Die schlanke Gewerkschaft

IG Bau Klaus Wiesehügel beschreibt Kampfmethoden für den Fall, dass der Flächentarifvertrag fällt

Der Vorsitzende der IG Bauen-Agrar-Umwelt ist ein strategisch origineller Kopf. Die Überlegungen des Referats, das Klaus Wiesehügel am 5. 10. vor dem Gewerkschaftstag hielt, sind nicht nur für seine eigene Gewerkschaft bedeutsam. Sie helfen allen, über denen das Damoklesschwert einer möglichen Abschaffung des Flächentarifvertrags hängt. Denn das ist es, worüber er sich Gedanken machte, obwohl zum Zeitpunkt seiner Rede schon klar war, dass Angela Merkel ihre antigewerkschaftlichen Pläne nicht würde durchziehen können. Inzwischen wissen wir, die SPD besetzt alle Ministerien, von denen eine staatliche Bedrohung der Arbeitnehmerrechte ausgeht. Sie muss sich nun als gesellschaftlicher Gesamtbetriebsrat gegen die Kanzlerin profilieren. Außerdem wird Gerhard Schröders Zerschlagung des Bundesarbeitsministeriums rückgängig gemacht. "Die Gewerkschaften erhalten wieder einen direkten Draht in das Haus", klagt ein ungenannter Beamter des Clement-Ministeriums. Das hört man gern. Aber die Bedrohung des Flächentarifvertrags bleibt. Sie geht nur deshalb von staatlichen Ministerien aus, weil sie vorher von Unternehmern ausgeht und der Staat sich diesen zu unterwerfen pflegt. Das wird mit Merkel/Müntefering nicht anders, als es mit Schröder/Müntefering war.

Wiesehügel zeigt Niveau, indem er seine Analyse nicht auf die Behauptung stützt, Unternehmer seien böse, sondern auf das marktlogisch Berechenbare: Es gibt eine Krise am Bau; keiner weiß, ob sie in zwei bis drei Jahren beendet ist, ob sich also die unternehmerische Ertragslage in dieser Zeit bessert. "Doch jeder spürt, dass es wohl sehr schwer wird, bei unveränderten Rahmenbedingungen noch einmal einen Rahmentarifvertrag abzuschließen." Das ist zunächst eine Sondersituation der Baubranche, mit der Wiesehügel in einer Art umgeht, die für die Unternehmer zum Fürchten sein dürfte. Nicht bloß weil er sie warnt, den "Feind" zu spielen, weil man Feinde "vernichten" werde. Das hätte er besser nicht gesagt. Solche Wörter sollten im politischen Diskurs überhaupt nicht vorkommen. Sie passen auch gar nicht zu Wiesehügels sozialpartnerschaftlicher Grundgesinnung. Es ist wie in einer Traditionsehe, wenn die Hausfrau fürchten muss, der Gemahl werde den Berufsstress an ihr auslassen: "Man weiß ja nie, was dem Chef so alles einfällt, wenn mal die Kunden wegbleiben."

Wie die Gewerkschaft dann reagieren kann, hat er jedenfalls kühl und stark kalkuliert. Ohne Flächentarifvertrag wird der Tarifkampf Betrieb um Betrieb geführt werden. Die Gewerkschaft muss sich daher auf Hilfe für Einzelbetriebe umstellen, das heißt: von der Zentrale aus den Kampf koordinieren und mit Information versorgen, an der Basis den Aufbau von Betriebsgruppen vorantreiben. Weil so das Engagement des einzelnen Gewerkschafters in den Vordergrund rückt, muss das Organisationskonzept "von der Dienstleistungs- zur Mitmachgewerkschaft" umgestellt werden. Das bedeutet auch, die Zahl der mittleren Funktionäre kann sinken, sie muss es ohnehin aus Geldmangel. Die regionalen Büros allerdings werden noch wichtiger, weil auch sie koordinieren und informieren. Nun ist mit Betriebsgruppen allein nichts gewonnen. Sie könnten die Erpressbarkeit einer isolierten Belegschaft nicht entscheidend zügeln. Daher Wiesehügels Ankündigung der "schnellen Eingreiftruppe", die von außen zu Hilfe eilt. Ihr könnte kein Unternehmer Angst einjagen, er müsste aber selbst welche bekommen. Denn die Truppe wird schlimmstenfalls versuchen, das betreffende Unternehmen in den Bankrott zu treiben.

Nach Wiesehügels Worten liegt der Fall vor, wenn etwa ein Unternehmer eine Betriebsratswahl verhindert. Doch es ist klar, die Truppe kann gegen jede Erpressungsmethode eingesetzt werden. Sie antwortet dem Grundproblem, das Gewerkschaften haben, wenn es keinen Flächentarifvertrag mehr gibt. Es kann dann nicht mehr mit Streik gedroht werden. Diese Waffe ist ja nur wirksam, wenn die Drohung von allen Arbeitern einer Branche ausgeht. Das setzt aber voraus, dass auch alle vom Abschluss eines Tarifvertrags betroffen sind. Wenn hingegen die Arbeiter nur eines Betriebs streiken, können die Unternehmer sie entlassen und andere einstellen. Deshalb Wiesehügels Schritt von der traditionell gewerkschaftlichen zu einer eher politischen Kampfmethode. Wie sein Hinweis auf nordamerikanische Vorbilder nahelegt, würde die Eingreiftruppe das Image des Betriebs durch öffentliche Kampagnen zu schmälern versuchen. Wenn das Folgen fürs Konsumverhalten hat, droht der Bankrott. Gewiss ist die Kampfmethode zweischneidig. Der Unternehmer kann versuchen, die Belegschaft gegen die Eingreiftruppe aufzuhetzen, weil sie ihre Arbeitsplätze bedrohe. Aber das würde es ihm schwerer machen, sie gleichzeitig zu erpressen. Außerdem wird er vielleicht doch lieber nachgeben als untergehen. Die Belegschaft kann in einem solchen Konflikt das Gut erlangen, welches man "Klassenbewusstsein" nennt.

Wiesehügels Methode antwortet auch dem Problem sinkender Mitgliederzahlen. Denn eine solche Truppe muss nicht extrem groß sein. Einer bekannten Guerillataktik vergleichbar, würde sie immer nur an der Stelle auftauchen, wo das Kapital, der übermächtige Gegner, sich eine Blöße gibt. Ja, man fragt sich, weshalb Gewerkschaften überhaupt noch mitgliederstark sein sollen. Im Zeitalter der "lean production" und des "schlanken Staates" gibt doch die schlanke Gewerkschaft ein sehr modernes Gegengewicht ab.

Nicht am unwichtigsten ist, dass Wiesehügel den Aufbau "echter europaweiter Branchengewerkschaften" fordert. Denn wie er erkennt, hat die Bedrohung des Flächentarifvertrags in der innereuropäischen Globalisierung ihren letzten Grund. Die Unternehmer agieren zunehmend europaweit: Also müssen es die Gewerkschaften auch tun. Das ist nun keine Sondersituation des Baugewerbes mehr. Das Besondere ist nur, dass hier gern unterbezahlte ausländische Arbeitskräfte eingesetzt werden. Die Unternehmer anderer Branchen gehen ihrerseits ins Ausland, um dort Niedriglöhne zu zahlen. Der Effekt, dass Betriebe erpressbar werden, ist der gleiche. Aber vielleicht veranlasst Wiesehügels Kampfansage manchen Unternehmer, über die Vorteile des Flächentarifvertrags noch einmal neu nachzudenken.


Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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