Ein Platz für Ethik

Volksentscheid Nur 14 Prozent der Stimmberechtigten stimmten in Berlin für eine Gesetzesänderung, mit der Religion wieder zum Pflichtfach werden sollte. Rot-rot fühlt sich bestätigt

Pro Reli ist gescheitert, und das ist gut so: Eine Verfassung, nach der Staat und Kirche getrennt sein sollen, wird unglaubwürdig, wenn sie Schulräume speziell für religiöses Interesse anbietet. Ob die Religionslehrer Theologie oder Religionswissenschaft plus Ethik studiert haben, spielt da keine Rolle. Und auch der Umstand, dass andere Bundesländer Religionsunterricht anbieten, ist kein Gegenargument.

Man sollte dennoch nicht die Motive all derer, die sich für Pro Reli einsetzen, in einen Topf werfen. Da haben wir einmal die CDU, die trotz ihres Namens keine religiöse, gar christliche Partei ist. Sie versuchte dem rot-roten Berliner Senat zu schaden. Es ist ihr so wenig gelungen wie zuvor beim Referendum über den Tempelhofer Flughafen. Und dann haben wir die Kirchen, deren Motive ernster sind. Sie können nicht ohne weiteres als "reaktionär" eingestuft werden. Man wird sich tatsächlich fragen, ob ein türkischer Junge, der dazu neigt, Ehrenmorde für statthaft zu halten, davon im deutschen Ethik-Unterricht eher abzubringen ist als in einem Religionsunterricht unter Muslimen, der solchen Impulsen die scheinbaren religiösen Stützpunkte entzieht. Die Konsequenz freilich müsste sein, dass die Jungen zum Religionsunterricht in der Moschee verpflichtet werden, nicht in der Schule. In der Schule sollte es keine Trennung von Menschengruppen geben dürfen: nicht zwischen den Geschlechtern, nicht zwischen Anhängern verschiedener Religionen und auch nicht zwischen ethischen Menschen religiöser und atheistischer Konfession.

Es bleibt trotz allem ein ungutes Gefühl zurück. Denn wer aus dem Berliner Pro Reli-Streit den Eindruck gewänne, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Ethik für ein hohes Gut gilt, läge ganz falsch. Im Gegenteil, Ethik und Moral sind das letzte, womit man punkten kann. Der Satz: "Werd' nicht moralisch" ist ein stets siegreiches Totschlagargument. Gerade von Linken hört man immer wieder, dass es falsch sei, an Managerbezüge und dergleichen ethisch heranzugehen. Zu den seltenen Ausnahmefällen, in denen auf ethische Argumente zurückgegriffen wird und sie auf einmal ganz wichtig zu sein scheinen, gehört die militärische Menschenrechtsintervention. Und das Berliner Referendum. Es beschert uns nun allen ein gutes ethisches Gewissen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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