Entfesselte Demokraten

Europa Weitermachen wie bisher? Von wegen! Der Poker um die Kommission zeigt, dass die Gewichte sich verschoben haben – und zwar auf Dauer
Ausgabe 26/2014

Vermutlich wird das Gezerre darum, ob Jean-Claude Juncker Präsident der EU-Kommission werden kann, bei vielen Menschen die Politikverdrossenheit erneuert oder bestärkt haben. Er war doch Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei, die als Sieger aus der Europawahl hervorging. Er wird von der Mehrheit des Europaparlaments unterstützt – ist es dann nicht ein unwürdiges Spiel, wenn besonders Großbritannien seine Berufung hintertreibt? Der Wahlsieger, denkt man, muss automatisch Kommissionspräsident werden können. Alles andere ist undemokratisch, das soll sich ändern und zwar sofort!

Es gibt aber keinen vernünftigen Grund, jetzt schon die Geduld zu verlieren. Dass die Berufung Junckers sich überhaupt nur aufdrängte und es kaum noch möglich war, ihn zu stoppen, war schon selbst ein Demokratisierungsschritt, wie man ihn sich in diesem historischen Augenblick nicht besser wünschen konnte. Es war ja kein Zufall, dass die europäischen Parteien erstmals Spitzenkandidaten aufgestellt haben. Es war vielmehr die Folge des Vertrags von Lissabon. In ihm ist erstmals festgelegt, dass der Rat der EU-Regierungschefs, der bisher den Kommissionspräsidenten vorschlagen konnte, nunmehr „berücksichtigen“ muss, wie die Europawahl ausgegangen ist. Die Wahl 2014 war die erste nach Inkrafttreten dieses Vertrags. Daher haben die europäischen Parteien Kandidaten auf- und der „Berücksichtigung“ durch den Europäischen Rat anheimgestellt. Unerwartet haben sie damit eine Eigendynamik entfesselt, die einen weiteren Demokratisierungsschritt nahelegt – eben dass der Wahlausgang und nicht der Rat entscheidet. Was will man mehr? Das geht nicht zu langsam. Das geht eher zu schnell.

Denn was man auch berücksichtigen muss, sind die Bedingungen des Problems. Das Vorschlagsrecht des EU-Rats, dem das Recht des EU-Parlaments gegenübersteht, den Kandidaten zu billigen, war eine sinnvolle Konstruktion. Und sie bleibt es so lange, wie in Europa eine elementare Voraussetzung von Mehrheitsdemokratie fehlt: die hinreichende Homogenität eines europäischen Staatsvolks oder jedenfalls – wenn man nicht gleich die Vereinigten Staaten von Europa heraufbeschwören will – eines Volks der europäischen „Unionsbürger“.

Die europäischen Menschen fühlen sich nicht als solche. Dazu ist ihnen „Brüssel“ zu fern. Wenn sie an der Europawahl teilnehmen, dann oft genug, um sich vom Brüssel-Europa zu distanzieren. Ausgerechnet in Frankreich und Großbritannien, ohne die man sich wahrlich kein Europa vorstellen könnte, haben europaskeptische Parteien die Wahl gewonnen. Was will man sich dann unter einer europäischen Unionsbürger-Mehrheit vorstellen? Mehrheitsentscheidungen des EU-Parlaments auf der Basis solcher Inhomogenität sind kaum demokratisch zu nennen. Das ist schon den Federalist Papers zu entnehmen, der Urquelle des US-amerikanischen Verfassungsrechts. Das ist, als wenn im Irak Präsident Nouri al-Maliki behauptet, er agiere demokratisch, weil ihn die schiitische Mehrheit gewählt hat.

Der EU fehlt eine Sozialpolitik

Europa ist nicht so inhomogen wie der Irak. Aber es fehlt ihm das Mindestmaß jener wechselseitigen Integriertheit der Bürger, die zum Beispiel in Deutschland Mehrheiten repräsentativ macht, weil auch die jeweilige Minderheit sich vertreten fühlen darf. Das fängt schon damit an, dass im Wahlkampf alle dieselbe Sprache sprechen. Nur so wird Öffentlichkeit möglich, und ein Wahlkampf ohne öffentliche Debatte ist keiner. So gesehen hat es einen europäischen Wahlkampf allenfalls unter Spezialisten gegeben. Es ist sicher keine hinreichende, aber doch eine notwendige Bedingung europäischer Demokratie, dass sich alle Unionsbürger in derselben Sprache austauschen können. Das könnte nur Englisch sein, wie in Indien, dessen Sprachen viel unähnlicher sind als die europäischen. Aber abgesehen davon, dass niemand ein Programm zum europäischen Englischlernen auflegt: Man stelle sich nur einmal vor, ganz Europa hätte die Sprache gelernt, aber Großbritannien wäre aus der EU ausgetreten! Und die Briten waren es nun mal, die sich am meisten gegen Juncker gewehrt haben. Man wehrte sich aber deshalb, weil Juncker für die europäische Integration steht, das heißt für möglichst viel Homogenität in Europa. Das wollen die Briten nicht – quer durch alle Parteien.

Diese Einheitlichkeit wird aber auch von vielen Franzosen abgelehnt, weil eine notwendige Bedingung fehlt, um sie überhaupt erst wünschbar zu machen: eine europäische Sozialpolitik nämlich. Für die steht Juncker, der Neoliberale, gerade nicht. Wie sollen sich da die Europäer als Unionsbürger verstehen? Wenn sie mitansehen, dass Brüssel Rettungsschirme für verantwortungslose Banken aufspannt, sie aber die Zeche zahlen lässt? Das macht sie nicht zu europäischen Demokraten, sondern zu Antieuropäern. Da können wir uns freuen, dass die Antieuropäer wahrscheinlich nur Antibrüsselianer sind. Ulrich Beck hat das betont und vor allem an die europäische Jugend gedacht, die nicht in der Herkunftsnation sitzen bleibt, sondern andere Länder kennenlernen will, und bei der Englisch bereits zur Lingua Franca geworden ist. Wir sehen auch, wie sie überall in Europa gegen Brüssels Austeritätspolitik protestiert. Da wachsen wirkliche Unionsbürger heran. Aber das braucht Zeit.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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