Franz Müntefering ist aus privaten Gründen zurückgetreten. Wir glauben es ernsthaft. Seine Frau war zwar schon länger krank, doch erst in der vergangenen Woche wurde eine weitere schwere Operation notwendig. Es verdient Respekt, dass Müntefering die Begleitung seiner Frau nun wichtiger findet als das Verweilen bei großkoalitionären Mühen und Absurditäten. Wie dieser Mann überhaupt für lebenslange, bedingungslose, fast soldatische Treue zur sozialdemokratischen Sache Respekt verdient, mag man auch seiner Politik nicht zustimmen.
Der Rücktritt war dennoch auch politisch motiviert. Gerade weil er Parteisoldat war, hätte er wohl weitergemacht, solange er einschätzen konnte, dass seine Politik gemessen am öffentlich Notwendigen und Guten erfolgreich blieb. Dies konnte er sich nicht mehr einreden. Dabei war es nicht die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I, die ihn zum Aufgeben brachte. Es würde nicht zu ihm passen: erst auf dem Parteitag Eintracht mit Beck demonstrieren und dann doch noch, kurz darauf, alles hinschmeißen. Dazu hatte er auch gar keinen Anlass, denn die koalitionäre Einigung beim ALG I entsprach ziemlich dem Paket des "Forderns und Förderns", das er und Beck zuvor besprochen hatten. Nein, ihm muss die Absage der Union an den Mindestlohn bei der Post gezeigt haben, dass er zuletzt in die politische Sackgasse gelaufen war.
Diese Absage passte so gar nicht zu den Illusionen, die er mit dem Amt des Vizekanzlers verbunden hatte. Müntefering scheint anfangs geradezu gehofft zu haben, er könne Angela Merkel in den Schatten stellen und als der eigentliche Kanzler erscheinen. Später wollte er immer noch glauben, die SPD habe ganz genauso viel Macht wie die Union und arbeitet mit ihr nach sozialdemokratischen Kriterien gut zusammen. Aber in Wahrheit ist sie eben doch nur der Juniorpartner. Wurde das schon durch Becks sich zuletzt häufenden Angriffe gegen Merkel offenkundiger, als es Müntefering lieb sein konnte, so war dieser in der Nacht zum Dienstag auch selbst in seiner Einschätzung verunsichert. Er meint, die Union habe Zusagen beim Mindestlohn gebrochen. Er weiß nun, dass sie es tun kann. Sie stellt die nicht nur buchstäbliche, sondern auch eigentliche Kanzlerin.
Die Ära Gerhard Schröders dürfte damit endlich Vergangenheit sein: nicht so sehr, weil einer der letzten an Hartz IV beteiligten Lotsen vom Schiff geht - denn der wichtigste, Frank-Walter Steinmeier, ist noch an Bord -, sondern weil Schröders Konsenspolitik nun keine Basis mehr hat. Zwar wird seine "Agenda" fortgesetzt, aber ob die SPD-Führung noch lange mittun kann, ist wieder ein Stück fraglicher geworden. Erst einmal stopft sie nur die entstandene Lücke. Von Olaf Scholz, der Arbeitsminister werden soll, kann man freundlich sagen, dass er ministrabel ist - mehr nicht. Man kann unfreundlich hinzufügen, dass es nicht ihm zu danken ist, wenn die Formel vom Demokratischen Sozialismus dem Parteiprogramm erhalten blieb. Scholz ist kein Magnet, er wird Müntefering nicht als Dirigent der SPD-Minister ersetzen. Diese Rolle behält sich Beck vor. Oder sie wird von Steinmeier ausgefüllt. Der Außenminister, der die "Agenda" als Chef des Kanzleramts organisiert hat, bleibt nicht nur an Bord, sondern rückt zum Vizekanzler auf. Aber mit solchen Maßnahmen hat man durchaus nicht alles im Griff. Würden solche Reaktionen zur Krisenbewältigung bei der Entwicklung eines wissenschaftlichen Forschungsprogramms auftreten, hätte man sie als Hilfs- oder Ad hoc-Hypothesen zu bezeichnen. Deren Brisanz besteht darin, dass sie das Programm nur um den Preis größerer Zerbrechlichkeit aufrechterhalten lassen.
Das fängt schon bei der Frage an, wer nun Kanzlerkandidat der SPD werden soll. Wenn Beck zugreifen will, kann er nicht ins Kabinett gehen und sich an dessen Disziplin binden. Die Folge ist, dass es zu Steinmeiers Vizekanzlerschaft keine Alternative gibt. Jetzt sieht es aber so aus, als werde der Vizekanzler zum Kandidaten aufgebaut. Wie geht es weiter? Was wird geschehen, wenn sich die Differenzen zwischen den Regierungspartnern häufen? Haben sie nicht mit der Einigung beim ALG I ihre Gemeinsamkeit aufgebraucht? Aus all dem resultiert eine unbeherrschbare Dynamik. Wie Beck sich bei weiterer Zuspitzung politisch positionieren wird, ist auch nicht mehr leicht vorauszusagen. Es gibt zwar keinen Grund, daran zu zweifeln, dass er die Ampelkoalition will. Aber die FDP wird die nächsten Wahlkämpfe an der Seite der Union führen. Was soll dann den Wählern versprochen werden? Etwa eine neue absolute Mehrheit für Rot-Grün? Bis zur nächsten, vielleicht vorgezogenen Bundestagswahl ist vieles möglich.
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