Durch die Debatte um den Einsatz der Bundeswehr, dem die Unionsführung in letzter Minute zustimmte, entging ein anderes Manöver fast der öffentlichen Aufmerksamkeit: Vorstand und Präsidium der CDU gaben die »Neue Soziale Marktwirtschaft«, den von Frau Merkel vorgelegten Programmentwurf, zur parteiinternen Beratung frei. So ist die CDU-Vorsitzende ihrem Ziel näher gekommen, bis zum Jahresende die Programmgrundlagen der Kohl-geschädigten Partei zu klären, damit anschließend ein Kanzlerkandidat ausgerufen werden kann. Ob es die Partei oder ihre Vorsitzende voranbringt? Zunächst einmal ist die Öffentlichkeit im Vorteil. Sie darf sich über die Statur dieser Vorsitzenden informierter, ja fast schon definitiv informiert fühlen. Das Ergebnis ist für Angela Merkel nicht schmeichelhaft.
Aus dem Papier spricht zwar eine durchaus ernsthafte Suche nach politischer Orientierung. Man hätte wirklich gern eine Antwort auf die Frage, die in der Einleitung aufgeworfen wird: Ist die Soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards mit der Globalisierung vereinbar? Damit fragt die Vorsitzende wie viele Linke in diesem Land, ob der Rheinische Kapitalismus nicht daran scheitern muss oder schon gescheitert ist, dass die transnationalen Konzerne handlungsfähiger sind als die Nationalstaaten. Man traut seinen Augen kaum, wenn man liest: »Das Kapital fängt an zu wandern und plötzlich werden Werte absolut gesetzt, die früher ethisch bedingt und begrenzt waren: die Dividende am Ende des Jahres, der Aktienkurs und der Börsenwert.« Deshalb, so heißt es, »braucht die Welt eine internationale Ordnung des Wettbewerbs«. Als Antwort auf jene Frage ist das schlüssig: wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet zum Berg kommen. Man sieht also nicht länger zu, wie Erhards Rheinische Sozialordnung von globalen Prozessen zersetzt wird, sondern erhardisiert umgekehrt die globalen Prozesse.
Aber diese Antwort ist nur ein Blickfang. In der Einleitung darf Frau Merkel ihre guten Absichten bekennen. In der Ausführung wird das Gegenteil untergeschoben. Die Autoren des Papiers schlagen vor: »Abbau gewerblicher Zölle«, »Handelserleichterungen«, »weitere Liberalisierung«, »Finanzsicherheit« für »global agierende Investitionen«. Gleichzeitig warnen sie: »Der Wettbewerb in Schlüsselmärkten« der EU »darf nicht unter dem Vorwand der Daseinsvorsorge vertraglich ausgeschlossen werden.« Deregulierung also. Es ist schon witzig, ein solches Programm unter Ludwig Erhards Namen serviert zu bekommen. Ob die Autoren wirklich glauben, dass man die kleine Verwechslung nicht bemerkt? Die »internationale Ordnung«, von der die Einleitung spricht, ist eine Erhardsche Ordnung. Die Ausführung gibt sich damit zufrieden, nur überhaupt eine Ordnung zu präsentieren, und zwar die des Rechts auf Eigentum. Dieses soll nicht nur unantastbar sein, sondern sich hemmungslos entfalten können - ohne Sozialbindung!
Gunnar Uldall, der wirtschaftspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, erklärte es im Februar den Welt-Lesern: Gewiss habe Erhard empfohlen, der Staat solle sich »einmischen, wenn soziale Schieflagen auszugleichen sind«. Aber sein »Grundgedanke« sei ein anderer gewesen: der »Freiraum für Unternehmer und Bürger« habe vergrößert werden sollen. Denn dann wachse das Bruttosozialprodukt - und »umso mehr kann ausgegeben werden für sozial Schwache«. Die neoliberalen Propagandisten meinen also, der Markt als solcher sei der »Grundgedanke« dessen, was Soziale Marktwirtschaft heißt. Dieser Grund werde vernebelt, wenn man auf dem Sozialen herumreite.
Das für Angela Merkel Peinliche ist, dass einer wie Uldall sie lobt, und zwar so: »Anerkennend kann man nur hinzufügen, dass das eine Physikerin sagt, die im Sozialismus aufgewachsen ist.« Hat sie gesagt, Erhards Soziale Marktwirtschaft sei als Marktwirtschaft pur zu erneuern? Es ist wohl egal, was sie sagt. Schlimmer noch, sie merkt gar nicht, was gespielt wird. Oder muss gute Miene zum bösen Spiel machen. Der von ihr vorgelegte Programmentwurf ist im Auftrag einer Kommission ausgearbeitet worden, in der auch der Niedersachse Wulff und andere Neoliberale sitzen. Wer mag dafür gesorgt haben, dass mit der Ausarbeitung eine Unternehmensberatung beauftragt wurde? »Die Perspektive der Unternehmensberater setzt sich immer wieder durch«, höhnt selbst die Frankfurter Allgemeine: Wenn Soziale Marktwirtschaft heute angeblich darin bestehe, Bürger für Gentherapie und Ähnliches fit zu machen, »hätten Adenauer mit Nylon und Schmidt mit der Teflonpfanne werben müssen«.
Wenn schon die eigenen Sozialausschüsse gegen den Entwurf Sturm laufen, wird dieser Entwurf weder Merkel noch die Partei voran bringen. Gerhard Schröder hat leichtes Spiel. Und das ist letztlich das Interessante: Die Kräfte, die in der Union den Ton angeben, drängen offenbar nicht primär ins Kanzleramt. Weil sie es in guten Händen wissen? Die neoliberale Offensive ist ihnen jedenfalls wichtiger.
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