Gestern am Sonntag Abend konzertierten Christoph Eschenbach und das Konzerthausorchester Berlin. Das Konzert begann mit Joseph Haydns Sinfonie Nr. 21 A-Dur, die ich noch nicht kannte. Eine von Haydns recht frühen Sinfonien, 1772 entstanden, nett anzuhören; was sehr stark auffiel, war die Ähnlichkeit des Menuettsatzthemas mit demjenigen von Mozarts Kleiner Nachtmusik, 1787. Fünfzehn Jahre dazwischen, da wird man zunächst nicht glauben, Mozart könne auf Haydn Bezug genommen haben. Ich lese aber bei Wikipedia, dass eine andere Variante desselben Themas auch im Menuettsatz von Haydns Streichquartett op. 20 Nr. 4 erscheint, das ist 1774 entstanden. Mozarts „Haydn-Quartette“, in denen er sich die Errungenschaften, die Haydn in der Entwicklung seiner Streichquartette nach und nach erreicht, zu eigen macht und kommentiert, wurden zwischen 1782 und 1785 komponiert, nicht viel früher also als die Kleine Nachtmusik. Sie sollen zwar mehr von Haydns Quartetten op. 33 inspiriert gewesen sein, doch hat Mozart sicher auch die früheren Quartette gekannt und kann ihm nicht verborgen geblieben sein, dass Haydn gerade mit den Quartetten op. 20 die Schwelle zu seiner eigenen neuartigen Musiksprache überschritten hat. Und damit zur Erfolgsgeschichte der deutschen klassischen und romantischen Musik überhaupt. Ich kenne op. 20 recht gut, doch im Menuett von op. 20,4 das Menuett der Sinfonie Nr. 21 wiederzuerkennen, wäre mir wohl nie gelungen, auch wenn ich die Sinfonie gekannt hätte. Aber wir reden ja von Mozart.
Das zweite Stück des Abends war das Concerto Noir Redux, Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 von Christian Jost (geb. 1963), eine Uraufführung. Der Auftrag war vom Konzerthaus Berlin aus Anlass von dessen 200. Jubiläum ergangen, es kam aber so, dass Jost etwas ganz Anderes zu reflektieren hatte, „die Heftigkeit, mit der die Covid-19-Krise alle überrascht und getroffen hat“, so die Programmankündigung. Er selbst sagt von seinem Werk, es sei „eine einsätzige organische Struktur, die von drängenden rhythmischen Zellen geprägt ist, bei der sich ständig das Eine in das Andere ergibt, und die mit nur einer Tempoangabe versehen ist: Viertel 76 espressivo“. Man hört der Musik diese Gleichförmigkeit nicht an, wohl aber einen Grundcharakter ständigen Vorangetriebenseins ins Dunkle, unterbrochen allerdings von einer Phase, man könnte sagen von Caféhausmusik, als Erinnerung an „normale“ Zeiten. Die Musik ist tonal und überhaupt recht konventionell, erlaubt aber dem Violinisten – Christian Tetzlaff -, seine Virtuosität zu zeigen. Der Titel Concerto Noir Redux ist aus Wörtern dreier Sprachen zusammengesetzt, das dritte ist englisch und bedeutet „wiederbelebt“. Noir ist bei mir angekommen, die Wiederbelebung eigentlich nicht.
Vor allem das Bild, das diese Komposition bot, deutete nicht auf einen Umschlag vom Schlimmen zum Besseren. Ja, sie war aufs Sehen angelegt, denn in diesem Fall war das Podium noch viel leerer als die Reihen der Zuschauerinnen. Ich habe schon erzählt, dass von denen jede zweite unbesetzt bleibt und in den besetzten Reihen zwischen jedem Paar / jeder Einzelperson und dem / der nächsten zwei Plätze unbesetzt sind. Dass man dennoch während der Musikdarbietung die Gesichtsmaske zwar abnehmen darf, sie vorher aber, obwohl der Mindestabstand gewahrt ist, aufbehalten muss, gehört zu den vielen Geheimnissen der Corona-Zeit. (Hingegen dass es in Flugzeugen keinen Mindestabstand gibt, verstehe ich natürlich. Denn die werden ja nicht staatlich betrieben, sondern mehren das Kapital, auf nicht sehr ökologische Art nebenbei, aber was soll’s.) Ich gehörte zu den Besucherinnen, die um 19:20 Uhr zu erscheinen hatten, vierzig Minuten vor Konzertbeginn, und saß also während dieser Zeit mit Maske im Saal. Aber wie gesagt, auf dem Podium war’s noch krasser. Wenn ich richtig gezählt habe, gab es von der Mitte nach rechts und im hinteren Bereich neben dem Solisten vier weitere Violinen, zwei Bratschen, zwei Celli, zwei Kontrabässe, vier Bläser und ein Piano. Links vorne wie gesagt gar nichts. Zum Verständnis der Covid-19-Krise hat der Abend, was mich angeht, trotz allem nichts beigetragen.
Drittens und letztens war die achte Sinfonie Ludwig van Beethovens zu hören, F-Dur op. 93, entstanden 1811/12 praktisch gleichzeitig mit der Entstehung der Siebten. Damit sind wir also beim Schwerpunkt des diesjährigen Musikfests angelangt, das den 250. Geburtstag des großen Komponisten in Erinnerung ruft. Ich werde in späteren Einträgen noch auf seine Fünfte und die letzten sechs Klaviersonaten zu sprechen kommen. Wie ich schon sagte, zieht sich eine Gesamtaufführung aller 32 Klaviersonaten durch das Festival, gespielt von Igor Levit, und ich kann nur empfehlen, sich die Abende mit diesem hervorragenden Pianisten im Internet anzuhören, unter Musikfest on Demand, die nächste Gelegenheit bietet sich vom 9. bis 12. September jeweils 16 Uhr. Hier mit der achten Sinfonie einzusteigen, war gar nicht so einfach, denn sie war immer diejenige, die mich am wenigsten interessiert hat, und das ging wohl nicht nur mir so. Sie ist „die einzige, die keine Widmung trägt“, lese ich in einem 1960 erschienenen Konzertführer (von Gerth-Wolfgang Baruch). „Sie ist auch die einzige, die von Anfang bis zu Ende froher Laune ist. Aber diese ungetrübte Heiterkeit hat nichts mit oberflächlicher Unterhaltung zu tun. Beethovens Humor entspringt seiner spekulativen Weltanschauung.“ Was heißt das? Wie ich Wikipedia entnehme, schreibt der Musikwissenschaftler Harry Goldschmidt, die Sinfonie sei „vielverkannt, weil viel zu vordergründig verstanden“. Das war schon bei der Uraufführung so, in der sie allerdings darunter litt, der Siebten und weiteren Beethoven-Kompositionen angehängt worden zu sein. Das war eine Überforderung des Publikums, wie auch die Presse damals urteilte. Beethoven selbst ärgerte sich, dass die Siebte besser angekommen war als die Achte, die, wie sein Schüler Carl Czerny berichtet, seiner Ansicht nach „viel besser ist“.
Das Gute an so einem Musikfest ist, dass man solchen Dingen, die einen bis dahin nicht weiter interessiert haben, einmal nachgeht. So habe ich die Achte neu angehört, im Konzert und nach dem Konzert, und fand, dass in dieser Musik die Revolution zu hören ist. Das zu sagen mag richtig oder falsch sein, ist aber jedenfalls keine Plattheit, wenn man nur bedenkt, dass im vierten Satz der Fünften ein napoleonisches Marschlied das Thema abgibt, so dass bei deren Uraufführung anwesende Grenadiere erfreut „C'est l'empereur!“ ausgerufen haben sollen. Ich habe zunächst nachgeschaut, in was für eine Zeit das Komponieren der Achten fiel. 1811 und 12: Am 24. Juni 1812 beginnt Napoleons Russlandfeldzug. Dachte Beethoven, der Endsieg stehe damit bevor? Denn Napoleon erging es wie später Hitler (mit dem ich ihn ansonsten natürlich in keiner Weise vergleiche), dass er in Russland zunächst siegte und siegte. Am 6./7. Juli schreibt Beethoven den „Brief an die unsterbliche Geliebte“. Vom 14. bis 18. September brennt Moskau, das Napoleon zuvor kampflos eingenommen hatte. Er verlässt die Stadt am 19. Oktober, es ist der Anfang vom Ende seiner Herrschaft. Im Oktober beendet Beethoven die Komposition der Achten.
Es gibt hier vieles zu bedenken, was ich nicht weiß. Wie schnell kamen die Nachrichten an? Wie hat Beethoven die Achte komponiert: Vielleicht so, dass ein Grundkonzept ziemlich früh feststand, aber noch ganz am Ende neue Akzente hinzugefügt werden konnten? Bestimmt sind solche Fragen in der Literatur beantwortet worden, aber zwischen gestern und heute Abend konnte ich sie noch nicht einsehen. Mir kommt es jedenfalls so vor, als ergehe sich Beethoven in der Fröhlichkeit eines revolutionären Sieges, von dem er gerade noch annehmen konnte, er würde eintreten. Dazu muss man wissen, dass noch Marx einige Jahrzehnte später die Vorstellung einer „Weltrevolution“ hatte, die sich durch ein Revolutionsheer in Europa ausbreiten sollte; sein Vorbild war Napoleon. Er gab die Vorstellung auf, als die Waffentechnik extrem destruktive Züge anzunehmen begann. Die musikalische Spur von all dem, so scheint mir, ist ein erregendes Pochen, das sich mit Unterbrechungen durch die ganze Sinfonie zieht. Es entwickelt sich aus der Exposition des ersten Satzes heraus: Tam, tatatatam, tatatatam ... Rhythmisch nicht ganz unähnlich dem „Schicksalsmotiv“ der Fünften. Die Entwicklung der rhythmisch beherrschenden Figur der Durchführung aus einer Schlussfloskel der Exposition mag Beethoven einem Klavierkonzert von Mozart abgeschaut haben (ich trage noch nach, welchem). Wie sich dieser Satz entwickelt, bekommt er zwar nicht motivisch-thematisch aber gestisch eine Ähnlichkeit mit dem Scherzo der Neunten.
Der zweite Satz ist ein pausenloses gleichmäßiges Pochen, über dem das Thema tänzelt, man meint eine Uhr zu hören, ein Metronom vielleicht. Der dritte dann ein Menuett, behäbig, gravitätisch und mit unüberhörbarer Ironie, die man vielleicht auch dem zweiten Satz zuschreiben kann. Die „vulgäre“ Zeit im Unterschied zur revolutionären? Wenn es Ironie ist, dann aber gutmütige, eben als wenn auf den Sieg der Revolution schon zurückgeblickt werden kann. Im vierten Satz erneut das Pochen in Erregung, wie sie den ersten Satz beherrscht hat, nun aber rhythmisch der Idylle des zweiten Satzes ähnelnd. Das Ende ist triumphal – Beethoven ahnte noch nicht, wie ganz anders er mit der Neunten auf die Revolution würde zurückblicken müssen.
Mir bekannte Aufnahmen, die das Erregend-Revolutionäre in der Musik, wenn man sie so hört, transportieren, sind die der Hanover-Band und von Roger Norrington. Und Eschenbach? Freute sich über den zweiten Satz so sehr, dass er ihn wiederholte.
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