Selten macht sich ein Beschluss als Lüge offenkundig, schon wenn er zur Welt kommt. Die "Agenda 2010" ist so ein Fall. Denn während der Ausdruck suggeriert, es ginge um die Festschreibung von Zielen für sieben Jahre, ist schon bei der Beschlussfassung erläutert worden, dass nur ein Büchsenöffner für noch armseligere Speisen in allernächster Zeit gemeint ist. Es sei ein "langer Weg, den wir mit der Agenda erst einschlagen", sagte Gerhard Schröder. Von einer "Agenda" kann gar keine Rede sein, nur von einer Gehirnwäsche. Die Philosophie des Selbstlaufs der sich neoliberal beschleunigenden Geschichte soll in den Köpfen verankert werden. Dabei wäre eine "Agenda 2010", die den Namen verdient, nicht nur notwendig, sondern auch möglich.
Schröders Versuch, seine Schein-Agenda als alternativlos hinzustellen, war und ist lächerlich. Die arbeitenden Menschen könnten die Last des Sozialstaats in seinem gegenwärtigen Umfang nicht mehr tragen, argumentiert er. Dabei ist stillschweigend unterstellt, nur diese Menschen und keine anderen kämen als Sozialgepäckträger in Frage. Warum denn? Warum soll der Sozialstaat nicht von allen finanziert werden? Die Unterstellung ist schon selber eine Lüge, denn wenn es Schröder wirklich darum zu tun wäre, die Last der Arbeitenden zu mindern, würde er nicht den minimalen Beitrag senken, den stinkreiche Unternehmer bisher leisteten, so dass der Beitrag der Arbeitenden noch erhöht werden muss.
Zu diesem Raubzug gibt es sehr wohl Alternativen. Schröders Gegenspieler Oskar Lafontaine braucht nur zwei Sätze, um auf eine Lösung dicht nebenan zu verweisen. In der Schweiz zahlen alle in die Rentenversicherung ein; da ist es kein Problem, jedem Pensionär mindestens 1.000, höchstens 2.000 Euro monatlich zur Verfügung zu stellen. Es wäre die Aufgabe der SPD gewesen, dieses Programm zur deutschen Regierungspolitik zu erheben. Der Bundesrat hätte nicht mitgespielt? Also wäre darum in allen folgenden Landtagswahlen gekämpft worden. Das hätte nur zum Verlust der Kanzlermacht führen können? Ja, eben: So wäre eine wahrhaftige "Agenda 2010" daraus geworden. Proklamierung des Schweizer Programms jetzt, Wahl- und Kanzlerniederlage 2006, vier Jahre siegesgewisse Oppositionsarbeit und dann, 2010, der überwältigende Wahlsieg. Aber für so eine Agenda ist die SPD nicht zu gewinnen, wie der Sonderparteitag wieder zeigte. Als Schröder die Möglichkeit seines Rücktritts, damit des Macht- und Pfründenverlusts der SPD nur andeutete, kuschten die allermeisten Kritiker. Der Zustand der SPD-Linken trat in der Differenz der Abstimmungsergebnisse hervor. Ein Drittel der Delegierten stimmte gegen die Skandale der Schein-Agenda, als sie einzeln aufgerufen waren. Da zeigten sie Flagge. In der Endabstimmung dachten sie an die Regierungsmacht, da waren es nur noch zehn Prozent. Flagge gehisst, Flagge verbrannt. Wer in diese Partei Hoffnung setzt, ist dem noch zu helfen?
Wenig nützt es zwar, das immer wieder zu sagen. Es werden auch künftig Menschen und koalitionswillige Parteien auf die SPD hereinfallen. Doch die Notwendigkeit einer wahrhaftigen "Agenda 2010" bleibt bestehen. Wenn die SPD sie nicht formulieren und vertreten will, drängt sich die Frage nach einer neuen Partei auf. Dass deren Zeit gekommen sein könnte, dafür spricht Einiges. Neue Parteien können zwar nicht schon deshalb entstehen, weil irgendwelche richtigen Ideen auftauchen. Aber eine Konstellation wie heute, in der die SPD sich so offenkundig an den eigenen Grundüberzeugungen versündigt, ist schon parteigründungsverdächtig. Die Frage, ob alle oder nur die Arbeitenden für den Sozialstaat zahlen sollen, ist klar genug, um allein schon eine Abspaltung von der SPD zu tragen, die im Jahr 2006 mehr als fünf Prozent der Wähler überzeugt. Das war am Abend nach dem Sonderparteitag, als Lafontaine das Schweizer Modell bei Sabine Christiansen vortrug, mit Händen zu greifen: Nicht einmal Laurenz Meyer von der CDU fiel eine Gegenrede ein, aber die Grüne Katrin Göring-Eckardt und sogar Jürgen Möllemann stimmten sofort zu; Frau Christiansen konnte nur in ein anderes Thema flüchten.
Was soziale Gerechtigkeit wäre, lässt sich offenbar präzise sagen und leicht operationalisieren. Es käme noch das Friedensthema hinzu, weil heute immer klarer wird, dass Schröder die neue NATO-Doktrin eben doch billigt: Auf deren Boden hat er sich mit US-Präsident Bush gestritten, ob der Fall Irak ein UN-Regelfall oder ein angeblich legitimer NATO-Ausnahmefall sei. Die Menschen warten auf die sozialstaatliche wie auf die friedenspolitische Klarstellung. Und auch manche Parteien. Gäbe es nämlich die neue Partei, wüssten Grüne und PDS endlich, dass es kein Naturschicksal ist, sich mit der SPD verbünden zu müssen. Die SPD selber wäre nach 2006 Oppositionspartei und somit zur Erneuerung gezwungen.
Wann hat eine Partei die Chance, schon im Entstehungsprozess durch einen wie Lafontaine medienpräsent zu sein? Das feige Gerede von seiner Untauglichkeit sollte endlich aufhören. Viele sehen ihre jeweils höchsten Ideale in ihm nicht verkörpert. Aber wie weit würde allein das Schweizer Modell führen. Andere tragen ihm seinen Rücktritt vor vier Jahren nach. Aber der hängt mit dem zusammen, was heute die neue Partei erforderlich macht. Lafontaine trat zurück, als Schröder gesagt hatte, man könne Deutschland nicht gegen "die Wirtschaft" regieren. In diesem Satz war das Programm enthalten, dessen vorläufig letzte Blüte am Sonntag zur Abstimmung stand. Denn natürlich ist eine Durchsetzung des Schweizer Modells nur im Kampf gegen diejenigen möglich, die nicht einmal das Dosenpfand hinnehmen. Und natürlich muss Schröder, wenn er den Kampf scheut, einseitig die Arbeitenden belasten. An der Auseinandersetzung mit "der Wirtschaft" führt also nichts vorbei - und man täusche sich nicht: Sie wird desto gefährlicher, je mehr man sie aufschiebt.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.