Der letzte Mensch

Das Ereignis und die Reflexionsfähigkeit Die Zivilisation ist die Zivilisation, aber ist sie noch zu Erfahrung und Einsicht im Stande?

Drei Tage nach dem Schock ist "die Innenpolitik erwacht", indem zum Beispiel die FAZ sich über Ludger Volmer, den Staatsminister im Auswärtigen Amt, empört: Der habe "gar nicht fragend" gefragt, "woher denn Terrorgruppen wie die bin Ladens die viele Zustimmung bekommen, ohne die sie nicht operieren könnten". Volmer sei somit "das erste deutsche Regierungsmitglied, das - pfötchensamt noch - den Opfern Täteranteile zuzuschreiben beginnt". Diese kleine Notiz vom Freitag voriger Woche offenbart die vexierbildhafte Verzweiflung, in der nicht nur die FAZ sich in diesen Tagen erlebt. Denn so sehr es empörend ist, dass Volmer so tut, als ob er fragt, obwohl das Ereignis, auf das er sich bezieht, überhaupt gar keine Fragen aufgibt außer der, wer der Täter ist und wie man ihn zur Stecke bringt (wobei auch diese Frage wenigstens in den Grundzügen schon vor dem Ereignis beantwortet war) - so sehr dieses ganz unmögliche Hervorbrechen einer Frage empörend ist, kann doch die FAZ selbst nicht umhin, die Antwort auf sie zu kennen: die Globalisierung und die mit ihr verknüpfte Außen- und Sicherheitspolitik seien gemeint, das "kann jeder folgern". Woraus denn, da Volmer es nicht gesagt hat? Etwa aus der Stellungnahme des Papstes, die wenige Seiten vorher zitiert wird: Der "unmenschliche Akt" möge die Entschlossenheit wecken, "alles zu bekämpfen, was Hass und Trennung in der menschlichen Familie weckt", sowie für "eine neue Ära der internationalen Kooperation" einzutreten - für eine neue Globalisierung also, wenn ich lesen kann, die sich von der jetzigen unterscheidet -, "getragen von den Idealen der Solidarität, der Gerechtigkeit und des Friedens"?

Es gibt da ein Wissen über Zusammenhänge, das selten artikuliert wird oder nur von Wenigen und in allgemeinen Wendungen. Ein Wissen, das gleichwohl weit verbreitet ist; es hat jedenfalls auch die FAZ-Redakteure erreicht. Dieses Wissen jetzt abzurufen, ist nicht nur unmöglich, sondern auch unnötig, da es ohnehin, wenn auch schweigsam, im Bewusstsein präsent ist. Doch die Lage ist gespannt und der Versuch, das Wissen zu verdrängen, kann nicht wirklich erfolgreich sein. Immer noch in derselben FAZ-Ausgabe äußert sich Mary Kaldor, die bekannte Friedensforscherin von der London School of Economics: "Gegen die Strategie der Angst und des Hasses hilft nur der Versuch, die Herzen und Köpfe der Menschen zu gewinnen und eine global legitimierte Politik als Alternative zu Fundamentalismen und exklusiven Machtansprüchen zu etablieren." Wenn ich lesen kann, bedeutet das, die jetzt herrschende Politik ist global illegitim und ist mit einem ebenso illegitimen Machtgebaren verbunden, das womöglich etwas mit dem Pentagon zu tun haben könnte. Kaldor denkt genauso wie der Papst.

Es ist unverkennbar, dass die Selbstmord-Attentäter mit der Ungerechtigkeit der vorhandenen Weltordnung immerhin eines zu tun haben: sie benutzen sie. Sie haben ja ein Symbol dieser Ordnung, ein Haus namens "World Trade Center" angegriffen. Da ein weiterer Zusammenhang als dieser höchst äußerliche kaum bestehen dürfte, kann man sagen, sie verhalten sich zu dem, was einem bei dem Haus-Namen einfällt, so extrem beliebig wie irgendwelche längs oder quer laufenden Buchstaben zu dem Sinn, den man gezwungen ist, als alphabetisch erzogener Leser in ihnen zu erkennen ("Arbitrarität des Zeichens"). Diesen Vorgang, dass beliebige Zeichengeber Zeichen setzen und man nicht umhin kann, zu verstehen, nennt man: die Sprache.

Wie reagieren?

Aus amerikanischen Regierungskreisen verlautet, es sei jetzt wichtig, das Eisen zu schmieden, so lange es heiß sei. Die Terrorgefahr sei von den Verbündeten immer unterschätzt worden. Und schon bald würden wieder die Beschwichtiger die Oberhand gewinnen. Deshalb müsse das weltweite Bündnis des entschlossenen Kampfes gegen den Terrorismus jetzt, in der Stunde der Betroffenheit, geschmiedet werden. Das ist sicher eine richtige Einschätzung, aus der auch militärische Optionen folgen. Es folgen aber auch andere Optionen daraus. Man muss - wenn der Kampf so geführt werden soll, wie Ludger Volmer, Mary Kaldor oder der Papst es sich wünschen - eben jetzt an jene "tief verwurzelten Probleme" erinnern, durch deren Nichtlösung, ja durch deren endloses Verfaulen die menschliche Familie auseinandergetrieben wird. Da es niemanden gibt, der die Probleme nicht kennt oder ahnt, genügt tatsächlich eine Erinnerung, und wir beginnen mit zwei Sätzen des US-Amerikaners Jeremy Rifkin: "Die Amerikaner geben mehr für Kosmetik aus und die Europäer mehr für Eiskrem, als es kosten würde, den zwei Milliarden Menschen auf der Erde Grundschulbildung, sauberes Wasser und sanitäre Anlagen zu garantieren, die gegenwärtig ohne Schulen oder Toiletten leben müssen." Und: "In der gesamten Literatur, die sich mit dem Thema der Überbevölkerung auseinandersetzt, wird kaum auf die Verschiebung eingegangen, die sich im Zwanzigsten Jahrhundert weltweit in der Landwirtschaft vollzogen hat - nämlich die veränderte Nutzung des Getreides als Futter statt als Nahrungsmittel", Folge einer neuen Kultur des massenhaften Fleischkonsums im reichen Norden; hierin zeige sich "eine neue Seite des Bösen, das in dieser Form vielleicht schwerwiegendere und langfristigere Folgen haben wird als alle Gewalt, die in der Vergangenheit von Menschen gegen Menschen ausgeübt worden ist".

Zu den Nahrungsmitteln, die weiterhin auch in Teilen des Süden konsumiert werden können, noch ein aktueller Hinweis des französischen Globalisierungsgegners José Bové. Globalisierung, stellt er fest, bedeutet, dass alle Staaten ihre Zollgrenzen niederreißen und die mächtigsten Warenanbieter ohne Gegenwehr hereinlassen müssen. Das "zerstört ihre Lebensmittelkulturen": "Es gibt in Asien hundertvierzigtausend Reissorten. Welche Sorte angebaut wird, hängt von der Bodenfeuchtigkeit, der Höhe der Anbaugebiete, dem gewünschten Geschmack und der gewünschten Form ab. Wir haben es also mit einer hoch entwickelten Reiskultur zu tun. Die multinationalen Konzerne arbeiten bei ihren gentechnischen Versuchen aber nur mit fünf oder sechs Varietäten, die sich ausschließlich für intensive Landwirtschaft eignen und die Nahrungspflanzenkulturen in vielen Teilen Asiens verdrängen. In manchen asiatischen Ländern nehmen diese Varietäten bereits sechzig bis siebzig Prozent der Reisanbaufläche ein. Dies führt zu einer regelrechten Vernichtung der Bauernkultur, wenn wir darunter die Fähigkeit zur Ernährung und Reproduktion eines sozio-kulturellen Systems verstehen. Ich denke, dass dieser Vernichtungswille ein wesentliches Motiv bei der gentechnischen Veränderung unserer Kulturpflanzen ist."

Verzweifelte Gedanken

An all dem ist anscheinend nichts zu ändern. Dass die Angestellten des Biotech-Konzerns Monsanto einen "Vernichtungswillen" haben, bezweifle ich. Sie tun doch nur ihre Arbeit. Die Welt ist, wie sie ist. Der Papst macht sich Illusionen, wenn er noch auf etwas hofft. Wir haben doch schon vor zehn Jahren gehört, dass wir am "Ende der Geschichte" angelangt sind. An dem Punkt wohl, den Nietzsche in einem Albtraum erahnte: "›Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?‹ - so fragt der letzte Mensch und blinzelt." Das sind wir selbst. Wir können mit solchen Fragen nur noch kokettieren. Sehnsucht ist out. Stern ist vielleicht der Mars als Zielort von Raumschiffen. Schöpfen heißt Klonen: dasselbe noch einmal, da wir nicht mehr neugierig sind. Liebe ist, wenn das World Trade Center nicht zerstört wird. Sie war doch fix und fertig vorhanden. Jetzt muss die Liebe repariert werden, und zwar mit aller Härte. Der letzte Mensch - so sieht es jedenfalls auch die FAZ, denn jetzt, schreibt sie, haben wir "eine Ahnung davon bekommen, was die Vision vom Endkampf zwischen Gut und Böse vor dem Tag des Jüngsten Gerichts, was der biblische Ortsname ›Armaggedon‹ bedeuten könnte". Die "Guten", Gütigen sind wir selbst, wenn ich lesen kann, böse die anderen, auch das ist also geklärt. Die Barmherzigen, die Samariter, Eis essend und kosmetikbewusst. Was bleibt da noch zu tun? Wir können nur auf den Untergang warten. Deshalb kreist unser Denken um eine einzige Frage, die sogar für uns Wissende noch offen ist, so offen, dass niemand sie je wird schließen können: die Frage der Sicherheitsvorkehrungen.

In den letzten Jahrzehnten wurde die Mauer um unsere Erkenntnisfähigkeit immer fester und höher, so dass wir uns jetzt nur noch selbst wiedererkennen können. Das zeigt auch die Entwicklung der gesellschaftstheoretischen Debatten. Schon die Auskunft vieler Soziologen, unsere Gesellschaft entwickle sich durch "Ausdifferenzierung", hatte etwas Beängstigendes, da sie uns nur mehr auf die Perspektive der Binnenteilung verwies, der ungeschlechtlichen Zeugung sozusagen, der Vervielfältigung des Immergleichen. Man konnte sich noch mit der spannenden Verselbstständigung der Teile gegeneinander trösten. Ein Gegenüber sollte die Gesellschaft aber nicht mehr haben. Sie konnte sich zwar noch entwickeln, aber nur zu sich selbst, nicht in ein Außen hinein. Werde, was du bist, bis du es eben geworden bist. Und dann warte. Und hör auf, Fragen zu stellen. Du könntest ja nur fragen, worauf du wartest. Was glaubst du wohl, was dir geantwortet werden würde. Die raffinierteste und einflussreichste unter den Theorien der "Ausdifferenzierung" hatte Niklas Luhmann formuliert. Der aber gab ihr eine zunehmend erschreckende Tendenz. In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts kam er zu dem Schluss, dass eine Bewältigung der ökologischen Krise zwar wünschenswert, aber äußerst unwahrscheinlich sei, da die Gesellschaft eigentlich unfähig sei, zu lernen.

Luhmann zum Beispiel

Am Ende der neunziger Jahre - kurz vor seinem Tod - radikalisierte er seinen Ansatz bis zur Revision der Evolutionstheorie. Die Annahme Darwins, Lebewesen könnten sich durch Anpassung und Selektion verändern, sei falsch. Vielmehr sei jedes Lebewesen durch seine Prämissen definiert und damit auch determiniert. Was uns als Veränderung erscheine, sei nur der Weg der Ausschöpfung des Möglichkeitsraums, der durch die Prämissen gesetzt sei. Und mit der Gesellschaft verhalte es sich genauso. In diesem Gedankengang lag ein nur allzu interessanter Fehler. Denn während Luhmann glaubte, etwas Neues zu sagen, hatte er nur die eschatologische Perspektive der Theologen wiederentdeckt. Natürlich sind alle Phänomene, auch alle Lebewesen und Gesellschaftsformationen, und ist sicher auch "die" Gesellschaft endlich. Aber welches ihre Grenzen sind, kann man doch erst wissen, wenn diese überschritten werden und man dadurch auf sie zurückblicken kann. Erst dann weiß man - weil es erst dann entschieden ist - was die Prämissen waren. Und das bedeutet doch, ein Lebewesen kann sich durch Anpassung und Selektion sehr wohl verändern.

Wenn das sogar für Lebewesen gilt, gilt es umso mehr für Gesellschaften. Gesellschaften sind keine Lebewesen: sie entwickeln sich nicht bloß durch Anpassung und Selektion, sondern steuern sich teilweise durch eine Geschichte des Sinns. Weil die Ökonomie der menschlichen Gesellschaft auch Sinngeschichte und nicht nur Anpassung ist, gibt es nicht nur eine einzige Produktionsweise in ihr, sondern die Abfolge mehrerer. Daraus dürfen wir die tröstliche Schlussfolgerung ziehen, dass wenn "die" Gesellschaft am Ende zu sein scheint, vielleicht in Wahrheit nur eine Gesellschaft scheitert und die nächste vor der Tür steht. Der Trost hält sich allerdings in Grenzen. Die Umwandlung der römischen Sklavenhaltergesellschaft in den mittelalterlichen Feudalismus hat sich über ein halbes Jahrtausend hingequält. Da versteht man es schon und da ist es im Grunde realistisch, wenn das Ende einer bestimmten Gesellschaft als das Ende "der Zivilisation" erlebt wird.

Jedenfalls scheint Luhmann es so erlebt zu haben. Nur so ist seine an sich unsinnige, weil angemaßte, für Sterbliche uneinnehmbare eschatologische Beobachter-Perspektive nachvollziehbar. Er wusste nicht, was er tat, aber er konnte die Prämissen der Gesellschaft faktisch nur formulieren, weil er sie aus einer erlebten Endzeit folgerte. Eben daraus erklärt sich auch der schauderhafte Homogenismus seines Gesellschaftsbildes. Homogenismus: Vor der Nacht des Nichtseins, die sich mit jedem Ende ankündigt, scheinen alle Katzen nur noch grau zu sein. Das ist der Grund, weshalb "vor Gott alle Menschen gleich sind" und weshalb seit anderthalb Wochen fast alle Menschen dasselbe sagen, schreiben, sich anhören über die Ereignisse in Amerika, die für die FAZ einen eschatologischen Beigeschmack haben. Aber Luhmanns Homogenismus geht viel weiter, denn er braucht gar keinen Terroranschlag, um zu sehen, dass "die" Gesellschaft einen Sprung in der Platte hat und sich darin erschöpft, das Gleiche und immer das Gleiche zu sein: Sinn, schreibt er 1997, habe zwei Seiten, von denen jede die "Copie" der anderen sei, "und folglich erscheint Sinn als weltweit überall dasselbe".

Wie könnte dann ein Ereignis, sei es auch katastrophal, noch etwas zum Fragen, gar zum Entdecken aufgeben? Der Homogenismus hat die Katastrophen ja schon vorweggenommen - kennen wir doch nicht nur die Bilder vom Dienstag, sondern auch die Verfolgung jenes Dr. No, auf die sich jetzt alle Zweitschlagskapazität unserer Zivilisation zu verengen droht, längst aus Filmen. Bedeutet das alles nicht, dass wir am Ende sind? Oder sollte gelten, was einer vor bald 150 Jahren schrieb: Eine Gesellschaft, die "dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist", kann die "Geburtswehen" des Neuen, das unvermeidlich ist - einen Prozess, der im Vorfeld des Feudalismus katastrophisch verlief und ein halbes Jahrtausend forderte -, "abkürzen und mildern"? Leider sieht es so aus, als gehörten dazu intelligentere, auch mutigere Politiker, als wir sie haben.

Zitate aus: FAZ vom 13. und 14.9.2001; Jeremy Rifkin, Access. Das Verschwinden des Eigentums, Frankfurt New York 2000; ders., Das Imperium der Rinder, Frankfurt New York 1994; José Bové / François Dufour, Die Welt ist keine Ware. Bauern gegen Agromultis, Zürich 2001; Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra; Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997; Karl Marx, Das Kapital.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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