Die Bewegung gegen den Rassismus wird stärker. Zuletzt demonstrierten 35.000 am vorigen Samstag in Hamburg, über 20.000 gestern in München. Noch sehr viel mehr Menschen werden zur zentralen Kundgebung in Berlin am 13. Oktober erwartet. Sie steht unter dem Motto „Solidarität statt Ausgrenzung – für eine offene und freie Gesellschaft (#unteilbar)“. Wenn man die Liste der Unterzeichner ihres Aufrufs studiert, stellt man fest, dass sie die Namen der beiden Vorsitzenden der Linkspartei, Katja Kipping und Bernd Riexinger, schon seit geraumer Zeit enthält, Sahra Wagenknecht aber noch nicht unterzeichnet hat. Das hat an und für sich gar nichts zu bedeuten. Von den grünen Parteiführern zum Beispiel hat bisher nur der Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter unterschrieben, seine Auffassung wird aber ganz sicher von seiner Kollegin Katrin Göring-Eckart geteilt, denn ihren Namen findet man unter dem Aufruf zur Hamburger Demonstration. Und doch würde Wagenknechts Unterschrift ein wichtiges Signal setzen, zumal die Klarheit des Satzes, der im Aufruf von #unteilbar formuliert ist: „Wir lassen nicht zu, dass Sozialstaat, Flucht und Migration gegeneinander ausgespielt werden“, im Gründungsaufruf der von ihr initiierten Bewegung #aufstehen seinesgleichen nicht hat.
Es ist überhaupt interessant, die beiden Aufrufe zu vergleichen. Dass sie sich inhaltlich unterscheiden, kann man eigentlich nicht sagen. Beide treten für einen Sozialstaat, der den Namen verdient, und gegen den Rassismus ein. Sie sind also beide zustimmungsfähig. Ihre Akzentsetzung ist aber doch sehr verschieden. Der Text von #aufstehen befasst sich zu gefühlt 95 Prozent mit der Sozialstaatsfrage und den Bestrebungen des deutschen Kapitals, während vom Rassismus nur sehr am Rand und in einer nicht ganz unproblematischen Begründungskette die Rede ist. Diese geht vom Verständnis dafür aus, dass, nachdem der Sozialstaat eh schon in der Krise sei, „die Flüchtlingsbewegung zu zusätzlicher Verunsicherung geführt“ habe. Der nächste Satz spricht von den rassistischen „Übergriffen“, es soll also offenbar gesagt werden, dass der Rassismus sich aus der sozialstaatlichen Verunsicherung erkläre. Darauf folgt das antirassistische Bekenntnis, das aber, kaum ausgesprochen, zum Anti-Merkel-Bekenntnis wird: „Gerade deshalb“ – weil wir den Rassismus ablehnen – „halten wir die Art und Weise, wie die Regierung Merkel mit den Herausforderungen der Zuwanderung umgeht, für unverantwortlich“. Etwas mehr Klarheit an dieser Stelle wäre wünschenswert gewesen, denn man hat schon Anhänger von #aufstehen sagen hören, Merkels erste „unverantwortliche“ Handlung sei die Aufnahme der Asylsuchenden gewesen, die 2015 vor der bayerischen Grenze standen.
Insofern als #unteilbar nicht von der Sozialstaats- auf die Rassismusfrage, sondern genau umgekehrt von der Rassismus- auf die Sozialstaatsfrage kommt, sind die Aufrufe einander diametral entgegengesetzt. Der Aufruf #unteilbar stellt eingangs eine „dramatische politische Verschiebung“ fest: „Was gestern noch undenkbar war und als unsagbar galt, ist kurz darauf Realität. Humanität und Menschenrechte, Religionsfreiheit und Rechtsstaat werden offen angegriffen. Es ist ein Angriff, der uns allen gilt.“ Er gilt in der Tat auch den schlechtestgestellten Hartz IV-Empfängern. Die gehören aber durchaus zum Thema. Nachdem der Aufruf klargestellt hat, dass „Sozialstaat, Flucht und Migration“ nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, fokussiert er die „Schwäche“ des Sozialsystems. Pflege und Gesundheit, Kinderbetreuung und Bildung, die Wohnungsnot, überhaupt die Verarmung und „einer der größten Niedriglohnsektoren Europas“, nichts wird vergessen. „Die Umverteilung von unten nach oben wurde seit der Agenda 2010 massiv vorangetrieben.“ Aber worin besteht der Zusammenhang von Sozialstaatsschwäche und Rassismus, wenn es falsch ist, das Zweite vom Ersten abzuleiten? Er besteht darin, dass Sozialstaatlichkeit und Antirassismus auf der grundsätzlichsten Ebene, derjenigen der Weltgesellschaft, ein und dasselbe sind.
#unteilbar ist der bessere Ansatz
Deshalb der Name „#unteilbar“. Eine deutsche solidarische Gesellschaft ist in letzter Instanz nur als Element einer solidarischen Weltgesellschaft denkbar. Wer nicht für beide kämpft, verliert beide und steht am Ende mit leeren Händen da. Das wissen auch die Verfasser von #aufstehen, denn sie fordern dazu auf, die Fluchtursachen vor Ort zu beseitigen. Aber auch hier wäre mehr Klarheit geboten. Wie oft hat man von Anhängern Sahra Wagenknechts den Satz gehört, Deutschlands Grenzen könnten doch nicht „für alle“, „die ganze Welt“ geöffnet sein. Zu dieser Ansicht müsste explizit Stellung genommen werden, denn sie entspringt einer empirisch wie theoretisch falschen Fragestellung. Empirisch falsch ist sie deshalb, weil die beiden großen „Flüchtlingskrisen“, diejenige nach 2015 und vorher diejenige nach 1991, von aktuellen Kriegen ausgingen, der klassischen Asylsituation also, und daher kein Beginn einer unendlichen Zuwanderung waren. Dass „alle“ zu uns kommen könnten, war immer eine absurde Phantasie. Theoretisch aber steht die Frage so, ob wir die Grenzen „allen, die Anspruch auf unsere Solidarität haben“, öffnen oder nicht. Zu denen, die Anspruch haben, gehören selbstverständlich „alle“ Armutsflüchtlinge „der ganzen Welt“, solange wir keine hinreichende deutsche Aufbauhilfe für ihre Herkunftsländer erkämpft haben. Wer das nicht einsieht, ist daran zu erinnern, dass die westlichen Gesellschaften, und darunter Deutschland, am Elend der Welt nicht unschuldig sind.
Der Vergleich der Aufrufe führt zu dem Schluss, dass #unteilbar den eindeutig besseren Ansatz hat. Besser ist er auch deshalb, weil eine seit 2015 konstante große Mehrheit der Deutschen die Immigration begrüßt. Vor zwei Wochen erst wurde eine Umfrage veröffentlicht, der zufolge 71,5 Prozent der Herkunftsdeutschen dem Satz „Die aufgenommenen Flüchtlinge werden Deutschland kulturell langfristig bereichern“ „voll und ganz“ oder „eher“ zustimmen. Sogar dazu, weiterhin Flüchtlinge aufzunehmen, auch wenn Deutschland das einzige Aufnahmeland in der EU wäre, sind 60 Prozent der Herkunftsdeutschen bereit. Ist es dann nicht politisch am wichtigsten, diese Menschen offensiver zu machen, auch indem man über die Bedingungen ihrer guten Haltung spricht? Darüber eben, dass sie offensiv für die solidarische Weltgesellschaft eintreten müssten, als deren Bestandteil die solidarische Inlandsgesellschaft zu denken ist.
Um auf Wagenknecht zurückzukommen, spräche noch ein weiterer Grund für ihre Unterschrift unter #unteilbar. Denn man hat die Fraktionsvorsitzende so gelobt wie bedauert: #aufstehen zu initiieren war gut, schade nur, dass der Schritt nicht aus einer Bewegung hervorgehen konnte. Stattdessen musste versucht werden, eine solche herbeizureden. Jetzt ist aber eine neue Situation eingetreten, in der niemand soll sagen können: „Stellt euch vor, es gibt die Bewegung, und Wagenknecht geht nicht hin.“
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