Der Fall des ehemaligen Abgeordneten Sebastian Edathy, der Aktfotos von Knaben übers Internet bestellt haben soll, löst einhellige Empörung aus und ist also ein Skandal. Am 18. Dezember sprach der Sozialdemokrat, dessen Parteimitgliedschaft ruht, vor einem Bundestags-Untersuchungsausschuss und vorher vor der Bundespressekonferenz, die gut besucht war. Dabei war kaum zu erwarten, dass man dort viel anderes erfährt als aus dem Spiegel-Interview mit Edathy, das im März veröffentlicht wurde. Interessant war schon damals die Begründung, weshalb er sich unschuldig verfolgt glaubte, und die Debatte, die sich daran anschloss. Sie zeigte, wie wir uns in unseren Skandalen spiegeln. Skandale sind nicht bloß eine Frage des Rechts und Unrechts. Sie können darin produktiv sein, dass sie die Beseitigung von Missständen vorbereiten. Man kann sie allerdings, wenn man über den Hebel einer Zeitung verfügt, auch ausrufen, um diese nur besser zu verkaufen. Die Frage ist, wie die Öffentlichkeit in beiden und noch anderen Fällen reagiert. Das moralische und intellektuelle Niveau einer Gesellschaft zeigt sich auch an ihren Skandalen.
Edathy täuscht sich, wenn er wirklich meint, er dürfe sich über die öffentliche Behandlung seines Falls beschweren. Jeder Zeitungsleser kennt die Umstände, unter denen Politiker ins Fadenkreuz des Skandals geraten, er als Politiker kennt sie noch besser. Auch ein Politiker, sagt er, dürfe eine Privatsphäre haben, solange nichts Unerlaubtes in ihr geschehe. Er sei nicht pädophil und Knaben-Aktfotos seien nicht unerlaubt. Heribert Prantl, Jurist und Kommentator der Süddeutschen Zeitung, hat ihn unterstützt, und sogar Thomas Fischer, der Vorsitzende des Bundesgerichtshofs, betonte, dass die scharfe Grenze zwischen Recht und Unrecht für einen Rechtsstaat essenziell und es daher gefährlich sei, wenn so getan werde, als sei noch etwas dazwischen. Mit gutem Grund hat aber der frühere Bundesrichter Wolfgang Nešković eingewandt, dass ein Politiker sich nicht bloß am Recht misst, sondern an den Normen der Gesellschaft, als deren Repräsentant er auftritt.
Überflüssige Rechtsklärung
Auch dass in seine Privatsphäre eingebrochen wurde, darf Edathy nicht wundern. Repräsentanten in einer Demokratie mögen rechtlich so viel Schutz genießen wie andere, jeder weiß aber, dass sie ihn faktisch nicht haben und nicht haben können. Stehen sie doch als Repräsentanten für andere Menschen, und wenn man sie wählt oder ihnen Beifall spendet, sind immer auch private Motive leitend. Mit dem Interesse für ihr Privatleben müssen sie daher rechnen. So durfte sich auch Michael Hartmann nicht wundern, der bis Anfang Juli innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag war, als man ihn beschuldigte, gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen zu haben, und er sein Amt deshalb niederlegen musste. Das Ermittlungsverfahren gegen ihn wurde inzwischen gegen Zahlung einer Geldauflage eingestellt, aber er hatte doch eingeräumt, im Herbst 2013 einen Monat lang Crystal Meth „in geringer eigenverbrauchsüblicher Menge konsumiert“ zu haben – zur selben Zeit, als er sich im Bundestagswahlkampf gegen die Legalisierung weicher Drogen aussprach. Dass die Leute wissen wollen, ob jemand privat so lebt wie er öffentlich predigt, musste ihm klar sein.
Selbst wenn der Einbruch ins Privatleben seinerseits eine Norm verletzt, wie das bei Edathy der Fall war – die Polizei hätte seinen Fall nicht an die Öffentlichkeit gelangen lassen dürfen –, ändert das nichts an der öffentlichen Rolle, die er selbst freiwillig übernommen hat. Da nun bekannt wurde, dass er angeblich Aktfotos von Knaben bestellte, muss er es hinnehmen, dass die Nähe dieser Bilder zur verbotenen Kinderpornografie, und damit zum Kindesmissbrauch, für den Beobachter unerträglich erscheint.
Hier zeigt sich eben, was eine gesellschaftliche Norm von einer bloßen positiven Rechtssetzung unterscheidet. Die Norm ächtet ein Verhalten nicht erst dann, wenn die Unrechtsgrenze überschritten ist, der es sich zu nähern scheint. Der betroffene Politiker mag sagen, der Schein trüge, aber schon dass man ihn überhaupt in der Grenznähe und so in einer Zone des Zwielichts antrifft, ist unvereinbar mit seiner Rolle des Repräsentanten. Nur insofern ist Edathys Fall dem Fall Christian Wulffs vergleichbar. Der frühere Bundespräsident, der auch nichts Strafbares getan hat, hat sich auch in einem Zwielicht bewegt. Es bestand darin, dass Politiker nicht bloß „wirtschaftsfreundlich“ zu sein, sondern das ganze Volk zu repräsentieren haben. Wenn dann ein Bundespräsident sich mehrfach zum Urlaub bei Wirtschaftsbossen einladen läßt, liegt der Verdacht nahe, dass er „die Wirtschaft“ mehr repräsentiert als andere Bevölkerungsgruppen. Das ist unerträglich, insbesondere für ein Staatsoberhaupt, auch wenn er die Grenze zur verbotenen Korruption nicht überschritt. Da freilich seine Haltung nicht überall klar verurteilt wird, war es Wulff leicht, den Fokus der Aufmerksamkeit auf die lächerliche Beschuldigung zu lenken, er habe sich mit einer winzigen Geldsumme, auf die selbst Schlechterverdienende verzichtet hätten, bestechen lassen wollen. Aus der überflüssigen Rechtsklärung ist er als strahlender Sieger hervorgegangen. Edathy darf auf so eine Skandalbewältigung nicht hoffen.
Wenn sich das Niveau einer Gesellschaft an ihren Skandalen zeigt, dann erscheint unseres, an Wulff und Edathy gemessen, als recht mittelmäßig. Was Wulff angeht, wundert man sich, dass die exquisite Nähe zur Wirtschaft bloß bei diesem einen hervorgehobenen Repräsentanten auffällt, als würde sie nicht von der gesamten politischen Elite geteilt und als wären Urlaube die einzige Form, in der sie sich manifestiert. Was Edathy angeht, spricht es zwar für eine Gesellschaft, wenn sie schon die möglichen Vorzonen von Kindesmissbrauch sensibel beobachtet. Aber ist sie sensibel genug? Ist es nicht auch Kindesmissbrauch, wenn ganze Generationen von Kindern zu Söldnern von Privatarmeen in failed states gemacht werden?
Vor solchem Hintergrund ist man erst recht über die Skandälchen ernüchtert, von denen wir in den letzten Jahren erfuhren. Zum Beispiel die Bonusmeilen-Affäre, deretwegen Gregor Gysi am 31. Juli 2002 vom Amt des Berliner Wirtschaftssenators zurücktrat. Die Bild-Zeitung hatte es aufgedeckt: Etliche Politiker überschrieben Bonusmeilen, die ihnen die Lufthansa für Flüge in Wahrnehmung ihres öffentlichen Amts gewährte, auf ihre Privatflüge. Auch das war kein Rechtsbruch; nur von einer freiwilligen Vereinbarung, solches nicht zu tun, wusste Wolfgang Thierse, der damalige Bundestagspräsident, zu berichten. Wie im Fall Edathy kam auch diese Affäre durch Indiskretion ans Licht, weiter war gemeinsam, dass sich auch hier die Staatsanwaltschaft einschaltete, um gleichsam mit letzter Sorgfalt zu prüfen, ob nicht doch ein Rechtsbruch vorlag. Den beschuldigten Politikern sei „ein geldwerter Vorteil“ entstanden, hieß es, und hatte man es dann nicht mit „Vorteilsannahme“, also Korruption zu tun? Ein absurdes Argument, weil man folglich annehmen müsste, die Politiker würden als Gegenleistung für privat genutzte Bonusmeilen bereit sein, lufthansafreundliche Gesetze auf den Weg zu bringen.
Von Norm zu „Normalismus“
Doch letztlich ging es auch hier um eine Norm noch übers geltende Recht hinaus. Das eigentliche Problem im Fall der Bonusmeilen bestand darin, dass mit der Behauptung der Norm eine Sensibilität für die hohe Würde unserer politischen Klasse suggeriert wurde, die mit der wirklichen Qualität der politischen Entscheidungen in diesem Land wenig zu tun hat. Wir sehen zu, wie das Asylrecht ausgehöhlt, die Arbeitslosenhilfe abgeschafft, Hartz IV an ihre Stelle gesetzt wird – sind aber ungeheuer anständig und verlangen auch von unsern Repräsentanten die allerhöchste Moral bis hin zum richtigen Umgang mit Bonusmeilen! Da muss dann auch ein Cem Özdemir seine Ämter niederlegen, weil er einen Privatkredit von dem Lobbyisten Moritz Hunzinger entgegennahm, ohne sich vorher erkundigt zu haben, was das für einer ist. Hunzinger war allerdings eine zwielichtige Person, hatte aber nichts verschenkt, sondern einen Kredit zu 5,5 Prozent Zinsen vergeben; dennoch musste sich Özdemir die Frage anhören, warum er das Geld nicht von der Bank aufgenommen habe, wie das doch üblich sei. Es ist üblich und deshalb die Norm! Hier geht Normbehauptung schon in „Normalismus“ über, den bewussten oder unbewussten Drang einer Gesellschaft, sich um jeden Preis zum konformen Verhalten zu erziehen. Wir erregen uns nur mäßig über die hohen Boni, die Bankmanager auch nach ihrem Versagen, das zur Wirtschaftskrise seit 2008 geführt hat, immer noch einkassieren, aber dass jemand nicht zur Bank geht, wie es alle tun, beleidigt unser überaus feines Gewissen.
Aufmerksam zu beobachten, wie sich der Fall Edathy entwickelt, hat die Gesellschaft guten Grund, während es weniger überzeugt, wenn sie sich über Bonusmeilen und Privatkredite erregt. Eine gemeinsame Niveaugrenze verbindet und schwächt aber dennoch alle bisher erörterten Skandale. Das ist der private Zugang zum Skandalösen. Man lernt durch Edathy nicht, wie der Kindesmissbrauch entschiedener bekämpft werden könnte, sondern nur, wie ein zufälliger Einzelner in dessen Nähe gerät und seine Karriere daran scheitert. Es ist gruseliger Lesestoff für Zeitungen, gewonnen wird kaum etwas dadurch. Das heißt aber nicht, dass der private Zugang den wirklichen Skandal immer verfehlt. Man denke nur an die Spiegel-Affäre 1962: Da ging es zwischen Franz Josef Strauß, damals Bundesverteidigungsminister, und dem Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein um Pressefreiheit. Oder man denke an die Dreyfus-Affäre um 1900 in Frankreich, da entschied die Haltung zur Person über die gesellschaftliche Macht des Antisemitismus. Auf eine solche direkte Wechselwirkung zwischen umkämpfter wichtiger Norm und beteiligter Privatperson könnten wir, wenn wir nur wollten, auch heute stoßen, etwa wenn namentlich bekannte Banker aus Eigennutz eine schwere Wirtschaftskrise heraufbeschwören. Daraus haben wir aber keinen Skandal gemacht.
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