Die Dame setzt sich nicht

Alltag Man ist behindert. Oder wird man behindert? Ein Tag in Cornelias Leben

Der Nachmittag wird wie der Vormittag sein. Manche Fahrgäste sind gesprächig, andere weniger. Warum fragt nicht mal eine, ob ich Lust zu einer Kaffeepause habe. Jeder Tag wiederholt den vorigen. Aufstehen, fahren, fahren, fernsehen. Ich könnte mal nachts fahren, ist vielleicht interessanter. Jetzt lenkt Harald sein Taxi Richtung S-Bahnhof Jungfernheide. 11 Uhr 50, in zehn Minuten die Verabredung. Eine ehrenamtlich beschäftigte Soziologin. Auf dem Bild sieht sie gut aus. Er ist da, parkt in der Seitenstraße, geht langsam hinauf. Der Bahnsteig ist fast menschenleer. Tatsächlich, da sitzt sie auf der Bank. Harald beschleunigt seine Schritte. Ein bisschen forsch wirken. Sie soll nicht merken, wie schüchtern ich bin. Als ich ein junger Mann war, hatte ich sogar vor Verkäuferinnen Angst.

"Cornelia?" Klar, sie ist´s. Lächelt selbstbewusst zurückhaltend. Sich neben sie setzen, als wenn´s eine alltägliche Übung wäre. Sie ist auf dem Weg zur Arbeit, sagt sie, hat vormittags zuhause an einem Referat geschrieben. Über außerordentliche Frauen. Rosa Luxemburg, Marilyn Monroe. Frida Kahlo, wer ist denn das? Über die Monroe könnte ich sogar mitreden. "Sind Sie auch eine außerordentliche Frau?" Sie lacht. Dass man gleich so locker mit ihr reden kann. Es ist Januar, Cornelia sagt, sie sei schon durchgefroren. Als beide aufstehen, hängt sie sich in Haralds Arm. Zutraulich. "Ich gehe langsam", sagt sie. Auf der Treppe wird´s noch langsamer. "Mir fällt das Gehen noch ein bisschen schwer." Unten macht sie sich los. Harald sieht ihren seltsamen Gang. Schaukelnd. Wenn sie einen Fuß vorsetzt, ruckt die ganze Körperhälfte mit nach vorn, rechts, links, rechts, auch der Arm, immer als ob er gleich zum Diskuswurf ausholt. In der Nähe des Ausgangs hat sie das Gehgerät angeschlossen, den Rollator mit zwei Rädern und Lenkstange, vorn auf der Tragfläche ein Korb.

Im Café erzählt sie den Unfall. Sie ist querschnittgelähmt und saß im Rollstuhl. Jetzt kann sie laufen, es wird vielleicht noch besser werden. Nein, Schmerzen hat sie nicht. Harald guckt verwirrt. "Die Monroe hinkt in einem Film", sagt er nach einer Weile. "Meinen Sie Manche mögen´s heiß?", fragt Cornelia. "Ich glaube, ihr Freund hinkt, weil er einen Schuh verloren hat. Aber es stimmt, sie ist auch eine Behinderte." Auch eine Behinderte. Die Monroe. Eine Behinderte? Harald, der Cornelia gegenüber sitzt, schaut dicht neben ihren Augen vorbei. Wenn sie da so sitzt und gestikuliert, ist es eine gewöhnliche Unterhaltung. Auch als sie sich einhakte, habe ich zuerst nichts gemerkt. "Die Monroe ist doch nicht behindert gewesen." "Doch! Sie hatte entsetzliches Lampenfieber."

Wohl schüchtern wie ich, die vielen Leute immer. Oder Angst vor dem Misserfolg. "Aber sie hat´s doch gepackt." "Nur mit Tabletten und Krisen. In der Klinik war sie auch." "Das nennt man Behindertsein?" "Weil es nicht normal ist." Und ich: schüchterner, als die Polizei erlaubt. "Klar hat sie´s gepackt", sagt Cornelia.


Cornelias Tag hatte unerfreulich begonnen. Bei Manfred, der über die Straße wohnt, morgens um Sieben aufgewacht, strebt sie gleich unter die Dusche. Jetzt versucht er wieder, sie im Bett zurückzuhalten. Dabei hat sie ihm vor Tagen schon gesagt, es ist Schluss. Aber so war es ja immer gewesen, dass er morgens noch eine halbe Stunde gestreichelt werden wollte. Weil er einer von diesen Depressiven ist. Da kann sie ihm nun auch nicht helfen. Am Anfang der Beziehung hatte sie noch gedacht, so von behindert zu behindert, das muss gut werden. Er kann ja alles, ein Klotz am Bein ist er nicht. Dass er nebenan wohnt, ist praktisch. Der, mit dem sie vorher zusammen war, ein Nichtbehinderter, hatte ihr nach recht kurzer Zeit eröffnet, ihm sei das zu mühsam, für den Besuch der Geliebten quer durch die ganze Stadt zu fahren. Deshalb habe er jetzt eine in der Nebenstraße. Aber Manfred machte dann doch Stress. Dreimal wöchentlich wollte er sie sehen, das war zu viel, und immer dieses klebrige Verhalten beim Aufstehen, wenn sie schon ihre Referate im Kopf hatte. Cornelia machte Liebe lieber abends nach einem guten Gespräch.

An diesem Morgen sagt sie ihm, dass sie nicht mehr kommen wird. Sie steigt mit dem Rollator abwärts, das ist umständlich und dauert lange, obwohl es nur ein Stockwerk ist. Sonst hat er das Gerät runtergebracht, heute verhindert sie es. So steht er nun oben am Treppenabsatz und hat viel Zeit, sie zu beschimpfen. Endlich außer Hörweite, beschließt sie, den Rollator zu der Verabredung um Zwölf nicht mitzunehmen. Dann sitzt sie am Computer, das Buch Außerordentliche Frauen im Portrait neben sich. "Manche der beschriebenen Frauen wurden aufgrund ihrer Behinderung bekannt, andere wiederum versteckten ihre Behinderung und werden in diesem Buch erstmals aus einer ganz anderen, ungewohnten Sichtweise beschrieben", heißt es im Vorwort der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Es wird halb Elf, Cornelia steht auf. Man sieht nie alle Hindernisse voraus, die gemeistert sein wollen. Auf jeden Fall muss sie schon auf der Bank sitzen, wenn Harald kommt. Sie geht zur nahen Bushaltestelle. Jetzt werden die Leute wieder denken, da schwankt eine Besoffene vorbei. Sollen sie.

Auf dem Behindertenplatz im vollbesetzten Bus sitzt eine alte Dame, Cornelia bittet sie höflich, aufzustehen. Die Dame guckt indigniert. Sie sieht nichts, weil ich unbeweglich vor ihr stehe! Aber der Herr gegenüber hat mich einsteigen sehen. Während er Platz macht, schickt die Dame, die immer noch nicht kapiert, böse Blicke hinüber. Das reicht jetzt, Cornelia flattert. Was habe ich neulich bei Luhmann gelesen: "Ein Herr bietet in einer überfüllten Straßenbahn einer Dame seinen Platz an. Zum Sinn dieses Handelns gehört dann auch, durch das Platznehmen der Dame belohnt und bestätigt zu werden. Man kontrolliere dies gedanklich an einem abweichenden Ablauf: Die Dame setzt sich nicht, sondern legt ihre Handtasche auf den Platz!" Das wäre jetzt Klasse gewesen. Cornelia fühlt Wut, ein gutes Zeichen. Am nächsten Halt steigt sie aus, bewegt sich zurück, holt den Rollator. Es ist noch genug Zeit.

Nach dem Gespräch bringt Harald sie mit seinem Taxi zur Arbeit und trägt ihr dort auch den Rollator rauf. Sie hat ein Zimmer im Bezirksamt, Behinderten-Beratung. Am Abend will er sie zuhause besuchen. Zuletzt hatten sie noch über Howard Hughes gesprochen. Der "Aviator" war nun wirklich ein Behinderter, seine Freunde mussten ihn verstecken, wenn wieder der Sprung in der Platte kam und er irgend so einen Satz endlos wiederholte: "Das ist die Zukunft. Das ist die Zukunft. Das ist..." Und doch war er erfolgreich. Das geerbte Geld allein machte ihn nicht zu dem, was er war. Harald hat den Film gesehen und bestreitet es nicht. Ob Harald heiratstauglich ist? Aber der wird nicht viel verdienen. Vor der Altersarmut würde der mich nicht bewahren. Die Arbeitsvermittlung muss ich gleich anrufen. Das Telefon schrillt. Eine Frau braucht eine Kur gegen ihren Hautausschlag, will sie sich bezahlen lassen. Ja, wie macht man das. Sie ist behindert, konnte sich jahrelang den Rücken nicht waschen. Jetzt gibt sie´s endlich zu.

Als ob mich irgendwer einstellen würde. Wenn man sich mit einem Personalchef auch so auf einer Bank verabreden könnte, das wäre gut, dann könnte er nach dem ersten Eindruck urteilen. Könnte. Jetzt mit den Ein-Euro-Jobs läuft sowieso nichts mehr. Bisher hätten Unternehmen ja noch an mir verdient, weil der Staat bei Behinderten zuzahlt. Aber mit Ein-Euro-Jobs sparen sie was ein, das ist besser für sie. Nur dass sie dann meinen Weg zur Arbeit bezahlen müssten. 600 Euro monatlich für den Behinderten-Telebus. Da stellen sie natürlich lieber Nichtbehinderte ein. Das ist die Zukunft, das ist die Zukunft... "Können Sie mich zu Herrn Berthold durchstellen? - Nein, Herr Berthold, ich habe noch keine Arbeit." Aber was ich hier mache, ist auch Arbeit. Bisher wurde sie sogar ein bisschen bezahlt. "Übernimmt die Arbeitsvermittlung nun die Telebuskosten oder nicht?" Die Stimme des Fallmanagers, bedauernd: "Ich persönlich würde ja gern, aber andere sagen, das Land Berlin muss ran. Oder Sie müssen was Anderes arbeiten."

"Ja, aber warum denn?" Cornelia ist noch ziemlich ruhig. "Ist meine Arbeit etwa nicht sinnvoll?" "Nach meiner Auffassung schon, aber Sie wissen ja, der von uns beauftragte Träger -" "Ja, die Firma, die uns weitervermitteln soll. Warum hat die nicht meine Arbeit in einen Ein-Euro-Job umgewandelt? Bisher habe ich mehr dafür bekommen, aber dann wäre wenigstens klar, wer den Telebus zahlt." "Ein-Euro-Jobs in Bezirksämtern gibt´s nicht. Das ist so geregelt." "Aber was ich da mache, heißt ›gemeinnützige zusätzliche Arbeit‹. Ich dachte, genau das sollen Ein-Euro-Jobs leisten." "Wird Ihnen denn keine Alternative angeboten?" "Ja, einen Job für Nichtbehinderte könnte ich bekommen! Da mache ich lieber meine jetzige Arbeit ehrenamtlich weiter und zahle für den Telebus, den ich bisher umsonst hatte!" Als Herr Berthold einwirft, seines Wissens müsse sie nur eine monatliche Pauschale von 20 Euro zuzahlen, gibt Cornelia auf. Frage ich wegen 20 Euro, wer die Telebuskosten übernimmt? Er "vergisst" jetzt, dass von April an neue Regeln gelten: Zehn Euro Zuzahlung pro Fahrt von der 17. Fahrt an, also monatlich bis zu 300 Euro in meinem Fall - das ist die Zukunft...

Um 17 Uhr will sie gehen. Warum kommt der gebuchte Telebus nicht? Sie ruft beim Telebus-Betreiber an. Die Fahrt sei gestrichen, weil niemand sie bezahle, sagt man ihr. Sie habe ja keinen Job mehr. Cornelia erregt sich. "Mein Job ist kein Ein-Euro-Job, aber es ist ein Job! Ich habe Ihnen doch geschrieben, daß ich jetzt ehrenamtlich tätig bin!" "So ein Brief hätte vom Bezirksamt kommen müssen." "Was kann ich dafür, wenn die das bisher versäumt haben?" "Sie wissen ja, der Amtsschimmel. Aber uns sind die Hände gebunden." Cornelia zittert vor Wut. Das Konto für Taxifreifahrten hat sie schon überzogen, also bleibt nur die U-Bahn. Den Rollator zum Bahnhof hinunterführen heißt ihn und die eigenen Füße auf dieselbe Rolltreppenstufe stellen. Nach zwei Dritteln des Wegs beugt Cornelia das Gefährt leicht vornüber. Der Korb fällt heraus, sein Inhalt ergießt sich, droht den Rolltreppen-Ausgang zu verstopfen. Cornelia schreit aus Wut oder Angst. Jemand springt herbei und sammelt auf. In der U-Bahn vor sich hin heulend, rekonstruiert sie das Geschehen. Harald hat das Gefährt ins Taxi gehoben, den Korb dabei herausgenommen. Später beim Aussteigen hätte ich ihn in die Halterung hängen müssen. Harald wird ihn nur auf die Tragfläche gestellt haben. Beim Umsteigen in den Bus hat sich Cornelia einigermaßen gefasst. Ein kleiner Bengel, der sie anmacht - "Du alte Schmalzstulle!" -, wird heftig angeschrieen.

Bevor Harald kommt, ist noch Zeit für das Referat. Ein netter Mann, nicht so ein blöder Draufgänger. Aber ob er wirklich kommt? Vielleicht fehlte ihm nur der Mut zum Neinsagen. Wär´ nicht das erste Mal. Außergewöhnliche Frauen. Cornelia holt das Buch, liest das Kapitel über Evelyn Glennie: "eine gehörlose Frau als weltweit erfolgreiche Solo-Schlagzeugerin". Nicht schlecht. Bringt die Verhältnisse zum Tanzen. Beethoven war zuletzt auch taub. Erst als er taub war, konnte er die Neunte komponieren: Oh Freunde, nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere! Hat den was behindert? Ja, wobei denn. Beim Komponieren jedenfalls nicht. Am Taxisteuer vielleicht, wenn es schon Taxis gegeben hätte. Interessante Vorstellung: Beethoven als Kutscher, der gehörlos wird und die Lust am Komponieren entdeckt. Oder am Referateschreiben. Cornelias Tage sind nicht leer.

Das Buch von Hedwig Kaster-Bieker/Anneliese Mayer, berühmt - beliebt - behindert. Außerordentliche Frauen im Porträt, Kassel 2001, ist eine Publikation der bundesorganisationsstelle behinderte frauen. Einen Text über die Altersarmut behinderter Frauen findet man unter www.armutszeugnisse.de.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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