Klimakatastrophe und Arbeitslosigkeit, das ist ein weites Feld. Oft herrscht die Meinung, in Problemfelder mit solchem Komplexitätsgrad könne gar nicht mehr steuernd eingegriffen werden. Aber manchmal werden einfache Muster deutlich. Nach den Ereignissen der vergangenen Woche haben wir in der Frage, wie die deutsche Wirtschaft ihrer so genannten Selbstverpflichtung gerecht wird, einen Leitfaden. Denn darin, dass sie Selbstverpflichtung anmahnt, erschöpft sich zunehmend die Eingriffskompetenz der politischen Klasse. Zur Erinnerung: In diesem Land wird jeder von anderen verpflichtet. Zum Beispiel verpflichten sich Gatten wechselseitig bei der Eheschließung und bei der Scheidung. Kindern bringt man bei, dass Pflichten die Kehrseite von Rechten sind. Wie lange noch? Lernen Schulkinder Pflichtbewusstsein, wenn sie in der Tagesschau sehen, wie die Wirtschaft ihre Hausaufgaben macht?
Auch die Wirtschaft wurde auf Gesetze verpflichtet, aber das war früher. Heute wird sie dereguliert, das heißt von möglichst vielen Gesetzen befreit. An die Stelle der Verpflichtung durch Gesetze ist die Selbstverpflichtung getreten. Deshalb können wir an den Wirtschaftsmanagern studieren, wie sich Menschen verhalten, denen niemand mehr etwas zumutet, außer dass sie selbst es vielleicht tun. Vorige Woche wurde die "Agenda 2010" bilanziert. Es ging wieder einmal um Folgen von Selbstverpflichtung. Gewiss, der Kanzler wollte suggerieren, die Agenda habe ein Jahr nach ihrer Verkündung schon einen Wirtschaftsaufschwung bewirkt. Da sie aber erst vor einem Vierteljahr beschlossen wurde, kann er sich selbst nicht geglaubt haben. Es war eine Phrase. In einem Punkt hätte er sehr konkret werden können: in der Frage der Privatisierung der Arbeitsvermittlung. Angeblich rührt die Arbeitslosigkeit ja daher, dass der Arbeiter seinen prästabilierten Arbeitsplatz nicht findet, wenn er die Adresse nur im Arbeitsamt statt beim privaten Vermittler erfragt. Diese Problemsicht ist der Kitt der "Agenda 2010". Aber viele Vermittler fühlen sich kaum in die Pflicht genommen.
So werden manchmal Arbeitslose zu extrem ungünstigen Terminen bestellt, die erwarten lassen, dass die Bestellten sie nicht wahrnehmen. Die Vermittler sparen dadurch Kosten und streichen doch die staatliche Prämie ein. Solche jüngst von der Süddeutschen Zeitung aufgedeckten Praktiken müssen System und eine gewisse Verbreitung haben, denn sonst verstünde man nicht das Gebaren des Arbeitsamtes, das nun plötzlich anfängt, den Vermittlern penible Normen nach dem Vorbild des Franchising aufzuerlegen. Wer die vorgeschriebenen Räume nicht hat, verliert die Lizenz. Ob man gewissenlosen Vermittlern auf diese Weise beikommt, ist fraglich, aber es gibt jetzt unter den pflichtbewussten welche, die aufgeben müssen. Was ist nun durch die "Reform" des Arbeitsamtes gewonnen?
Lügen haben kurze Beine, auch beim Klimaschutz. Klimaschutz und "Agenda 2010" hängen so zusammen, dass es in beiden Fällen um die Zumutbarkeit der Wahrheit geht. Auf ihr ruht alle Rhetorik des Kanzlers. Es sei die bittere Wahrheit, dass alle sich an die Bedingungen der Globalisierung, also der gegenwärtigen Entwicklungsetappe des Weltmarktes anpassen müssten. Die "Anpassung" besteht in Steuergeschenken für Unternehmer und der Absenkung der Arbeitslosenhilfe. So weit, so schlecht. Aber der Weltmarkt setzt nicht nur Bedingungen, er unterliegt auch welchen. Und da entpuppt sich das Wahrheitspathos des Kanzlers als Lüge.
Wahr ist, dass die Erde zerstört wird, wenn sich alle Anbieter nur einfach so verhalten, wie es ihrem "Gewinninteresse" dient. Es ist stattdessen notwendig, dass sich ihre Aktivitäten in den Grenzen des ökologischen Korridors bewegen, der durch die Gesamtmenge der Naturschäden und -entnahmen definiert ist, die von der Erde selbst regeneriert werden können. Wie Fachleute errechnet haben, bedeutet das für den Schadstoffausstoß, dass einer Weltbevölkerung, die sich im 21. Jahrhundert bei etwa neun Milliarden stabilisieren wird, eine Emission von etwa 600 Kilogramm Kohlenstoff pro Jahr und Person erlaubt ist. Auf dieses Erfordernis reagiert das Kyoto-Protokoll. Es reicht nicht hin, könnte aber als Beginn eines mühseligen Verhandlungswegs interpretiert werden. Nun wird es von den meisten Industriemächten nicht ratifiziert. Die EU will den Maßgaben des Protokolls dennoch folgen. Sie führt deshalb ab 2005 den Emissionshandel ein. Dieser dient dazu, die Wirtschaft in den ökologischen Korridor zu führen, falls sie dort nicht schon ohnehin sein sollte. Das ist sie keineswegs. In der vorigen Woche wurde gemeldet, der Kohlenstoff-Gehalt in der Erdatmosphäre habe einen neuen Höchststand erreicht.
So sieht die bittere Wahrheit aus, aus der Umweltminister Trittin anfänglich die Vergabe EU-konformer Emissionsrechte ableiten wollte, die eine Verpflichtung der deutschen Wirtschaft zu jährlichen Emissionssenkungen bedeutet hätten. Die Senkungen wären nicht über das hinausgegangen, wozu sich die deutsche Wirtschaft schon freiwillig verpflichtet hatte. Doch nun, wo es ernst wurde, wollte sie nicht mehr. Trittin war bereit, vor ihr und Wirtschaftsminister Clement zurückzuweichen. Er einigte sich mit Clements Staatssekretär: Die derzeit 505 Millionen Tonnen Kohlenstoff-Ausstoß sollten nicht auf EU-konforme 488, sondern nur auf 499 Millionen jährlich heruntergefahren werden. Doch Clement stimmte seinem eigenen Staatssekretär nicht zu. Nun dürfen es 503 Millionen sein. Das kann man vergessen. Keramik-, Glas- und Stahlindustrie sind sogar gänzlich von jeder Reduktionspflicht befreit. Clement hat sich durchgesetzt, weil ihm in letzter Minute der Kanzler beisprang. Dem geht es um bittere Wahrheiten nur, wenn die Armen sie bezahlen müssen.
Von Selbstverpflichtung redet die rot-grüne Regierung nur, um etwas zu bemänteln: Sie lässt der organisierten Verantwortungslosigkeit freien Lauf.
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