Selbst in der DDR sahen zuletzt nicht mehr alle in Nietzsche nur den Denker der Herren und des Irrationalismus, als den Georg Lukács ihn gezeichnet hatte. Die Germanisten jedenfalls konnten ihn aus der Geschichte der deutschen Literatur nicht wegdenken. Gab es nicht sogar bei Brecht Spuren? Unter westlichen Marxisten war die Frage, ob Nietzsche ein nützliches oder unnützes Erbe hinterlassen hat, noch weniger entschieden. In den sechziger Jahren setzte Alfred Schmidt seinem Aufsatz über Nietzsches "Dialektik" ein Novalis-Wort als Motto voran: "Wahrhafte Darstellung des Irrtums ist indirekte Darstellung der Wahrheit". Noch aus Nietzsches Irrtümern, hieß das, gewinnen wir viel. Ernst Bloch verteidigte schon 1913 sogar den Irrationalismus, den Lukács später bloß präfaschistisch fand. Mit Nietzsches Kampf gegen eine Wissenschaft "ohne Subjekt und ohne Traum" konnte er sich solidarisieren: "Ein neuer Ton ging da endlich an. Er kam den Herren von heutzutage erst später zupass, und dem Plüsch zu seiner Zeit war er nicht lieb."
Von diesem souveränen Gestus ist Jan Rehmanns "Dekonstruktion" des "postmodernen Links-Nietzscheanismus" weit entfernt. "Rehmanns Kritik richtet sich nicht gegen das Anliegen, sich vom Scharfsinn der nietzscheanischen Intuitionen anregen zu lassen", heißt es zwar beruhigend im Klappentext. Aber die Fortsetzung des Satzes dementiert den Beginn: "sondern gegen den Konformismus, ihn als symbolisches Kapital einzusetzen, ohne seine hierarchische Obsession aufzudecken". Das will sagen, Nietzsche habe auf der Seite der Herren gestanden, aber Gilles Deleuze wie Michel Foucault hätten die Kritik daran versäumt. Immer von Neuem hält Rehmann ihnen das vor. Obwohl Nietzsche ein Rechter gewesen sei, werde er als Linker präsentiert. Es sei aber nicht erlaubt, sich mit einem wenn auch großen, so doch eben "hierarchisch-obsessiven" Namen zu schmücken. Deleuze und Foucault als "Konformisten" - das gibt den Ton eines Buches an, das versucht, die beiden und ihren "postmodernen Spaß" und "gefährlichen Unfug" buchstäblich zu vernichten. Fortwährend verwickeln sie sich in Widersprüche, haben Nietzsche nicht einmal richtig verstanden, ja setzen sich über die Regeln der Philologie hinweg...
Der FAZ-Redakteur Dietmar Dath ist von Rehmanns "Bestattung" des "überholten Denkzaubers der öden Siebziger" begeistert: "eine ausgezeichnete Fleißarbeit, die den Finger in alle Wunden legt, die sich die deutsche Gesellschaftskritik zur Strafe für ihre APO-Aufmüpfigkeiten selbst geschlagen hat". Von diesem Lob wird Rehmann entsetzt sein, sieht er sich doch selber als aufmüpfig. Dass er Deleuze und Foucault am Marxismus zu messen versucht, erwähnt Dath mit keinem Sterbenswörtchen. Eine komische Konstellation. Aber auch eine belanglose. Denn schwerlich werden Dath oder Rehmann gegen Foucaults Ansehen, das immer noch wächst, viel ausrichten. Die Rezeption seiner letzten Arbeiten über "Gouvernementalität" beginnt ja gerade erst. Warum nur, fragt man sich, hätte Foucault Nietzsches Herren-Obsession "aufdecken" sollen? Wer wüsste nicht ohnehin von dieser? Über Nietzsches Lob der Bestien, die blond und blauäugig sind, ist die Republik seit Jahrzehnten im Bilde, dazu brauchte ihn niemand auch nur zu lesen.
Rehmanns befremdender Vorstoß hat immerhin ein Verdienst: Er setzt sich mit der Philosophie Foucaults auseinander. Foucault war tatsächlich vor allem Philosoph, auch wenn er heute eher als Soziologe, der vom Mainstream abweicht, gefeiert wird. Allerdings erfahren wir wenig über diese Philosophie, die konsequent nihilistisch, wenn nicht sogar existenzialistisch war. Letztere Auffassung trägt Thomas Seibert vor, der Foucault nicht bloß wie Rehmann auf Nietzsche, sondern Nietzsche seinerseits auf Kierkegaard, Stirner und Feuerbach zurückführt. Rehmanns Problem ist, dass er Louis Althussers Vorschlag, Philosophie als theoretischen Klassenkampf aufzufassen, "trotz seiner klassenreduktionistischen Engführung weiterführend" findet. Da kann er über einen Philosophen, der sich auf die Seite des Klassengegners zu stellen scheint, nur unphilosophisch entsetzt sein.
Doch verwickelt er sich nicht in Widersprüche? An Althussers Schriften hebt er auch lobend hervor, dort werde Gesellschaft als Zusammensein mehrerer Instanzen behandelt, von denen jede einer Eigenlogik folge. Von daher kritisiert er Foucaults "Reduktionismus", in den Wissenschaften einer Epoche nur jeweils eine Diskursformation, in ihren Herrschaftsformen nur jeweils eine Machttechnik aufzudecken. Nun wäre man, selbst wenn der Vorwurf überzeugen könnte - er träfe auch Marx, der nur eine einzige Ökonomie, die kapitalistische, beleuchtet hat -, auf Rehmanns Beantwortung der Frage gespannt, ob nicht auch der Philosophie eine Eigenlogik zukomme und worin sie bestehe. Wir erfahren es nicht.
Vielleicht soll das häufig eingestreute Postulat der "Handlungsfähigkeit" als Positionsangabe gelten. Mit ihm kann Rehmann Nietzsche und Deleuze vorwerfen, sie hätten Spinoza "missverstanden": Dessen kooperativer, also linker, mit "Handlungsfähigkeit" übersetzbarer Begriff der potentia agendi werde von Nietzsche für rechte Herren-Macht ausgebeutet, was Deleuze nicht kritisiere. In der Tat hat Deleuze etwas anderes hervorgehoben, nämlich dass Nietzsche von Herren träumt, die es gar nicht gibt. Der Ort des Herrn ist leer - davon lesen wir bei Rehmann nichts. Und dafür schon gar, dass Spinoza wie Nietzsche über eine neuzeitlich neuartige potentia nachdachten, eine Potenz des Unendlichen nämlich, eine unendliche Potenz, fehlt ihm wenn nicht die Einsicht, dann jedenfalls das Interesse. Unendlichkeit um ihrer selbst willen könnte ja auch Gegenstand von Kritik sein, zum Beispiel mangelnde Grenzen des Wachstums oder ein Wasserhahn, der nicht zugedreht werden darf. Rehmann sieht nicht, dass selbst eine vom Herrenstandpunkt geschriebene Philosophie in der Sache weiterführend sein kann.
Warum Foucault sich auf Nietzsche stützt, zeichnet er nach: Es geht um dessen "genealogische" Methode, in der Nietzsche, wie Foucault zeigt, die heutige Moral nicht aus einem "Ursprung" erklärt, sondern bloß in ihrer "Herkunft" verfolgt. Will sagen, sie lasse sich nicht auf Göttlich-Transzendentes zurückführen, nicht auf einen "Wunder-Ursprung". Das schreibt Nietzsche und Rehmann zitiert es. Und es ist wahr: Mit Nietzsche will Foucault den stets nur "oberflächlichen" Verlauf der von ihm rekonstruierten Diskurse hervorheben. Die Banalität des Guten sozusagen. Aber nun reitet Rehmann der Teufel. Nietzsche habe doch nur selten Herkunft und Ursprung vokabulär entgegengesetzt, wendet er gegen Foucault ein, als ob der das nicht selbst betont hätte; und auch begrifflich handle es sich vielmehr um den Gegensatz von Wunder-Ursprung und gewöhnlichem Ursprung, den etwas ja wohl mit Verlaub besitzen dürfe... Warum habe Foucault das alles durcheinandergeworfen, wenn nicht um davon abzulenken, dass Nietzsche den Ursprung der Moral in die Hand der Herren, jener blonden, blauäugigen Bestien gelegt und sich über so ein genealogisches Ergebnis auch noch gefreut habe? Die Ablenkung sei aber nötig gewesen, denn sonst wäre Foucault kein glaubwürdiger Anschluss an den 68er Linksradikalismus gelungen...
Dahin führt der "Klassenkampf in der Philosophie". Ich meine, wir sollten ihn der nagenden Kritik der Mäuse überlassen. Trotz Rehmann können Marxisten von Foucault viel gewinnen, und zwar gerade von seiner Aufdeckung der Diskursformationen, die keineswegs so "reduktionistisch" ist, wie Rehmann glauben machen will. Vielmehr hilft sie einsehen, dass Arbeiter, Sklaven, Linke einerseits und Herren andererseits sich durchaus, um Marx zu zitieren, einen "gemeinsamen Untergang" bereiten können, so dass es in solchen Fällen gar nichts nützt, die Herren und das Herrsein zu kritisieren. Wichtig wäre es dann eher, das Boot zu studieren, in dem sie alle sitzen: den gemeinsamen Diskurs, die Logik des Untergangs.
Jan Rehmann: Postmoderner Links-Nietzscheanismus. Deleuze und Foucault. Eine Dekonstruktion. Argument, Hamburg 2004, 227 S., 16,50 EUR
Thomas Seibert: Geschichtlichkeit, Nihilismus, Autonomie. Philosophie(n) der Existenz. M Verlag, Stuttgart 1996, 452 S.
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