Angeblich wollen Kanzler Schröder und Außenminister Fischer europäische Vorbehalte gegen einen Irak-Krieg koordinieren. Wenn sie das wirklich tun, werden sie auf ein Problem stoßen, das einen Namen hat: Großbritannien. In Kontinentaleuropa ist der Irak-Krieg nirgends populär, aber einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU müsste auch Großbritannien zustimmen, dessen Premier erklärt hat, er wolle den Krieg an der Seite der USA mitführen. Nun scheint es lediglich zwei Möglichkeiten zu geben: Entweder die EU (inklusive der Blair-Regierung) findet zu gemeinsamen lauen Erklärungen, die George Bush nicht als ernsten Widerstand gegen seine Kriegspläne zu betrachten braucht. Oder der Konflikt mit Blair wird offen ausgetragen und es kommt keine Einigkeit zustande; die EU hätte dann nicht einmal lau, sondern gar nicht gesprochen. Dieses Problem ist nicht neu. Es kann nur gelöst werden, wenn man seine Grundsätzlichkeit im Auge hat.
De Gaulles Veto
Großbritannien nimmt sich wie der US-Anwalt aus, der von innen und irgendwie auch von außen den Fuß in der europäischen Tür hat, so dass Westeuropa keine von Nordamerika unabhängige Identität gewinnen kann. Mit diesem Problem, das die EU jetzt hat, ist sie schon entstanden. Als ihr Vorläufer, die EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft), 1957 gegründet wurde, steuerte Großbritannien dagegen. Es begrüßte den Abbau der Zölle innerhalb der EWG, wollte sich aber auf die anderen Bestandteile des Gründungsvertrags, der letztlich auf westeuropäische Integration zielte, nicht einlassen. So bestand die EWG zunächst nur aus Italien, Frankreich, Deutschland und den Benelux-Staaten. Drei Jahre lang mühte sich London umsonst, die EWG zur Teilnahme an einer größeren europäischen Freihandelszone zu bewegen, dann, 1960, initiierte es die Gegenorganisation EFTA (European Free Trade Association); ihr gehörten außer Großbritannien die Schweiz, Österreich, Portugal, Norwegen, Schweden und Dänemark an. Das Projekt war wenig erfolgreich. Schon 1963 suchten die Briten deshalb um Mitgliedschaft in der EWG nach. Doch Charles de Gaulle verweigerte die Zustimmung. Ein weiteres Beitrittsgesuch schmetterte er 1967 ab.
In der Öffentlichkeit argumentierte Frankreichs Präsident mit der Schwäche der britischen Wirtschaft. Die wahren Gründe verriet er 1969 dem deutschen Kanzler Kiesinger: England gehöre den Amerikanern, wird er in den Akten des Kanzleramtes zitiert. "Die Engländer bedauerten dies vielleicht, aber sie hätten es nun mal während des Krieges angefangen, er habe es selbst gesehen, er sei ja da gewesen, als Churchill sich den Amerikanern unterstellt habe. Seither seien sie unter den Amerikanern." General de Gaulle hatte im Zweiten Weltkrieg die Truppen des Freien Frankreichs kommandiert und in dieser Eigenschaft 1944 an der Invasion in der Normandie teilgenommen. Die Briten, erklärte er ein viertel Jahrhundert später, "hätten ihre besonderen Beziehungen und meinten, diese seien für sie von Vorteil. Vielleicht seien sie das, aber dann sei es nicht möglich, mit den Engländern ein europäisches Europa zu schaffen, solange die Engländer so seien, wie sie seien."
Auf jeden Fall wollten die Briten der EWG nicht nur beitreten, sondern Frankreich die Führungsrolle in ihr streitig machen. "Willy, you must get us in, so we can take the lead", wandte sich George Brown, der britische Außenminister, 1967 an seinen deutschen Kollegen Willy Brandt. Als Brandt Kanzler geworden und de Gaulle abgetreten war, kam es schnell zum britischen Beitritt. Damals begann sich die französische Politik vor der ökonomischen Übermacht der Bundesrepublik zu fürchten und begrüßte Großbritannien als Gegengewicht. 1971 gab es das entscheidende Gespräch zwischen de Gaulles Nachfolger, George Pompidou, und dem britischen Premier Edward Heath. Die beiden verständigten sich darauf, "dass in der Praxis die Entscheidungen der Gemeinschaft einstimmig getroffen werden sollten, wenn die lebenswichtigen Interessen der Mitgliedstaaten auf dem Spiel stünden".
Blairs aparte Rolle
Dass es seitdem jedenfalls eine special relationship zwischen Großbritannien und seinen westeuropäischen Partnern gab, braucht kaum in Erinnerung gerufen zu werden. In den achtziger Jahren war Premierministerin Maggie Thatcher ein schwieriger Fall, nicht nur weil sie das System der Beitragszahlungen ändern wollte. Mehr wegen ihrer neoliberalen Pioniertaten im Geist der Chicago School.
In den neunziger Jahren bombardierte Großbritannien an der Seite der USA die irakischen "Flugverbotszonen". Und bis heute hat es den Euro nicht eingeführt. Es ist zweifellos nicht nur Westeuropa, sondern auch den USA "speziell" verbunden. Zwischen Westeuropa und den USA ist aber seit 1990 eine neue Lage entstanden, die sich auf die britische Rolle auswirkt. Bis zum Ende der UdSSR sah sich Westeuropa auf amerikanischen Militärschutz angewiesen. Als Gegenleistung verlangten US-Regierungen oft genug Gefolgschaft, ja Gehorsam von den Westeuropäern. Dieser Zusammenhang besteht heute nicht mehr. Die Folge ist, dass die Westeuropäer auch eine aparte Rolle Großbritanniens, die sich auf die Bedeutung des angelsächsischen Bruders für Westeuropa stützt, eigentlich nicht mehr goutieren müssen.
Welchen Grund sollte die EU noch haben, sich von Großbritannien ganz oder teilweise "amerikanisieren" zu lassen? Der objektive britische Bedeutungsverlust wurde vielleicht noch nicht überall bemerkt. Doch die Briten selbst werden ihn bemerkt haben; das mag sie veranlassen, immer einen kleinen Sicherheitsabstand zum Kontinent zu wahren, eine Fluchtdistanz. "Man kann ziemlich sicher sein", urteilt Joscha Schmierer in seinem Buch Mein Name sei Europa, "dass Großbritannien sich kaum auf den Beitritt zur EWG eingelassen hätte, wenn auf absehbare Zeit wieder mit einem ungeteilten Kontinent zu rechnen gewesen wäre."
Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist bis heute nicht recht vorangekommen. Daran ist natürlich nicht nur London schuld. Doch das Problem, das die britische EU-Mitgliedschaft aufwirft, könnte ein Gelingen der GASP auf immer verhindern. Wird die 1971 zwischen Großbritannien und Frankreich vereinbarte Einstimmigkeit der Beschlüsse je aufgegeben werden können, wenn "lebenswichtige Interessen auf dem Spiel stehen"? Das ist die Kernfrage. Es geht darum, dass nicht nur England, nicht nur Frankreich solche Interessen hat, sondern die EU im Ganzen. Im Vorfeld des Irak-Kriegs erkennt man leicht, dass es ihr "lebenswichtig" ist, mit einer Stimme zu sprechen, die nicht jedes Mal die Stimme Amerikas ist. Großbritannien muss das hinnehmen und zulassen, es kann nicht der Nabel der EU sein. Die Schlussfolgerung ist klar: Zu einer eigenen Stimme kommt die EU nur durch Mehrheitsentscheidungen gerade in den Weichenstellungen der GASP.
Es ist ja nicht etwa zu wünschen, dass die EU sich von Großbritannien befreit. Ganz im Gegenteil. Gerade weil Großbritannien den USA so nahe steht, kann seine EU-Mitgliedschaft eine gefährliche, auf lange Sicht kriegsgefährliche Rivalität zwischen Amerika und Europa verhindern helfen. Aber das setzt voraus, dass London nicht als amerikanischer Pfahl im europäischen Fleisch empfunden wird. Einen solchen würden sich die Kontinentaleuropäer früher oder später herausziehen. Als Minderheit und Mehrheit jedoch können Demokraten einander tolerieren, auch wenn sie nicht einer Meinung sind. Der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen kann wahrscheinlich selbst nur durch eine Mehrheitsentscheidung bewirkt werden. Wann, wenn nicht heute?
Gehört England den Amerikanern?
Geschrieben von
Michael Jäger
Redakteur (FM)
studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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