Walentina Tereschkowa, eine sowjetische Arbeiterin, Tochter eines im Zweiten Weltkrieg gefallenen Traktoristen, war die erste Frau im Kosmos. Ihre dreitägige Erdumkreisung jährte sich gerade zum 50. Mal. Bevor sie zur Kosmonautin ausgebildet wurde, hatte sie in einer Fabrik für Autoreifen und dann als Zuschneiderin und Büglerin in einem Spinnerei-Kombinat gearbeitet. Daneben allerdings war sie mit 18 Jahren Fallschirmspringerin geworden. Das war 1955. Sie hatte dann eine Abendschule für Technik besucht und 1960 das Technikerdiplom erhalten. Kein Wunder, dass sich so eine junge Frau für Juri Gagarin begeistert, den ersten Menschen im All, und ihm in die Schwerelosigkeit folgen will. Ein Wunder ist es aber schon, dass ihr Wunsch in Erfüllung geht, auch wenn manche das heute herunterspielen als „Propaganda-Aktion Nikita Chruschtschows“, des damals mächtigsten Mannes der Sowjetunion.
"Eva 2000"
Sicher war es „Propaganda“ in dem Sinn, dass etwas demonstriert werden sollte. Als Flug einer Frau war das Projekt Wostok 6 von vornherein geplant, auch weil die Wirkung der Schwerelosigkeit aufs Geschlecht untersucht werden sollte. Und dann sorgte Chruschtschow selbst dafür, dass von den fünf Bewerberinnen die einzige Nichtakademikerin – eben die Arbeiterin Tereschkowa – ausgewählt wurde, die doch erst 1962 in die Kosmonauten-Schule aufgenommen worden war. Aber wurde da nicht etwas demonstriert, das stimmte? In den USA sollten noch 20 Jahre vergehen, bevor mit Sally Ride die erste Frau einen Platz in einer Raumkapsel erhielt. Dies hing damit zusammen, dass in der NASA eine eher frauenferne Atmosphäre herrschte. Die italienische Journalistin Oriana Fallaci, die sich eine Zeit lang dort aufhielt und ein Buch darüber schrieb – Wenn die Sonne stirbt, erschienen 1966 –, hat das beobachtet. Als wären Frauen überflüssig, stellten die US-Ingenieure ihre Arbeit als ein Gebären hin: Saturn 5, die Mondrakete der USA, hieß „our baby“, wie schon die deutsche V 2 den Namen „das Kind“ getragen hatte. Für sich genommen ist das kaum der Rede wert, doch es steht in einem Kontext, den die Berliner Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun untersucht hat, eine Verwandte des V 2- und Saturn 5-Konstrukteurs Wernher von Braun. „Die Symbole und Maschinen des Industriezeitalters“, schreibt sie, „tragen Frauennamen, aber sie sind männlich, wie die Maschinen des Jules Verne, die etwa ‚Victoire‘ heißen und mit deren Hilfe der moderne Mann der Frau entkommen kann.“ Tatsächlich erhält noch in den neunziger Jahren ein US-Raumfahrtanzug den Namen „Eva 2000“. Jener moderne Mann – doch nicht erst er, denn die Entwicklung beginnt bereits in der Renaissance – glaubt dann auch das Gebären usurpieren zu müssen. Und so übernimmt die Maschine als „Utopie eines Körpers, der abstrakter Logos ist“ (statt Fleisch und Blut zu sein), auch die Babyrolle mit. Der Zusammenhang von Raumfahrt und Frauenfeindschaft, vermittelt über das Bild der „Mutter“ Erde, war um 1900 herum zum Teil ganz deutlich ausgesprochen worden, am krassesten vom italienischen Futuristen Filippo Marinetti, und er wirkte weiter.
Auch der russische Raumfahrtpionier Konstantin Ziolkowski, der in der Sowjetunion zu hohen Ehren kam, hatte sich in diesem Kontext bewegt. Er stellte sich Raum-Kolonien vor, in denen eine männliche Elite wohnen würde, „wenn möglich zölibatäre Wesen, Engel in einer menschlichen Haut“. Der Mensch ist auf Erden geboren, doch man kann nicht ewig in der Wiege bleiben, wird er zitiert. Hannah Arendt sah darin den Wunsch ausgesprochen, „dem Gefängnis der Erde zu entrinnen“, und glaubte ihn noch zur Zeit des Sputnik-Starts in den USA wahrzunehmen. Kann man das vergessen, wenn man bei Oriana Fallaci liest, was ihr um 1965 herum ein US-Astronaut erklärte? Er wolle ins All, um die „hässliche“ Erde wieder schön finden zu können – aus der Entfernung.
Brot und Zwiebeln
Es ist nicht auszuschließen, dass solche Haltungen auch unter sowjetischen Raumfahrtingenieuren Bestand hatten. Warum sonst dauerte es 19 Jahre, bis die zweite Frau, Swetlana Sawizkaja, ein sowjetisches Raumschiff besteigen durfte? Warum gibt es bis heute eine Diskussion darüber, was die Tereschkowa während ihrer Mission alles falsch gemacht hat? Als wären männliche Kosmo- und Astronauten immer perfekt gewesen? Mehrfach soll sie weggedämmert sein, habe sich übergeben und sei unfähig gewesen, die Experimente auszuführen, lauten Gerüchte. Über den drückenden Helm habe sie sich beklagt. Sie selbst räumte nur ein, sich wegen des unangemessenen Essens – Brot und Zwiebeln – einmal übergeben zu haben. Doch von der Weltraumkrankheit war auch German Titow, nach Gagarin der zweite Mensch im All, befallen. Dass Tereschkowa das Landemanöver nicht einleiten konnte, lag an einem Fehler im Steuersystem. So musste sie sich in sieben Kilometern Höhe aus der Kapsel katapultieren und mit dem Fallschirm landen. Das war sie ja gewohnt.
Fünf Monate später heiratet sie, noch einmal sieben Monate später kommt ein gesundes Kind zur Welt. Nun erst studiert sie an der Schukowski-Ingenieurakademie der sowjetischen Luftstreitkräfte. Der Raumflug hat ihrem Geschlecht nicht geschadet. Und ihr Geschlecht auch nicht dem Raumfliegen. Ihr Wunsch, noch weitere Raumkapseln zu besteigen, geht nicht in Erfüllung. „Mir kommen keine Weiber mehr ins All!“, soll Sergej Koroljow, Chefkonstrukteur der sowjetischen Raumfahrzeuge, nach ihrem Flug ausgerufen haben. Den aber konnte ihr niemand nehmen. Da hatte es eben Chruschtschow gegeben, der politisch an die Sache heranging und Wostok 6 mit einer Arbeiterin hatte besetzen wollen.
Dabei war die Tereschkowa kein Engel in einer menschlichen Haut. Sie war aber auch nicht die Büglerin auf dem Gemälde von Edgar Degas (1869), dies Wesen mit Schlafzimmerblick, das nur attraktiv ist und darauf wartet, irgendwer möge sie von der Arbeit erlösen. Nein, sie war „die Möwe“. So ihr Funkrufname, der ihr bis heute anhaftet. Wer denkt da nicht an Anton Tschechows gleichnamiges Stück? Da gibt es einen Stückeschreiber, der in seiner Jugend Ideen hat, die dem Flug der freien Möwe gleichen. Doch er verrät sie und verfällt der Langeweile. Aus Langeweile erschießt er eine Möwe und bringt sie seiner Freundin als Geschenk. Dazu wird eine Fabel erfunden: „Es lebt ein Mädchen an einem See. Es liebt den See wie eine Möwe, und wie eine Möwe ist es frei und glücklich. Da kommt eines Tages ein Mann daher, sieht das Mädchen und richtet es zugrunde, bloß so, aus Langeweile – wie Ihr Freund hier diese Möwe.“ Die erschossene Möwe wird ausgestopft und im Gesellschaftsraum aufgestellt.
Am liebsten zum Mars
Im Gesellschaftsraum aufgestellt, das kann man auch von Tereschkowa sagen. In der DDR wurden Straßen nach ihr benannt, viele tragen ihren Namen bis heute. Der Kleinplanet Nr. 1671 heißt ihr zu Ehren Tschaika – die Möwe. Auch ein Krater auf dem Mond wurde nach ihr benannt. Ins All darf sie nicht zurückkehren, doch engagiert sie sich – 1974 ins Präsidium des Obersten Sowjets gewählt – in der Friedenspolitik. 1975 nimmt sie als sowjetisches Delegationsmitglied an der UN-Weltfrauenkonferenz in Mexiko City teil. Sie sitzt inzwischen für Putins Partei Einiges Russland in der Duma. Das war und ist eine „Möwe“, die selbst Ideen hatte und sie niemals verriet. Jetzt, 76 Jahre alt, würde sie am liebsten noch zum Mars fliegen.
Walentina Tereschkowa liebt die Erde. „Ich glaube“, beschreibt sie ihren Blick aus dem All, „dass sich viele von uns Kosmonauten, wenn nicht sogar alle, absolut darüber im Klaren sind, wie groß das ist, was uns auf der Erde verbindet, und wie nichtig das ist, was uns trennt.“ „Unser Planet!“, soll sie während der Erdumkreisung ausgerufen haben, mit Betonung auf „unser“. Wie anders klingt das, wenn wir bei dem US-Roman-Autor Norman Mailer lesen, die Erde habe dem amerikanischen Mondfahrer Neil Armstrong „wie mit dem Auge eines gerade ermordeten Opfers ins Gesicht gestarrt“.
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