Die Kräfte des Machtblocks

Übergabe an Hitler Waren nur Industrie- und Finanzkapital verantwortlich? Das ist auch aus marxistischer Sicht fragwürdig

Im Freitag vom 25. Januar 2008 wurden zwei Dokumente zur Machtübergabe an Hitler vorgestellt: Zum einen die "Industriellen-Eingabe" an Reichspräsident Hindenburg vom 19. November 1932 und des weiteren eine eidesstattliche Erklärung des Bankiers Schröder über ein Treffen am 4. Januar 1933. Mit der Industriellen-Eingabe befasste sich in der gleichen Nummer auch der Historiker Kurt Pätzold. Michael Jäger nimmt seine Ausführungen zum Anlass, noch einmal über die "Hauptschuldfrage" bei der Machtübergabe an die Nationalsozialisten nachzudenken.

Als "Schlüsseldokument" wertet Kurt Pätzold in einem Essay das als "Industriellen-Eingabe" in die historische Forschung eingegangene Schreiben: Es zeige, dass es "eines sanften Drucks bedurft" habe, um Hindenburg zur Ernennung Hitlers zu bewegen. Diesen Druck hätten "Großindustrielle, Großbankiers, Großgrundbesitzer und Führer von deren Interessenverbänden" ausgeübt. Pätzold muss sich dann freilich mit dem Umstand auseinandersetzen, dass "die bürgerliche Historiographie", um "Ausflüchte und Legenden" nicht verlegen, den Schlüsselcharakter des Dokuments gar nicht einräume, sondern ihm "mindere Bedeutung zuzuweisen" versuche. Die "DDR-Historiographie" habe hier weiterhelfen müssen.

Unterzeichner aus der Randzone

Nun gilt es in der Tat die Erinnerung daran wach zu halten, dass die NS-Herrschaft nicht etwa "vom Volk" errichtet wurde, sondern im Interesse "der wirtschaftlichen Eliten im kapitalistischen Deutschland" (Pätzold) ausgeübt wurde. Andererseits fällt es schwer, vor der wirklich nur "minderen Bedeutung" dieses Dokuments die Augen zu verschließen.

Die Eingabe ist schon deshalb nicht besonders wichtig, weil es sich um eine Aktion der NSDAP selber handelte, die zeigt, dass deren Ausstrahlung auf Großindustrielle im Jahr 1932 noch ziemlich gering war. Sie ging auf die Idee Wilhelm Kepplers, eines Nazis und Gelatine-Fabrikanten, zurück und wurde im Einvernehmen mit Heinrich Himmler umgesetzt. Keppler hatte auf drei Dutzend Unterzeichner gehofft, bekam aber nur 20 zusammen, von denen acht dem "Keppler-Kreis" angehörten, einer bereits auf Hitler eingeschworenen Gruppe von Wirtschaftsberatern unter Führung der Bankiers Schröder und Schacht. Unter den restlichen zwölf Namen finden wir nur einen prominenten Industriellen: Fritz Thyssen, der sich damals schon längst als Nazi-Sympathisant geoutet hatte. Außerdem ist Eberhard Graf von Kalckreuth hervorhebenswert, der Präsident des Reichslandbundes, einer tatsächlich von den Nazis unterwanderten Großgrundbesitzer-Lobby.

Alle übrigen Unterzeichner waren Mittelständler. Die Behauptung, auch Reusch, Vögler und Springorum, die wirklich führende Industrielle waren, hätten die Eingabe unterstützt, wenngleich nicht unterschrieben, ist falsch. Sie ist nicht anders belegt als durch einen Brief Friedrich Reinharts, der dem Keppler-Kreis angehörte, an Hindenburgs Sekretär. Reinhardt war derjenige, der die Eingabe übergab. Er berief sich, um Hindenburg zu beeindrucken, auf die Großmagnaten, hatte also ein parteiliches Interesse, so dass man seine Behauptung nicht ohne Prüfung für bare Münze nehmen kann. Was wir von den angeblichen Unterstützern aus den Forschungen von Henry Ashby Turner (Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers, 1985) wissen, lässt sich damit nicht vereinbaren.

Gehen wir auch auf das zweite abgedruckte Dokument ein. Der Bankier Schröder erklärt nach dem Krieg, er habe Anfang 1933 herausgefunden, wie sich "die Wirtschaft" zu Hitler stellte: "Die allgemeinen Bestrebungen der Männer der Wirtschaft gingen dahin, einen starken Führer in Deutschland an die Macht kommen zu sehen ... ." Aber Schröder hatte nur im Keppler-Kreis sondiert. "Er hatte nicht mit führenden Industriellen gesprochen, weder mit einzelnen noch mit ihrer wichtigsten Organisation, dem Reichsverband der deutschen Industrie", hält Ian Kershaw 1998 in seiner Hitler-Monographie den Forschungsstand fest. "Er kannte deren führende Männer nicht, und diese wussten nichts von seinem Bestreben, Papen und Hitler zusammenzubringen."

Genügt es, solchen Befunden mit dem Hinweis zu begegnen, sie seien "bürgerliche" Historiographie? Kershaw bestreitet übrigens gar nicht, dass auch die Großunternehmer "beträchtlich zur Aushöhlung der Demokratie beigetragen" hatten, "was als Vorspiel für Hitlers Erfolg notwendig war". Aber wenn dennoch nicht sie, sondern, laut Kershaw, die Agrarier und die Armee das Entscheidende taten, ist das keine Nebensache, sondern wirft ein echtes Problem der Erklärung auf: Die Armeeführung wurde später von Hitler entmachtet, die Großagrarier verloren die Herrschaft über Preußen-Deutschland - das war es ja unter anderem, was die Nazi-Politik im großindustriellen Interesse betrieb -, und doch ging die Machtübergabe an Hitler viel eher von ihnen als von der Großindustrie aus.

Hintergrundtheorien

Empirie hängt von dem ab, wonach gesucht wird. Gesucht wird, was eine Hintergrundtheorie für wahrscheinlich zu halten lehrt. Welche Theorie hat man im Hinterkopf, wenn man vor allem nach Aktivitäten der Großindustrie sucht, um die Machtübergabe an Hitler zu erklären, oder ihnen, wie Pätzold es tut, einen ebenso großen Anteil zuschreibt wie etwa den Großagrariern? Es mag die Theorie sein, die von der Komintern seit 1935 vertreten wurde: Der Faschismus sei die Diktatur einer einzigen Kapitalfraktion - Dimitroff sprach von den "reaktionärsten, chauvinistischsten, imperialistischsten Elementen des Finanzkapitals". Wenn das stimmt, muss dann nicht vom Finanzkapital oder auch von der Großindustrie die Errichtung eben dieser Diktatur gefordert und im Staat irgendwie durchgesetzt worden sein?

Gegen einen solchen theoretischen Hintergrund steht aber nicht nur die "bürgerliche Historiographie"; man kann vom marxistischen Standpunkt aus widersprechen. Es geht hier auch um die Frage, weshalb 18 Jahre nach dem Fall der Mauer noch immer kein Austausch zwischen den Historiker-Fraktionen stattfindet: denjenigen, die sich auf die DDR-Historiographie beziehen, und solchen, die mit der Faschismusanalyse des griechisch-französischen Staatstheoretikers Nicos Poulantzas arbeiten (Faschismus und Diktatur, 1973). An Poulantzas kommt man nicht vorbei, denn er ist der letzte große Vertreter des "westlichen Marxismus". Er hält die Analyse der Komintern für einseitig. Auch im Faschismus, sagt er, bestehe die herrschende Klasse nicht nur aus einer einzigen Kapitalfraktion. Es stimmt zwar, dass die Großindustrie unter den Nazis zur mächtigsten und "hegemonialen" Fraktion wurde, doch musste sie sich ein Zusammenwirken, einen Rest von Solidarität mit den anderen Kapitalfraktionen, besonders der mittleren Bourgeoisie, und vorerst auch mit den Großagrariern weiter gefallen lassen.

Diese Einschränkung ist aus zwei Gründen bedeutsam. Erstens würde eine herrschende Klasse, wenn sie begänne, übereinander herzufallen, nicht mehr herrschende Klasse sein. Zweitens wächst in einer Krise eben diese Gefahr, und zwar schon allein aus ökonomischen Gründen: Für die mittlere Bourgeoisie ist die Krise existenzbedrohend, während ihr Bankrott die größten Kapitale noch größer macht. Um beide Fraktionen dennoch zusammenzuhalten, damit "der Machtblock" bestehen bleibt - diesen Namen gibt Poulantzas der Einheit der Klassenherrschaft -, muss eine politische Kraft auftreten, die sich ein solches Ziel zu eigen macht und es notfalls auch gegen Teile der herrschenden Klasse durchsetzt.

Hitler oder Militärdiktatur?

Diese Kraft waren in Deutschland die Nazis. Dabei zeigte sich zu Beginn ihres Regimes noch nicht, dass die Einheit des Machtblocks nur wiederhergestellt werden konnte, wenn sich das Kräfteverhältnis in ihm verändern würde. Das war die Stunde der Parteiorganisation: Parteigenossen, Kleinbürger regierten im Staat. Hier wird denn auch die Verantwortung der kleinbürgerlichen Massen sichtbar, ohne die die NSDAP gar keine bedeutende Kraft geworden wäre. Das Wahlverhalten der Kleinbürger lässt sich aber nicht in erster Linie auf großindustrielle Finanzspenden an die Hitler-Partei zurückführen, denn solche Spenden flossen anderen Gruppierungen noch reichlicher zu. In der zweiten Phase der Naziherrschaft verlor die Parteiorganisation ihren Einfluss. Nun erst, als die Regierungsgewalt ganz auf die Verwaltung überging, konnte die Dominanz der Großindustrie im Machtblock durchgesetzt werden; sie musste allerdings der mittleren Bourgeoisie einen Existenzspielraum lassen. Noch mehr ging die Regierungsgewalt übrigens auf die politische Polizei über, die dann die Judenvernichtung in Gang setzte.

Wenn sich das so rekonstruieren lässt, muss man erstens erwarten, dass Bestrebungen, die sich auf Hitlers Einsetzung richteten, aus allen Fraktionen des zerfallenden Machtblocks statt nur aus einer einzigen gekommen sind; zweitens, dass sich solche Bestrebungen nicht nur auf ihn gerichtet haben, sondern auf alle Kräfte, denen der Erhalt des Machtblocks zugetraut wurde. Und so findet es sich auch in den Quellen. Zum einen waren es durchaus nicht vor allem Großindustrielle, sondern Mittelständler und Großagrarier, die sich von Hitler etwas versprachen. Zum andern, sofern Großindustrielle auf Hitler setzten, geschah es meistens deshalb, weil sie an das Versprechen der Hugenberg, Papen und so weiter glaubten, sie könnten Hitler "einbinden". In diesem Bündnis Hitlers mit anderen Kräften, die ebenfalls auf den Erhalt des Machtblocks zielten, lagen aber zwei ganz verschiedene Strategien im Kampf: Figuren wie Papen zielten nicht auf das Regime der NSDAP, sondern auf eine Militärdiktatur, und sie waren es, die von der Großindustrie vor allem unterstützt wurden.

Vorzuwerfen wäre der Großindustrie also, dass sie die Militärdiktatur wollte und dafür einen Hitler in Kauf nahm. Eingesetzt hat sie ihn aber nicht. Das tat gar nicht zufällig Hindenburg, der herausragende Repräsentant zweier Kräfte, die miteinander verquickt waren, der Armee und der Großagrarier. Es gibt also viele, die für Hitlers Einsetzung verantwortlich waren. Muss man nicht sogar sagen, dass auch die damalige KPD einen Teil der Schuld trug? Sie hat auf den Zerfall des Machtblocks nicht mit dem Versuch reagiert, ihn zu vertiefen und zu spalten, um gegen die Nazis ein breiteres Bündnis zu schmieden. Auf diese Idee kam die Komintern erst, als es schon zu spät war. KPD und Komintern haben im Gegenteil das Ihre getan, um die Fraktionen der herrschenden Klasse zusammenzuschweißen und ihnen auch noch die SPD zuzutreiben, die als "sozialfaschistisch" denunziert wurde. Eben die Angst, die der zeitgenössische Kommunismus allen unterschiedslos einjagte, konnte von der Nazipartei gleichsam in den Zement eingerührt werden, der den Machtblock wieder festigte und neu erstarken ließ.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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