Die CDU wird gläubig

Parteitag in Hannover Frau Merkel erweist sich als knochenharte Neoliberale

Angela Merkel hat offenbar einen neuen Ghostwriter, der sich nicht nur auf brillante Formulierungen versteht, sondern auch ein kluger Kopf ist. Zu klug vielleicht, denn die Geschliffenheit der Sätze in Frau Merkels Parteitagsrede legt mehr offen, als ihr lieb sein kann. Was man bisher allenfalls mutmaßte, wird mit diesem Text zur Gewissheit: Diese Frau ist eine knochenharte Neoliberale. Mehr Bewegung auf dem Arbeitsmarkt will sie durch folgende Schritte erreichen: "Umfassende Befreiung des Arbeitsmarktes, Deregulierung der Zeitarbeit, Teilzeit, Befristung von Arbeitsverträgen, Optionsmodell beim Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer, betriebliche Bündnisse für Arbeit" und kein Wort zum Flächentarifvertrag, "Einführung eines wirklich umfassenden Niedriglohnsektors, Lohnabstandsgebot durch Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe, verbindliche Eingliederungsprämien, Beweislastumkehr" - das soll "in Deutschland ein positives psychologisches Signal auslösen".

Frau Merkel ist bisher vor allem als Ideologin aufgefallen; man hatte oft den Eindruck, sie denke zu blumig, um den Punkt treffen zu können, ja sie missverstehe den Parteivorsitz als Ort philosophischer Verallgemeinerungen statt als Chance, in konkreten politischen Interventionen eine Linie vorzugeben. Doch jetzt sieht man, die Blumigkeit musste sein, sie gab der neoliberalen Linie ein weiches Etui. In der Rede von Montag ist alles zur Kenntlichkeit entzerrt: hier die Linie, da die Ideologie. Frau Merkel weiß, dass es in Deutschland keinen guten Eindruck macht, ein Deregulierungsgebet pur ökonomistisch aufzusagen. Damit grenzt sie sich von der FDP ab, aber auch von Gerhard Schröder, dem sie genüsslich vorhält, er habe "wieder Karl Marx zitiert" und gesagt, das Sein bestimme das Bewusstsein. Nicht doch: "Immer muss ein Glaube sein oder, mit den Worten unserer Zeit, eine Idee" - was denn nun, ein Glaube oder eine Idee? Sie hat die Idee, den Glauben zu instrumentalisieren, da die Partei nun mal das "C" im Namen führt: Eine "Rückkehr des Religiösen" finde statt und "dazu können wir sagen: Das ist unser Feld, das ist Christdemokratie pur und es wäre dumm, wenn wir dieses Feld nicht besetzen würden, liebe Freunde."

Der Kern der Merkelschen Ideologie ist jedoch nicht das Religiöse, sondern der Appell an "den Menschen". Dass er dereguliert wird, soll er als Freiheits- und Selbstverwirklichungs-Chance begreifen. Zu klug, den hinterhältigen Charakter des Appells nicht zu durchschauen, ist ihr Ghostwriter kein geschickter Ermutiger. Denn was bedeutet Deregulierung für den Aufbau Ost? Es reicht nicht, hören wir, "mit salbungsvoller Stimme etwas Gutes" über Ostdeutschland zu sagen, vielmehr gehe es um "mehr Leistungsanreize, weniger Bürokratie und mehr Freiräume für den Menschen"; dann fügt er allzu offen hinzu, dass "die Sache nicht einfach wird". Warum denn nicht?

Nun, der Kurs muss Menschen gegenüber verfolgt werden, die einen dann auch noch wählen sollen - und läuft auf "Leistungsanreize" wahrscheinlich nicht im Sinne höherer Löhne und Gehälter hinaus, darüber sagt Frau Merkel nämlich nichts, sondern eher im Sinne der "Einführung eines wirklich umfassenden Niedriglohnsektors".

Unter dem "Religiösen" versteht sie die Wahrung familiärer Bindungen. Aber auch an diesem Thema faszinieren sie vermutlich eher die parteitaktischen Gesichtspunkte. Die neue Strategiedebatte, die sie gleich nach der verlorenen Bundestagswahl angestoßen hat, legt sie während dieses Parteitags zwar auf Eis. Erst einmal sollen die Februar-Wahlen in Hessen und Niedersachsen zum Gericht über die Bundesregierung werden, die nach dem 22. September wortbrüchig geworden sei. Es wäre dumm, vorher die Stammwähler zu verschrecken. Doch was sie mittelfristig beabsichtigt, hat sie ja schon vor Wochen gesagt. Sie will die Partei näher an das Lebensgefühl in den Großstädten heranführen. Gerade deshalb sind die Familien ein parteitaktischer Brennpunkt. Was die Union früher unter familiärer Bindung verstand, Standesamt, kirchliche Trauung von Mann und Frau, soll gerade gelockert werden, damit Koalitionen mit den Grünen möglich werden. Frau Merkel kann daraus, wie es in rot-grünen Koalitionen zugeht, den berechtigten Schluss ziehen, dass man mit den Grünen so ziemlich alles anstellen kann, wenn man nur ihren postmaterialistischen Lebensstil-Gepflogenheiten entgegenkommt.

Es war geschickt und kein Zeichen von Schwäche, dass sie die Strategiedebatte diesmal hintanstellte. Hätte sie auf der Tagesordnung gestanden, wäre Frau Merkels Option erheblich verwässert worden, denn viele Granden, die sich schon besorgt geäußert haben, wären aufgestanden und hätten zur Pflege des "Tafelsilbers" aufgerufen. Jetzt aber bleibt der Eindruck, dass der Parteitag die Parteivorsitzende in dieser Sache nicht behindern wollte. Die Junge Union, die im Vorfeld den sofortigen Beginn der Debatte gefordert hatte, verstand das und zügelte sich. Auf sie kann Frau Merkel zählen. Auch aus den Parteiwahlen geht die Vorsitzende gestärkt hervor. Zwar erzielte sie mit 746 Stimmen 77 Prozent der anwesenden Delegierten, ein Ergebnis nur im Mittelfeld. Weithin unbekannte Politiker wie Arnold Vaatz und Godelieve Quisthoudt-Rowohl lagen noch vor ihr. Aber der Kreis der Stellvertretenden Vorsitzenden entspricht ihren Wünschen: neben Anette Schavan Christian Wulff, der neoliberale Herausforderer in der bevorstehenden Niedersachsen-Wahl, Jürgen Rüttgers aus NRW, der sie vehement unterstützt, und Christian Böhr, der junge rheinland-pfälzische Landesvorsitzende, eigentlich ein Kritiker ihrer Linie, der nun aber freudig überrascht ist, von ihr zu dieser Kandidatur aufgefordert worden zu sein.

An ihren Konkurrenten Friedrich Merz ist keine solche Aufforderung ergangen. Er sitzt nur im Präsidium und wurde von viel mehr Delegierten gewählt: 876 Stimmen, 94 Prozent. Und auch Roland Koch, der andere Konkurrent, erzielte immerhin 806 Stimmen, 86 Prozent. Auf die Frage, ob er sich als Kanzlerkandidat sehe, hat er am Sonntag geantwortet: "Ich habe den Hessen nie angedroht, mein ganzes Leben lang Ministerpräsident sein zu wollen." Das braucht Frau Merkel nicht zu schrecken. Denn wer weiß, ob das Damoklesschwert der Kochschen Drohung nicht schon im Februar von den Hessen genommen wird.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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