Es wird wohl wahr sein, was man in den Nachrufen las: Johannes Agnoli hat nach 1968 nichts umstürzend Neues mehr gedacht. Ihm hat die Neugierde gefehlt, tadelte die Berliner Zeitung. Ich habe ihn so bei einer Podiumsdiskussion in den 90er Jahren erlebt. Das war ein Podium der PDS, und Agnoli meinte, es sei ein Fehler, wenn Sozialisten sich als Parlamentspartei organisierten. Man habe es ja mit den Grünen erlebt: Kaum im hessischen Landtag angelangt, seien sie schon der SPD auf den Leim gegangen. Er hatte, wie immer, die Lacher auf seiner Seite.
Aber Johannes Agnoli verdient mehr, als dass man ihn an seiner psychischen Biografie misst. Er hat ein Buch geschrieben, Die Transformation der Demokratie, 1968, das in den ausführlicheren Geschichtsbüchern immer seinen Platz haben wird. Dass man von einem solchen Buch nicht mehr los kommt, wenn man es einmal geschrieben hat, ist kein Wunder. Im Übrigen ist es sogar fraglich, ob das wirklich nur eine psychische Dynamik ist oder nicht selbst eine geschichtliche. Denn das ist nicht einfach ein gutes Buch - ein Buch ist es eigentlich gar nicht, vielmehr ein längerer Aufsatz von gut 80 Seiten -, das ist ein Text, an dem sozusagen der Hauch der Geschichte mitwebte. Ja, es braucht eine revolutionäre Zeit oder doch eine Situation des Umbruchs, der sich in Revolten entlädt, um solche Texte hervorzubringen. Nur solche Zeiten scheinen neue Gedanken, die auch sogleich öffentlich wahrgenommen werden, zuzulassen - »zu entlassen« aus dem Gefängnis der Depression, die sich sonst über eine Gesellschaft legt und alles Ideelle, das sich da regen will, festschnürt und niedermacht. So viel ist klar, nach 1968 legte sich der geschichtliche Sturm, der einem Agnoli wie den Rücken so auch den Kopf zum Weiterdenken gestärkt hätte.
Damit ist auch schon gesagt, dass eine Wiederkehr des Sturms natürlich nicht einfach zur Wiederkehr der Analyse führen würde, die sich Agnoli 1968 erschloss und die er, gleichsam ein anarchischer Settembrini, in brillanter Kürze und Prägnanz zu formulieren wusste. Die gedanklichen Grenzen haben sich inzwischen gezeigt. Aber man muss das Richtige unterstreichen. Seine Frage war, wie es kommt, dass der Parlamentarismus nicht die ausgebeuteten und subalternen Klassen per Stimmzettel an die Macht bringt, wie es Marx noch für möglich gehalten hatte. Zunächst erinnert Agnoli daran, dass schon der Faschismus eine historische Antwort darstellt, indem er, weil er die niedergehaltenen Massen zugleich integrierte, es sich leisten konnte, den Parlamentarismus einfach zu zerstören. Dies war jedoch keine nachhaltige Lösung gewesen. Es blieb dem Kapital nichts übrig, als seine Herrschaft nun doch mit dem allgemeinen Wahlrecht zu versöhnen. Wie das geschah, dachte sich Agnoli nicht am Schreibtisch aus, sondern untersuchte den Unterschied solcher Länder wie England und besonders Westdeutschland einerseits, Frankreich und besonders Italien andererseits.
In Italien war die Demokratie 1968 noch nicht »transformiert« worden. Das Parlament war noch ein wirkliches Parlament, es kontrollierte und stürzte die Regierungen. Die kommunistische Partei war weder verboten noch durch ein Mehrheitswahlrecht marginalisiert, wie es auch keine Fünfprozenthürde für andere Parteien gab. Überhaupt spielte die faschistische Vergangenheit in Italien, verglichen mit Westdeutschland, »kurioserweise die entgegengesetzte Rolle: da die starke Stellung des Premierministers und des Kabinetts von Mussolini ausgenutzt wurde« - wie auch von Hitler! -, »schwächte man in der neuen Verfassung die Stellung des Vorsitzenden des Ministerrats entsprechend ein«, während man sie hierzulande bekanntlich noch stärkte. Westdeutschland ist für Agnoli der zukunftweisende Fall einer »transformierten«, das heißt entleerten Demokratie. Als Hauptkriterium unter vielen präzisen Hinweisen und Einzelanalysen hebt sich die Diagnose der Verstaatlichung der im Parlament vertretenen Parteien heraus. Die Führungen der Parlamentsfraktionen bewegen sich eigentlich schon auf der Regierungsebene. Da sie sich untereinander näher stehen als den jeweiligen »Hinterbänklern«, gilt das tatsächlich auch für die Oppositionsparteien.
So stellt sich das Parlament, wie Agnoli sagt, als »die plurale Fassung einer Einheitspartei« dar. Diese Partei hat aus der Geschichte gelernt, dass sie sich zur Wahl stellen muss, dass es also wirklich des Kampfs ihrer Flügel gegeneinander, der Regierung und der Opposition, bedarf. Aber sie weiß die Wahl auf die reine Personalfrage, wer zur Durchführung derselben Politik den besser durchgreifenden Chef stellt, zu reduzieren. »Transformation der Demokratie«, das ist ein Parlamentarismus, in dem nicht mehr das Parlament die Regierung, sondern die Regierung das Parlament kontrolliert.
Agnolis Grenzen sind nur die Kehrseite seiner Avanciertheit. Er hat nämlich nicht bloß Marx nachgebetet, sondern nach Marx´ Vorbild die bürgerlichen Theoretiker, das heißt in seinem Fall die Politologen und politischen Soziologen eingehend studiert. Dabei konnte es nicht ausbleiben, dass im erfolgreichen Versuch, deren Analysen umzuschmelzen, manches Perspektivische dann doch hängen blieb. Die Perspektive, die Agnoli mit der bürgerlichen Literatur teilt, ist das Denken in Oben-Unten-Kategorien. Der Staat ist oben, die Massen unten. Dieses Denken legt in der Staatsanalyse den Funktionalismus nahe, das heißt die Mechanismen des Staates werden unter der Frage analysiert, »wozu« sie in der kapitalbeherrschten Gesellschaft dienen. Sie dienen natürlich der Niederhaltung der Massen. Die Idee, dass dieser Staat der Staat der Massen selber sein könnte, wird von Agnoli vehement zurückgewiesen. Der Funktionalismus der Analyse legt wiederum die Annahme der »Manipulation« der Massen durch die Staatsakteure nahe. Unschuldige Massen!
An dieser Stelle sieht man deutlich, wie, als der Sturm nicht mehr blies, das Denken nicht nur Agnolis entschlief. Vom allzu kruden Manipulationsgedanken konnte sich die westdeutsche marxistische Intelligenz zwar rasch distanzieren. Aber da sie seine Grundlage, den Funktionalismus, weiter in Ehren hielt, war praktisch nichts gewonnen. Der Staat sah nach wie vor so aus, wie ihn ungefähr schon die Bürger analysiert hatten, nur dass man ihn theoretisch und praktisch ablehnte. Sich an ihm zu beteiligen, diese »institutionelle Methode«, wie man grotesk formulierte - als könnte es eine andere Politik geben, eine Politik an den Institutionen vorbei -, wurde schon für gleichbedeutend mit der Niederlage gehalten.
Nur eine Minderheit entsann sich der ganz anderen Staatsanalyse Antonio Gramscis, der sich die Frage, wie sich Kapitalherrschaft und Parlamentarismus vertrugen, lange vor Agnoli gestellt hatte - während eines Sturms, der ihn zuletzt in Mussolinis Gefängnis brachte. Laut Gramsci beschränkt sich das Kapital nicht darauf, mit den Staatsapparaten zusammenzuarbeiten, sondern es spaltet die Massen selber, spielt Arbeiter und subalterne Mittelschichten gegeneinander aus. Es ist bezeichnend, dass Letztere in Agnolis Analyse überhaupt nicht vorkommen. Manche, die von Gramsci aus weiterdachten, sahen bald ein, dass der Integrationserfolg des Staates aus einer Blockade der Massen selber herrühren muss, eben aus der Tatsache, dass sie in sich selber gespalten sind. Und sie suchten die Sinndimension dieser Spaltung zu begreifen. Die Lösung sahen sie nicht in einer »Gegenmanipulation« des Staates, wie Agnoli sich ausdrückte, sondern in einem anderen Diskurs, dem die Fähigkeit zur Auflösung der Spaltungsdiskurse eingeschrieben war. Wäre er, so glaubten sie, vorhanden gewesen, hätte er sehr wohl auch eine Parlamentspartei wie die Grünen vor der Gehirnwäsche bewahren können.
Aber diese Minderheit dachte nur für die Schublade, eben weil kein Geist wehte und schon gar nicht stürmte von der Geschichte her. Man sieht es an der PDS. Seinen Auftritt dort hätte Agnoli sich sparen können. Da mag passieren, was will, es tritt gestern wie heute ein Gregor Gysi auf und verkündet die Notwendigkeit des Regierens mit der SPD zusammen, deren »Transformation« von Agnoli schon 1968 in allen Einzelheiten beschrieben worden war. Dreht der sich jetzt im Grabe um? Nein, warum sollte er - er lacht.
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