Resignation war nie zu spüren. Von der ersten Minute an wirkten die Delegierten entschlossen, die Frage, wie es zur „epochalen Niederlage“ gekommen war und was aus ihr herausführen könnte, nach eigenem Urteil zu beantworten. Sigmar Gabriels Rede machte sie dann geradezu hip. Kann man sagen, sie setzten sich durch und haben nun eine Führung aus eigenem Fleisch und Blut? Es ist nicht klar, der Dresdner Neubeginn blieb zweideutig.
Franz Müntefering, dessen Rede am Anfang stand, wurde mit großem Respekt verabschiedet, obwohl er die Rechenschaft, die er abgelegen sollte, in jeder Hinsicht schuldig blieb. Die Umstände sind schuld, nicht ich, war die unverhohlene Botschaft. Er sprach überhaupt nur von Umständen. Die Institution Volkspartei sei in die Krise geraten, aber gerade die linke Volkspartei SPD werde weiter gebraucht. Als erster von mehreren Rednern behauptete Müntefering, man sehe ja den Niedergang sozialdemokratischer Parteien in ganz Europa, mit Ausnahme nur der Spanier und Griechen. Still sollte man hinzusetzen, dass die Krise der SPD dann ja gar keine spezifisch deutschen Gründe haben konnte. Indessen hatte er die These mit dem Hinweis auf Spanien und Griechenland schon selbst widerlegt.
Dass Müntefering trotz Unfähigkeit zur Selbstkritik mit langen stehenden Ovationen bedacht wurde, verweist auf ein Alleinstellungsmerkmal der SPD. Sie ist die letzte Wir-Partei, das letzte Kollektivsubjekt in der deutschen Politik. In einer solchen Partei möchte man auf eine kaum unterbrochene Reihe guter Führer zurückblicken können, und so muss möglichst auch Müntefering einer gewesen sein. Mit politischen Leistungen hatte er nicht geglänzt. Dafür konnte und kann er das Wir-Gefühl wunderbar artikulieren. Die gleichen Delegierten, denen sein Mangel an Bescheidenheit missfiel, waren dann doch von seiner Behauptung eingenommen, die SPD sei zwar minoritär geworden, die sozialdemokratische „Idee“ jedoch habe die Mehrheit. Auf dieser Klaviatur müssen SPD-Vorsitzende spielen können; die Parteitags-Delegierten sind der Klangkörper, der nur dann leise und aufmerksam wird, wenn ein Redner es versteht, dieses Wir auch zu verkörpern.
Die spannendste Frage auf SPD-Parteitagen ist daher immer die, welchem Redner es gelingt, den Saal mucksmäuschenstill zu machen. Bei diesem Parteitag fiel auf, dass die Delegierten schon von Anfang an ziemlich konzentriert zuhörten, erst dem scheidenden Parteivorsitzenden, dann sich selbst in der Aussprache. Das war ungewöhnlich und sprach für dem Willen, die Verkörperung der „Idee“ diesmal nicht einem Repräsentanten zu überlassen. Freilich fängt hier die Zweideutigkeit schon an, denn die Führung selber hatte es so eingerichtet, dass die Basis schimpfen können sollte, solange es ihr nur immer gefiel.
Tatsächlich meldeten sich ungewöhnlich viele Delegierten zu Wort, bis Gabriel in seiner Rede sagte, die Luft sei dick und man müsse das Fenster öffnen. Er zitierte damit den Satz aus einem Film von Roman Polanski, der einst das Regime der polnischen KP in Frage gestellt hatte. Das hieß vielleicht, die Aussprache sollte mehr gewesen sein als ein Ventil. Aber was konnte man sich letztlich dafür kaufen? Es war ein Gleichnis ohne Inhalt, nur schön, und mancher führt einen Laden zum Erfolg, indem er nur lächelt.
Doch was immer die Führung beabsichtigt haben mag, die Delegierten spielten ihre Rolle gut. Es wird nicht leicht sein, die Dynamik zu stoppen, die sie entfalteten. Was Müntefering nicht über die Lippen kam, wurde von ihnen nachgeholt. Hartz IV, die Rente mit 67, die Privatisierungspolitik und überhaupt der Gerhard Schrödersche Neoliberalismus, es wurde alles so scharf gegeißelt, dass man glauben konnte, man befinde sich auf einer radikalsozialistischen Tagung. Wichtige Analysen kamen dabei zu Gehör. So wurde hervorgehoben, dass die Wir-Partei von einer entsprechenden Wir-Wählerschaft getragen war. Wenn also eine Partei Glaubwürdigkeit brauche, dann die SPD; es sei viel mehr für sie eine Katastrophe, unglaubwürdig geworden zu sein, als für andere Parteien. Einer zitierte das Märchen vom Kaiser ohne Kleider: „Am 27. September hat der deutsche Michel gesagt: Die SPD ist nackt!“ Aber sie waren auch einig, dass es mehr an ihnen selbst als an der Führung gelegen hat. Denn Parteitage hatte es genug gegeben, auf denen sie der Führung widersprechen konnten: „Basta-Politik ist immer Abnick-Politik!“
Gabriel spielt auf dem Wir-Klavier
Werden sie in Zukunft schärfer aufpassen? Aber auch hierin war ihnen die Führung zuvorgekommen. Gabriel hatte den basisdemokratischen Neubeginn als erster verkündet. Wie glaubwürdig ist er selber, der umjubelte neue Mann? Auf dem Wir-Klavier kann er noch besser spielen als Müntefering. Er macht es moderner. Er kann einerseits die Älteren mit treffsicheren Gesten für sich einnehmen, und diese kommen ihm sichtbar aus dem Herzen. Als der Beifall für seine Rede nicht enden will und er schon nicht mehr weiß, ob er aufstehen oder sitzen bleiben soll, da erst kommt ihm der Gedanke, sich den Weg zu Kurt Beck zu bahnen und auch ihm für die Vorarbeit zu danken. Nach einer weiteren Pause geht er ins Plenum hinunter, um Erhard Eppler und Hans-Jochen Vogel die Hand zu schütteln. Andererseits verändert er mal so eben mit links die sozialdemokratische „Idee“. Nach seinen Worten ist das nicht die Idee der Gleichheit, sondern der „Freiheit und Solidarität“.
Bei einem wie Gabriel hat man den Eindruck, der musste bloß darauf warten, dass die Partei ihm diese Auftrittsmöglichkeit gibt: Dann würden alle ihm einräumen müssen, ihm oder seinem Redner-Talent, dass er die SPD-Verkörperung sei. Schon sein sprachlicher Mutterwitz ist beeindruckend, wenn er etwa formuliert, die SPD brauche Geschlossenheit, aber auch Aufgeschlossenheit. Diese Formel und andere wiederholt er in mehreren Interviews, so dass man ahnt, sein Auftritt sieht zwar spontan aus, ist aber bis ins Einzelne durchgestylt.
Ein Kurswechsel? Vielleicht
Er hat auch etwas zu sagen. Die SPD, meint er, war als Volkspartei dann stark, wenn sie die Mitte besetzen konnte, doch die Mitte ist „kein fest stehender Ort“, den eine Partei zu nehmen hätte, wie er ist, das heißt, an den sie sich anzupassen hätte. Sondern sie muss die „Deutungshoheit“ erlangen; daraus geht eine Mitte allererst hervor. So hat Willy Brandt mit seiner Ostpolitik, die nicht nur in der Sache ein Schritt voran war, sondern auch weite Kreise überzeugte, und zwar durch ihre Klugheit, eine Mitte geschaffen, die es vorher gar nicht gegeben hatte. Die hegemoniale Idee steht am Anfang, die Mitte als Ort ist nur deren Verräumlichung. Doch in der letzten Zeit hat die SPD sich einer Mitte nur angepasst, die von den Neoliberalen produziert worden war. Das hat sie in den Niedergang geführt.
Die Analyse ist selber so klug, dass sie nicht von allen verstanden wird. „Ja, was denn“, fragt einer im Saal genervt, „gibt es nun eine Mitte oder nicht?“ Schon weil der Gedanke so schwierig ist, darf man annehmen, dass es Gabriel ernst mit ihm ist. Auf der anderen Seite ist es ein sehr abstrakter Gedanke. Entscheidend wäre ja erst, wie er konkretisiert wird. Und nun bittet man uns um Geduld. Über die Rente mit 67 wollen sie in zwei Jahren befinden, Schröders Agenda verändern, aber nicht widerrufen, über Afghanistan erst einmal in Ruhe diskutieren, bevor vielleicht ein Richtungswechsel eingeleitet wird. Das ist Sigmar Gabriel: Für alles offen, was die Basis will, und zugleich: „Ja, aber nicht jetzt!“
Und dann sind da noch Andrea Nahles und Franziska Drohsel. Die erste bringt es zwar bei ihrer Wahl zur Generalsekretärin nur auf 69 Prozent, aber sie hat nun die Parteizentrale unter sich und kann im Vorstand linke Mehrheiten organisieren. Das Wir-Gefühl verkörpert sie nicht, da ist Gabriel stärker, und wie gesagt, das ist in der SPD der entscheidende Hebel. Aber einmal musste Gabriel schon nachgeben: Die Delegierten brachten gegen seinen Willen, aufgerufen durch Drohsel, die Juso-Vorsitzende, die Vermögenssteuer im Leitantrag unter. Die erste Runde wenigstens ging an die Basis.
Neue Kleider, neue Köpfe
Der in Dresden beschlossene Leitantrag enthält Selbstkritik, bleibt aber mit Blick auf die Zukunft vage. Wegen der in der Regierungszeit verantworteten Reformen sei der SPD angelastet worden, dass sie sich von zentralen Sicherungsversprechen des Sozialstaates, der Absicherung bei Arbeitslosigkeit und im Alter, verabschiedet habe. Die Maßnahmen werden nun überprüft. Eine vollständige Abkehr von Hartz IV oder der Rente mit 67 ist bisher nicht vorgesehen. Auch die Forderung nach einem konkreten Datum für den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan fand keine Mehrheit.
In der Gesundheitspolitik will die SPD weiterhin die gesetzliche Gesundheits- in eine Bürgerversicherung umbauen. Der gesetzliche Mindestlohn bleibe Ziel, heißt es in dem Beschluss. In der Vergangenheit hatte die SPD im Bundestag aus Koalitionsräson gegen eine allgemeingültige Lohnuntergrenze votiert. Die Sozialdemokraten wollen sich unter anderem für Gebührenfreiheit in der Bilddung, Stromnetze unter staatlicher Kontrolle, Rekommunalisierung privatisierter Betriebe der Grundversorgung sowie die doppelte Staatsbürgerschaft einsetzen.
2010 will die SPD ein Steuerkonzept vorlegen. Die Parteilinke erreichte, dass darin auch wieder die Vermögensteuer Platz findet. Geben soll es weiterhin eine internationale Finanzmarktsteuer oder zumindest eine nationale Börsenumsatzsteuer. Auf Spitzeneinkommen soll ein Bildungssoli erhoben werden. In der Haushaltspolitik setzt die SPD wie auch die schwarz-gelbe Regierung auf eine wachstumsorientierte Konsolidierung.
Die neue Generalsekretärin Andrea Nahles kündigte einen Zweistufenplan an: In vier Jahren will die SPD demnach die Regierungsmacht im Bund zurückerobern. In der ersten Hälfte solle die Neuaufstellung der Organisation im Zentrum stehen. Später wolle man die Bundestagswahl 2013 in Angriff nehmen. Die Kanzlerkandidatenfrage blieb in Dresden ausdrücklich offen. Mit Blick auf mögliche Bündnispartner hieß es, man wolle nun niemanden mehr generell ausschließen.
Im neu gewählten SPD-Vorstand sind zwölf der 45 Mitglieder Neulinge. Namhafte Sozialdemokraten traten nicht mehr an, darunter Andrea Ypsilanti und Heidemarie Wieczorek-Zeul. Die frühere DGB-Vize Ursula Engelen-Kefer trat in Dresden zwar wieder an, scheiterte aber bei der Wahl.
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