Die Wahlen vom 2. Februar haben die innenpolitische Konstellation verändert. So wird es der Kanzler mit dem Bundesrat schwerer haben. Bei einem Stimmenverhältnis von 41 zu 28 zwischen Unions- und SPD-geführten Ländern ist Schröder die Option abhanden gekommen, einzelne Unions-Ministerpräsidenten mit Finanzgeschenken zu ködern und allein dadurch die Bundesrats-Mehrheit fallweise zu kippen. Aber das ist nur eine der Folgen, die sich in der Woche danach abzeichneten, und nicht die gravierendste. Verschiedene Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat hat es ja schon häufiger gegeben. Beispiellos ist jedoch das Ausmaß des Vertrauens- und Legitimationsverlusts, den Schröders Politik erlitten hat. Jetzt ist klar: So wie bisher kann es nicht weitergehen. Doch was wäre die zukunftsfähige Konsequenz?
Die Wähler haben entschieden, mit einem Sieg bei den Bundestagswahlen sei Schröders Widerstand gegen den Irakkrieg genug belohnt. Am 2. Februar trugen sie ihren Unmut über die Wirtschafts- und Sozialpolitik nach. Die SPD verliert ihre Klientel: In Niedersachsen sank sie bei Arbeitern um 24, bei Angestellten um 17, bei Arbeitslosen um 22, bei Gewerkschaftern um 14 Prozentpunkte. In Hessen waren die Verluste geringer, weil die SPD aus der Opposition heraus agierte, aber immer noch hoch: bei Arbeitern 16, bei Gewerkschaftern acht Punkte. Die Zahlen sind so drastisch, dass die SPD sich mit Vorboten einer Zerreißprobe konfrontiert sieht. Den Grund braucht niemand lange zu suchen oder sich erst von Lafontaines Bild-Kolumne erklären zu lassen. Es ist Schröders neoliberaler Kurs, der die Arbeitslosigkeit nicht senkte. Nun treten Konfliktlinien in der SPD hervor. Zum einen gehen sozialdemokratische Gewerkschaftsführer auf Distanz zur Partei. An Schröders »Bündnis für Arbeit« wollen sie sich nicht länger beteiligen. Sie sind über seinen Zynismus empört.
Es ist das alte Lied: Vor der Bundestagswahl glaubten sie die Union abzuwehren, wenn sie sich zum Beispiel gegen die Abschaffung des Bundesarbeitsministeriums wandten. Die angekündigte Unterordnung des Arbeits- unter das Wirtschaftsressort mache deutlich, welchen Stellenwert Arbeit und Soziales unter einer christlich-liberalen Regierung hätten, sagte IG Metall-Chef Klaus Zwickel am 28. August 2002. Tatsächlich setzte dann Schröder die »Zerschlagung« (so die FAZ vom 6. Dezember 2002) des traditionell gewerkschaftsgeführten Ministeriums durch. Weiter hatte Zwickel gesagt, mit ihrem Angriff auf die Tarifautonomie verabschiede sich die Union von Grundwerten, »die unter Helmut Kohl noch zu ihrem Selbstverständnis gehörten«. Jetzt ist es der Sozialdemokrat und neue Superminister Clement, der über eine Aufweichung des Flächentarifvertrags nachdenkt. Dabei ist »Denken« eigentlich zu viel gesagt. Es geht mehr um Demagogie und Klassenkampf von oben. Durch Clements »Nachdenklichkeit« wird suggeriert, der DGB stelle sich Sonderregelungen für bedrohte Kleinunternehmen entgegen. Aber Sanierungstarifverträge und Härtefallklauseln sind schon heute eine Option. Der DGB verhindert nur, dass für Lohnsenkungen Härtefälle in Anspruch genommen werden, die gar keine sind. Denken, Urteilen, sachliches Problemlösen findet man nicht bei Clement, sondern fand man bei Zwickel, wenn er auf die Erpressbarkeit von Belegschaften hinwies. Wer Betriebsräten Tarifverhandlungen zumute, müsse ihnen auch das Streikrecht geben, forderte er seinerzeit in der Annahme, sein Gegner heiße Lothar Späth.
Zum andern treten Regierungs- und Fraktionsmitglieder der SPD gegeneinander an. Es ist schon ein fatales Signal für Schröder, wenn sich gegen Clements totale Prinzipienlosigkeit der Fraktionsvorsitzende Müntefering, vor kurzem noch Schröders rechte Hand, erheben muss. Reformen seien Instrumente und nicht Selbstzweck, teilte er in einem Offenen Brief mit. Der dritte Konflikt ist zwischen Parteilinken und -rechten ausgebrochen. Die Linken forderten einen Sonderparteitag und legten ein Strategiepapier vor, in dem sie eine Abkehr von Hans Eichels Sparkurs verlangten. Vielmehr solle der Staat sich verschulden und durch staatliche Investitionsprogramme die Massenkaufkraft anregen. Die drei Konflikte haben offenbar denselben Inhalt. Es wird eng für Schröder, weil sie sich wechselseitig aufladen.
Und doch ist es bisher nur der gewohnte Stress. Denn die linken Forderungen sind nicht neu. Auch wer sie aktuell für richtig hält, wird nicht glauben, sie führten aus der Dauerkrise der Arbeitsgesellschaft heraus. Dazu müsste einem schon mehr einfallen als Staatsschulden. So überrascht es auch nicht, dass Schröder den Protest im Handumdrehen integrieren konnte. Nach der Parteivorstandssitzung am Montag glaubten die Linken, der Kanzler sei ihnen genügend entgegengekommen. Er hatte geäußert, ein Irakkrieg würde sich auf die wirtschaftliche Lage in Europa auswirken und könne damit auch Eichels Kurs und letztlich das Drei-Prozent-Kriterium von Maastricht in Frage stellen. Darüber soll mit Frankreich und Großbritannien gesprochen werden. Auf dem Sonderparteitag bestanden die Linken nicht.
Man sieht inzwischen den Hintersinn der von der Union angestrengten »Wahllügen«-Kampagne. Als sie begann, sprach noch gar nichts für Schrödersche Lügen, aber dann, eingeschüchtert durch die Kampagne, begann der Kanzler aufs Gegenteil dessen umzuschwenken, was er vor den Wahlen gesagt hatte. Die wirklichen Lügen erscheinen nun nicht mehr als solche. Am 18. September 2002 hatte die FAZ die Wahlprogramme zur Gesundheitspolitik gegenübergestellt. »SPD: Solidarische Krankenversicherung. CDU: Solidarische Krankenversicherung. Grüne: Solidarische Krankenversicherung. FDP: Leistungskatalog der gesetzlichen Versicherung begrenzen und kürzen.« Ist denn Westerwelle Kanzler geworden? Das war unnötig, sein Programm siegte von selbst. Die Neoliberalisierung, der langfristige Trend, geht weiter; wie eh und je ist Schröder sein Büttel.
Die Union schwelgt schon in Vorschlägen für den »Reformkonsens«, den der Kanzler nach Verhandlungen im Bundesrat umsetzen soll. Das Gesetz mit dem zwar langen, aber korrekten Namen »Steuervergünstigungsabbaugesetz«, nach Unions-Sprachregelung ein Steuererhöhungsgesetz, will sie stoppen. Eine Aufhebung des Bankgeheimnisses bei Kapitalflüchtlingen, deren Geld durch niedrige Sühnesteuersätze nach Deutschland zurückgelockt werden soll, lehnt sie ab, und die von der Regierung geplanten Sätze sind ihr längst nicht niedrig genug. Während die Regierung die Arbeitslosenhilfe deutlich senken und nicht mehr ohne Gegenleistung gewähren will, will die Union sie ganz abschaffen und durch Sozialhilfe ersetzen. Während Clement, wie gesagt, über weniger Kündigungsschutz »nachdenkt«, hat die Union schon im Bundestagswahlkampf für dessen Ersetzung durch ein »Optionsmodell« plädiert.
Damals hieß es noch, neu eingestellte Ältere sollten zugunsten einer Abfindung auf den Kündigungsschutz verzichten können. Am Montag dieser Woche wurde die Idee, die inzwischen auch im Kanzleramt umläuft, verallgemeinert. Jetzt soll sich jeder neu Eingestellte für die Abfindung entscheiden »dürfen«. Natürlich ohne Beteiligung einer Gewerkschaft, die Schutz vor Erpressung spenden könnte. Die Union erneuerte am selben Tag auch ihren Angriff auf den Flächentarifvertrag. Wenn Belegschaft und Betriebsrat eines Unternehmens mit Zweidrittelmehrheit von ihm abweichen, soll es der Gewerkschaft verwehrt sein, ein Veto dagegen einzulegen, es sei denn, sie entscheiden sich für eine Regelung mit längerer Laufzeit, als der Flächenvertrag sie hat. Großspurig nennt die Union ihre Vorstöße einen »Stufen-Plan für eine nationale Kraftanstrengung«. Worum es ihr geht, wird in der Auskunft ihres Wirtschaftssprechers Laumann deutlicher: »Bei der jetzigen Arbeitslosigkeit wollen wir die Schwelle, dass Leute eingestellt werden, auf Null bringen.« Der Satz ist zweideutig. Was wollen sie auf Null bringen: die Arbeitslosigkeit oder die Schwelle - den Arbeiterschutz? Auf jeden Fall letzteres. Dass durch irgendeine der Maßnahmen auch mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, glauben wohl nur wenige im Ernst. Es sind schon so viele Schwellen weggetreten worden.
Wenn es wirklich um Maßnahmen ginge, die sachdienlich sein sollen, würden die Argumente der Gewerkschaften gehört und berücksichtigt werden. Das geschieht nicht. Es geht vielmehr um Klassenkampf. Die Unternehmer wollen weniger Geld geben, entsprechend sollen die Arbeitslosen weniger bekommen. Den Arbeitern sollen Schutzrechte genommen werden, damit die Unternehmer tun und lassen können, was sie wollen. So einfach ist das. Aber dass der schamlose Raubzug unter einer SPD-Regierung besser vorankommt als unter Altkanzler Kohl, ist und bleibt ein Skandal. Wie kann sich die SPD-Linke damit zufrieden geben, dass Schröder eine Verletzung der Maastricht-Kriterien in Aussicht stellt? Im Kriegsfall! Dieser Kanzlerplan unterstreicht nur unsere Diagnose. Es ist gar nicht sein Plan. Er hat ihn nur seiner Hauslinken bei passender Gelegenheit bekannt gegeben. Dem Spiegel entnehmen wir, dass die G 7 darauf vorbereitet ist, im Kriegsfall die Weltwirtschaftskrise auszurufen und ihre auf Sparsamkeit ausgerichtete Finanzpolitik dann zu beenden. Schröderscher Gespräche mit Frankreich und Großbritannien bedarf es dazu nicht. Das Szenario ist deshalb interessant, weil es zeigt, wie leicht die Mächtigen ihre kapitalfreundliche und arbeiterfeindliche Politik unterbrechen können, wenn sie einmal befürchten müssen, der Unmut der Massen könnte das gewöhnliche Maß überschreiten.
Eine zukunftsfähige Linke müsste hier ansetzen. Sie hätte vom Klassenkampf zu sprechen. Nur wenn nicht länger verschwiegen wird, dass Vorschläge zum Abbau der Arbeitslosigkeit - und vielleicht der Arbeitsgesellschaft überhaupt - mit Klasseninteressen übereinstimmen oder kollidieren, kann es zu Ideen kommen, die einen Streit lohnen.
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