollte, wie vom All aus Informationen über die Ressourcen der Erde ermittelt werden konnten. Zum Beispiel hoffte man von der Erdumlaufbahn aus den Getreideertrag voraussagen zu können und auf unterirdische Mineral- und Ölreserven aufmerksam zu werden. Diese Projekte mündeten 1972 in den erfolgreichen Start der Sonde LANDSAT 1. Es war das Jahr, in dem der erste Bericht des Club of Rome veröffentlicht wurde. Doch erst viel später kam man auf die Idee, in der Frage des Ressourcenreichtums oder -mangels eine ökologische Frage zu sehen.
Andererseits waren es nicht nur die Zuständigen für Raumfahrt, von denen die Ressourcenfrage nunmehr in einen erdpolitischen Kontext gestellt wurden. Da gab es zum Beispiel den Professor Jay F. Forrester vom Massachusetts Institute of Technology, der ein erstes "Weltmodell" erstellte, weil es einfach dem Fortschritt diente, die kybernetische Methode in einer besonders komplexen Anwendung zu illustrieren und durchzusetzen. Der erste Bericht des Club of Rome ist von einigen seiner Studenten verfasst, die ihm denn auch mit einer Widmung danken. Doch er selbst hatte nichts Ökologisches im Sinn. Oder man denke an den rührigen Architekten Richard Buckminster Fuller, der Unterstützung für sein "alle Länder und Kontinente einbeziehendes Wold Game" suchte, "in dem sie ihre Vorstellungen und Ideen auf Computern durchspielen und mit den Programmen anderer Gruppen vergleichen würden". Robert Jungk berichtet uns das. Für ihn ist auch Fuller ein Vorläufer der Ökologie.
Zweierlei Ökologie
Die Ökologie selber, wie sie nun noch einmal neu entstand, war von ihrer kybernetischen Herkunft gezeichnet. Als Wissenschaft von diesem und jenem Biotop hatte es die Disziplin schon lange gegeben. Und sogar eine ökologische Theorie des Erdganzen war bald nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert worden: G. Evelyn Hutchinsons kybernetisch orientierte Theorie des "Ökosystems". Doch sie hatte keine Anerkennung gefunden. Erst zwischen 1964 und ´74 setzte sie sich durch - im Rahmen eines Internationalen Biologischen Programms zur Zeit der ersten Generation künstlicher Erdsatelliten. 1969 wurde Hutchinsons Terminologie von der Zeitschrift Nature übernommen: "Es ist der totale Komplex von Boden, Wasser, Luft und lebenden Organismen, der ein komplettes Ökosystem formt." Die Erde wird hier als eine "komplette" Maschine begriffen, in der lebendige und tote Zahnräder ineinander greifen. In dieser Form greift James Lovelock sie auf, um sie seit 1969 zur "Gaia-Hypothese" weiterzuentwickeln. Die Luft sei "für das Leben", schreibt er, "was das Fell für eine Katze oder das Nest für einen Vogel ist".
Man könnte auch sagen: Was das Fell für eine Katze ist, nämlich Wärme und schönes Kleid, ist die anheimelnde Gaia-Hypothese für die kybernetisch-maschinale Ökosystem-Theorie. Lovelock war ursprünglich im Auftrag der Raumfahrtbehörde NASA der Frage nachgegangen, ob es auf dem Mars Leben gebe. Beim Vergleich von Mars und Erde kam er dann zu dem Schluss, es sei richtiger, nach dem Leben eines Planeten statt nur nach dem Leben auf einem Planeten zu fragen. Lovelock war nun "Ökologe". Man muss sich aber klar machen, dass der Blick auf das "komplette System" Erde ursprünglich nichts Ökologisches hat, jedenfalls wenn man darunter so etwas wie Sorge um eine bereits eingetretene Umweltkrise versteht.
Diese Sorge gab es indessen, und es mag bezeichnend sein, dass auch sie erst nach dem Sputnik-Start aufblühte. Es geschah zwischen 1960 und 1970, dass die Zahl von Artikeln über Umweltprobleme in der New York Times von 150 auf 1.700 pro Jahr anstieg. Da entstand in den USA eine Umweltbewegung von unten, und sie war von kybernetischen Visionen à la Lovelock durch Welten getrennt. Als Gründungsdokument kann das Buch The Silent Spring (Der stumme Frühling) von Rachel Carsons angesehen werden. Es erschien 1962. Hier kritisiert eine Biologin die Verseuchung der Böden, der Seen, der Nahrungskette mit DDT. Der Kritiker der Luftverseuchung durch Autoabgase, Ralph Nader, gehört in diese Bewegung. Das wichtigste Dokument ist Lewis Mumfords Buch Myth of the Machine von 1970. Mumford kritisiert den Industrialismus seit Descartes und Galilei, als dessen empörendes Endresultat ihm die bemannte Raumfahrt erscheint. Raumfahrt verhöhne die den Menschen zugewiesene Lebenswelt, schreibt er. Die Lebensqualität auch nur eines Quadratkilometers Erde nehme es mit allen Planeten des Sonnensystems auf.
Damals konnte ein Kritiker dieser Bewegung schreiben, im Grunde stecke in jedem Ökologen ein Raumfahrtskeptiker. Leute wie Mumford, auf den sich später Rudolf Bahro berief, erforschten kein "Ökosystem". Sie wollten nur ihre Natur und Kultur schützen - vor Politikern und Managern, die sie angriffen.
Blow Up
In der ersten Phase nach dem Sputnik hatte es bereits nahe gelegen, sich in dessen Perspektive hineinzudenken und folglich die Erde, die ganze Erde, als Gegenüber wahrzunehmen. Die zweite Phase war eröffnet, als das Foto dieser Gesamterde hinzukam. Es konnte seit 1968 vom Mond aus aufgenommen werden. Was nun geschah, war eigentlich zum Staunen. Ein Erschrecken setzte ein. Warum nur? Das Foto war "ergreifend" - so fasst Al Gore viele ähnliche Stellungnahmen zusammen -, "weil uns plötzlich klar wurde, wie wunderschön, kostbar und fragil unsere Erde ist", die "in der Dunkelheit des Weltalls schwebt". Dabei konnte aus dem Foto, selbst wenn man es noch so sehr vergrößerte, ganz gewiss keine Umweltkrise herausgelesen werden.
Schon die Mondfahrer waren in derselben Weise betroffen gewesen. Der Astronaut Neil Armstrong sagte, die Erde sehe "wie eine große, blaue Pupille" aus. Dazu assoziierte der Schriftsteller Norman Mailer: "Wie mit dem Auge eines gerade ermordeten Opfers starrte die Erde Armstrong ins Gesicht." Vom Mond aus gesehen, verschwinde die Erde hinter dem Daumen, stellte schaudernd ein anderer Astronaut fest.
Nun war es also nicht nur Satellitenkameras, sondern originalen Menschenaugen aufgegangen: Die Biosphäre, in der Formulierung von Sachs, bildet "nur eine dünne, verletzliche Hülle" um die Erde herum. Aber was hatte das mit Ökologie zu tun? Wir fassen zusammen: Die Erde ist "fragil", erstens weil sie in der "Dunkelheit" schwebt. Zweitens hat sie eine "Hülle", und eine solche kann entfernt werden. Wer das schrecklich findet, braucht der dazu eine Umweltkrise? Der Schrecken traf zwar mit einer solchen zusammen. Er muss aber trotzdem eine andere Herkunft haben.
Eine alte Trauer gab es, die war 1957 und ´68 noch nicht verarbeitet. Seit wir die Erde als Objektbild vor Augen haben, fällt uns wieder ein, was wir seit Kopernikus wissen: Unsere Heimat ist haltlos. Die Erde ist kein Schwerezentrum des Alls. Vielmehr ein "kleiner Steinklumpen", "der sich unaufhörlich drehend im leeren Raum um ein anderes Gestirn bewegt, einer unter sehr vielen, ein ziemlich unbedeutender". So lässt Brecht im Leben des Galilei einen Mönch sprechen. Ähnlich Nietzsche: "Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?"
Die Naturwissenschaft war so erfolgreich, schreibt Hannah Arendt, weil sie von Anfang an, das heißt mit dem Beginn der Neuzeit, "ihren Blickpunkt geändert hat und auf die erdgebundene Natur so blickt und sie so behandelt, als ob sie gar nicht mehr auf der Erde, sondern im Universum lokalisiert wäre". Mit dem "als ob" war es jetzt vorbei. Die Naturwissenschaft war wirklich im Universum lokalisiert - in den Satelliten. In ganz anderer Weise als je zuvor wurde die Erde im Ganzen zu ihrem Objekt. Ob es letztlich das war, was manche zum Erschrecken brachte - einem Erschrecken vielleicht über sich selber? Wie schon Brechts Galilei erschrak: "Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschreiten von der Menschheit weg sein."
Ökologie des 21. Jahrhunderts
Noch mehr als Lovelock verkörpert der frühe Al Gore die Zusammengehörigkeit einer bestimmten Art Ökologie mit Raumfahrtmotiven. Mit seinem Buch Wege zum Gleichgewicht war er in den Wahlkampf gezogen, aus dem Bill Clinton als US-Präsident hervorging. Als Clintons Vizepräsident hatte er dann die Weltraumbehörde NASA zu dirigieren. Das Resultat seines Wirkens schien ganz auf der Linie seines Buchs zu liegen: viele Ökosatelliten. Wenn man wollte, konnte man den Sputnik als erste, noch unbewusste Keimform dieser nützlichen Flotte ansehen. Nützlich war sie allerdings nur in der Art des "Blickpunkts im Universum", wie ihn Hannah Arendt beschrieben hat. Denn mögen Ökosatelliten noch so zahlreich sein, zur Rettung der Erde tun sie nicht viel. Sie haben den Überblick, melden den Stand der Erderwärmung, bemerken die Entstehung einer Wüste. Aber der Blick derer, zu denen die Meldung gelangt, kann genauso kalt sein wie der Satellitenblick selber. "Sollte es überall trocken werden, haben die Nomaden noch genügend Zeit, ihr Vieh zu verkaufen", heißt es in einer Satelliten-Werbung des deutschen Weltraum-Zentrums. Man ist versucht, fortzufahren: Sollte die Erde zu warm werden, haben die Menschen noch genügend Zeit, sie zu verlassen.
Schon vor der Vizepräsidentschaft war Al Gore Vorsitzender des Senatsunterausschusses für Raumfahrt gewesen. In dieser Zeit hatte er den Bericht der Astronautin Sally Ride über Möglichkeiten menschlicher Präsenz außerhalb der Erde zu bewerten. Der Bericht mit dem Titel Amerikas Zukunft und Führung im Weltraum beschreibt vier mögliche Wege: eine umfassende Kartierung der Erde mit Hilfe von Fernerkundungssatelliten; die Fortsetzung der Erkundung des Sonnensystems; die Errichtung einer Außenstation auf dem Mond; die Entsendung von Menschen auf den Mars. Während die Kartierung der Erde im selben Jahr 1987 auch von der Brundlandt-Kommission vorgeschlagen wurde, fand Ronald Reagan, der damals Präsident war, die beiden letzten Punkte des Berichts weitaus interessanter. Al Gore hingegen beklagt in seinem Buch, dass die Satellitentechnik nicht eingesetzt werde, "um das Wissen über unseren eigenen Planeten zu erweitern". Das sei aus ökologischen Gründen wichtig. Er kommt an mehreren Stellen auf den Sally Ride-Bericht zurück, erwähnt allerdings nie ihre vier möglichen Wege, so dass der Leser das Problemfeld nicht kennen lernt, in dem die Entscheidungsträger zwischen Ökosatellit und Marslandung zu wählen hatten.
Das ist deshalb so schade, weil er sich dann nicht fragen kann, ob das überhaupt eine Alternative ist - besonders wenn die Entscheidungsträger Ökologie als Ökosystemtheorie buchstabieren. Ökosatelliten helfen dabei, die Kreislauf-Zusammenhänge des "Ökosystems Erde" zu erfassen. Sollte das einmal voll gelungen sein, kann man sie ebenso gut auf dem Mars installieren, zum Beispiel in einer künstlichen Atmosphäre unter Glas. Denn ein kybernetisches System trägt sich selbst und ist somit nicht ortsgebunden. Es ist wenig bekannt, dass der Ortswechsel zum Mars die ganz ausdrückliche Perspektive derer war, die vor anderthalb Jahrzehnten die "ökologische" Siedlung biosphere-2 in der Wüste von Nevada betrieben. Man kann vielleicht auch, wie Lovelock einmal vorschlug - in einer Studie mit dem Titel Die Begrünung des Mars -, die gesamte Erdproduktion an Chlorkohlenwasserstoffen auf den Nachbarplaneten schießen, um ihm zu einer Atmosphäre zu verhelfen.
Die Möglichkeit, das Ökosystem auf den Mars zu verpflanzen, wirft die Frage auf, ob es Politiker gegeben haben könnte, die es nicht so wichtig fanden, ob die Erde nun ökologisch gerettet wurde oder nicht. Politiker, die so dachten wie der NASA-Planungschef Georg Jesco von Puttkamer - der sagte 1989: "Man muss bedenken, dass wir mit unserer eigenen Biosphäre hier auf der Erde nicht mehr zu Rande kommen, dass die natürliche Umwelt nicht für eine Rasse von Wesen geeignet zu sein scheint, die so dynamisch wächst wie der Mensch - mit der Industrie, mit den Abfällen, mit seinem Energieverbrauch." Deshalb müssten "im Weltraum künstliche Biosphären" gebaut werden, "geschlossene Kreisläufe, die für den Menschen optimiert sind". Das sei die Ökologie des 21. Jahrhunderts.
Unsere neue Grenze
Vonseiten der Sowjetunion war die Frage der Raumfahrt nicht als Sache von Spezialisten, etwa des menschlichen Energieverbrauchs, angefasst worden. Sie machte daraus eine Aktion für den Kommunismus. Schon im zweiten Sputnik flog die Hündin Laika mit. Eine weiter vergrößerte Kugel konnte vier Jahre nach dem ersten Sputnik einen Menschen, Juri Gagarin, ins All bringen. Der Kommunismus brachte Lebewesen, ja Menschen ins All - darauf musste der Westen dramatisch reagieren. Schon nachdem Sputnik 1 gestartet war, wurde die Weltraumbehörde NASA geschaffen, eine Institutionalisierung, die ökologischen Fragen niemals zuteil werden sollte. Der Flug Gagarins veranlasste das "Apollo-Projekt", die Landung von US-Amerikanern auf dem Mond.
Solche Staatsakte beweisen die ganz eigenständige Gewalt des anthropologischen Motivs. Die Idee des "Menschen im All" hatte die Massen ergriffen, war zur materiellen Gewalt geworden. Für die Mondlandung waren gewaltige Kosten gefordert. Sie wurden bereitwillig getragen. Präsident Kennedy konnte sie offen legen, weil er wusste, die Massen waren einverstanden: "Ich glaube, dass wir zum Mond fahren sollten. Diese Entscheidung verlangt von unserem Volk ein bedeutendes Opfer: den Einsatz von wissenschaftlichem und technischem Personal, von Materialien und technischen Anlagen, und die Bereitschaft, alle diese Leute aus anderen wichtigen Tätigkeitsbereichen abzuziehen, wo sie schon jetzt sehr dünn gesät und knapp sind." Große, wenn auch unklare Hoffnungen waren im Spiel, und obwohl im Jahrzehnt zwischen Gagarin und der Mondlandung bereits die pessimistische Ökologiebewegung von unten entstand, dominierte doch die "Futurologie" mit ihren gigantischen Menschheitsplänen.
Ja, worauf wurde denn eigentlich gehofft? Wenn gefragt wurde, ob die USA oder die Sowjetunion schneller am Ziel sein würde: Was war denn das Ziel? Von Gagarin wurde das Wort kolportiert, er habe dort oben keinen Gott gefunden. Ob es nun von ihm selbst stammt oder, wie man vermutet hat, von Nikita Chruschtschow, hat es jedenfalls eine kommunistische Äußerung sein sollen. Heißt es doch bei Marx, der Mensch sei das höchste Wesen für den Menschen, und in der Internationale, es rette uns kein höh´res Wesen, "nicht Gott, nicht Kaiser noch Tribun". Indessen können wir doch nicht ernsthaft glauben, es habe ein Ziel sein können, die Nichtexistenz Gottes im All - oder sollen wir sagen: "im Himmel"? - durch Raumfahrt nachzuweisen. Übrigens lasen dann die Mondfahrer der USA im All die Bibel, um darzutun, dass Gott insofern eben doch im All sei.
Wenn wir nicht annehmen wollen, dass den sowjetischen Technikern eine Art "Himmelfahrt" als Ziel vorschwebte, bleibt nur übrig, allgemeine Fortschrittsfähigkeit in Gagarins Tat zu sehen, und das Ziel hätte darin bestanden, sie dem Kommunismus mehr als dem Kapitalismus zuzuordnen. Aber kann Fortschrittsfähigkeit ein Ziel sein? Wir bekommen Zweifel, wenn wir Präsident Kennedy zuhören, der sich in berühmt gewordenen Worten über den Fortschritt geäußert hat: "Dies ist das neue Zeitalter der Erforschungen; der Weltraum ist unsere große New Frontier [Neue Grenze]." Später bezeichnete auch Präsident Reagan den Weltraum als "America´s next frontier". Und auch ein deutsches Gutachten zur Technikfolgenbeurteilung der bemannten Raumfahrt, das 1993 im Auftrag des Bundesforschungsministeriums erstellt wurde, bekennt sich zu dem "Streben, alle Grenzen zu überschreiten und in neue Welten vorzustoßen".
Die Amerikaner sprechen von einer Grenze, die Deutschen von der Überschreitung aller Grenzen. Das ist kein Gegensatz. Denn im Hintergrund der Wortwahl von Kennedy und Reagan steht die amerikanische Ausbreitung in den Westen ihres Kontinents, wo sie jede Grenze überschritten, bis sie am Pazifik angelangt waren. Dann hatten sie sich neue und immer neue Grenzen zu setzen, um auch sie wieder zu überschreiten. "Der Weltraum ist unsere neue Grenze" heißt: Da haben wir wieder ein Ziel, nämlich diese Grenze zu überschreiten - in den Weltraum einzudringen, statt von ihm ausgeschlossen zu sein.
Das kann man nicht im Ernst ein Ziel nennen. Ein Ziel wäre ein Ende. Ein Prozess, der darauf "zielt", jedes Ende zu überschreiten, ist offenkundig ziellos. Aber dennoch hat er das höchste Interesse geweckt.
Das Prinzip Hoffnung
Die Schritte ins All schienen ein Weg zu sein, auf dem man Ziellosigkeit nicht nur übermenschlich ertragen, sondern geradezu mit Spaß genießen konnte. Beim Anfang mit Sputnik und Gagarin war das noch verdeckt, weil er in den Zusammenhang eines wirklichen Menschheitsziels, des Kommunismus, gestellt worden war. Bei der amerikanischen Antwort, dem Mondlandungsprojekt, wurde es schon viel klarer. Ganz klar hätte es durch die vollzogene Mondlandung werden können. Aber da wurde eine Erfahrung gemacht. Armstrong sagte, sein "kleiner Schritt" auf den Mond sei ein "großer Schritt für die Menschheit". Und wo führte der Schritt hin? In die Mondwüste. Dort sah man die Erde hinter dem Daumen verschwinden und erschrak. Die Mondlandung wurde von 600 Millionen Menschen, einem Fünftel der damaligen Erdbevölkerung, live beobachtet. Ob es ihnen wirklich Spaß machte, muss dahingestellt bleiben.
Bald wurde das Mondprogramm eingestellt. Öffentliches Desinteresse an der Raumfahrt breitete sich aus. War es noch in den sechziger Jahren vom Spiegel als Tatsache wie selbstverständlich verhandelt worden, dass "der Massenexodus der Menschheit vom Planeten Erde schon geplant" werde - "Erste Spähtrupps sollen schon in den achtziger Jahren auf dem Mars landen" -, so erschien die bloße Erinnerung, dass es solche Ideen einmal gegeben hatte, in den folgenden Jahrzehnten nur noch als verrückt. Das öffentliche Interesse wandte sich mehr und mehr den ökologischen Problemen zu. Ob diese indessen ausreichen, den Menschen ein Zielbewusstsein zu geben, ist zweifelhaft. Nach 1990 war auch der Kommunismus als Ziel zunächst obsolet geworden. Andererseits wird auch das "Ziel" des ziellosen Aufbruchs ins All in bestimmten Kreisen, die nicht ganz einflusslos sind, weiter verfolgt. Das ist unsere Situation heute.
Leiden nun viele unter Ziellosigkeit? Man scheint es nicht sagen zu können. Aber vielleicht ist der Zielbedarf, den man mit Ernst Blochs Formel auch "das Prinzip Hoffnung" nennen kann, nur vorläufig verdeckt. Die Mondwüste und der Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus haben ihn gewiss ohnmächtig gemacht. Aus einer Ohnmacht pflegt man jedoch zu erwachen. Was geschieht dann?
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