Gerhard Schröder, gestern noch als "Gewerkschaftskanzler" gescholten, ist schon wieder dabei, die neoliberale Schraube weiter anzuziehen. Seine Partei faselt nicht mehr von Vermögenssteuern, sondern folgt dem Kanzler maulend. Es läuft ja alles nach Plan: Dass er mit dem Leistungsabbau im Gesundheitswesen erst nach dem 22. September 2002 beginnen würde, war lange vorher bekannt; jetzt wird zur Tat geschritten. Andere Projekte wie die Unterbietung der Riesterschen Rentenpolitik wurden nicht angekündigt, liegen aber in der neoliberalen Logik. Auch die Union kann und will die Strategie nicht ändern. In Wildbad Kreuth wiederholte Edmund Stoiber sein Wahlkampfprogramm, das auf den verschärften Abbau des Steuer- und damit des Sozialstaats hinausläuft. Dem K
m Kanzler wurde Zusammenarbeit im Bundesrat angeboten, wo immer die Sache es erlaube. Auch Angela Merkel sprach sich dafür aus. Wie man leicht sieht, wird es zu dieser Zusammenarbeit auch kommen. Denn die politische Schnittmenge ist groß genug. Die Union wird wieder Mühe haben, sich der Umarmung des Kanzlers zu erwehren, der weiterhin alles daran setzt, ihr die neoliberale Show zu stehlen. Auf dieser Basis kann es ihm auch künftig fallweise gelingen, unionsgeführte Bundesländer gegeneinander auszuspielen.Erklärungsversuche des gleichförmigen Laufs von Regierungs- und Oppositionspolitik unter Schröder neigen oft dazu, etwas wie eine große Koalition am Werk zu sehen. Dagegen spricht aber zweierlei. Zum einen gibt es neben der Schnittmenge auch gravierende Differenzen zwischen Union und SPD, heute vor allem in der Außenpolitik. Was immer man von Schröders Standhaftigkeit beim Nein zum Irak-Krieg hält: Dass hier eine eher linke Friedenspolitik gegen eine eher rechte Politik der Stärke steht, ist sicher. Auch die Differenzen in der Frage des EU-Beitritts der Türkei spiegeln den Rechts-links-Gegensatz: Die Union spielt mit dem Feuer der Ausländerfeindschaft, die SPD nicht. In diesen Fragen wird nicht kooperiert. Die Zusammenarbeit findet wirklich nur fallweise statt, kommt also nicht als solche schon einer Koalition gleich. Zum andern zeigt der Blick über den deutschen Tellerrand in andere westliche Länder, dass die Konstellation von Kanzler und Bundesrat gar nicht so ungewöhnlich ist. Denn nicht nur der deutsche Kanzler muss in Kooperation und Konflikt mit einem anderen mächtigen Verfassungsorgan regieren, sondern auch der amerikanische Präsident und ebenso der französische. Ob sich nun der eine im Bundesrat oder der andere im Washingtoner Kongress durchsetzen muss, ob der dritte gar in "Kohabitation" mit der nationalen Regierung der Gegenpartei lebt, es sind Verhältnisse, die grundsätzlich ihren guten Sinn haben. Wer in ihnen nur die Gelegenheit zur Kungelei oder auch zur Blockade sieht, hat nicht begriffen, dass "checks and balances" in der Demokratie eine Tugend sind. Die Demokratie braucht nicht nur die Konzentration der Macht, sondern auch ihre Beschränkung. Es ist daher durchaus zu wünschen, dass ein Kanzler nicht auf Durchmarsch spielen kann, sondern die Hürde des Bundesrats nehmen und dabei die Politik der gesellschaftlich wichtigsten Gegner berücksichtigen muss. Die deutschen Wähler haben das eingesehen, sie geben immer wieder dem Verhältnis von Bundestag und Bundesrat den Charakter eines parteipolitischen Gegensatzes.Besonders interessant ist der Vergleich mit der französischen "Kohabitation". Da Frankreich nicht föderal verfasst ist wie Deutschland, steht dem politisch mächtigsten Mann, dem Präsidenten, nicht eine ganze Runde von Länder-Ministerpräsidenten gegenüber, sondern nur ein einziger nationaler Regierungschef. Der hat recht viel Gegenmacht, vorausgesetzt, er wird nicht vom Präsidenten als Parteifreund und Geschäftsführer, sondern von den Wählern als Präsidentengegner eingesetzt. So ist denn ein Ministerpräsident Jospin viel mächtiger als ein Ministerpräsident Stoiber. Gerade deshalb wurde die Kooperation, die natürlich auch Jospin und sein Präsident Chirac pflegen mussten, von den Franzosen schwerlich als Anzeichen einer herzensinnigen Koalition missverstanden. Wegen des unkomplizierten, leicht zu begreifenden Verhältnisses der beiden Instanzen leuchtete die funktionale Notwendigkeit der Kooperation unmittelbar ein. Das Verhältnis von Kanzler, Bundestag und Bundesrat in Deutschland ist für den Laien viel schwerer durchschaubar. Es ist dennoch ein Funktionsäquivalent der "Kohabitation".Dieser Unterschied ändert übrigens nichts daran, dass die mächtigere Instanz in beiden Ländern bei Wahlen die besseren Karten hat. In Frankreich hat vor Chirac schon Mitterand über den Ministerpräsidenten, mit dem er "kohabitieren" musste, obsiegt. In Deutschland mögen die Wahlchancen eines amtierenden Kanzlers durch alles Mögliche getrübt werden, kaum aber dadurch, dass die Wähler den Bundesrat der Gegenpartei auszuliefern pflegen. Paradoxerweise scheinen die Chancen eines deutschen Landes-Ministerpräsidenten, Kanzler zu werden, sogar größer zu sein als die Chancen des viel mächtigeren französischen Regierungschefs, Präsident zu werden. Denn der französische Herausforderer kann kaum eine neue Politik versprechen. Die Wähler kennen schon seine Praxis. Und sie werden durch seine Kandidatur weder überrascht noch aufgerüttelt. Der deutsche Landeschef dagegen - heute Roland Koch, gestern Edmund Stoiber, vorgestern Gerhard Schröder - muss erst einen Wettkampf bestanden haben, bevor man ihn zum Kanzlerkandidaten kürt. Und dann wird es ihm gelingen, sich das Aussehen eines unbeschriebenen Blattes zu geben.Wir sehen also, es gibt keinen Grund, die Kooperation der beiden großen deutschen Parteien als Anzeichen einer informellen großen Koalition zu werten. Dafür ist die Kooperation einerseits zu begrenzt und andererseits zu wenig erstaunlich angesichts der Notwendigkeit, sich in den "checks and balances" einer demokratischen Verfassung zu bewegen. Aber das alles erklärt nicht den neoliberalen Inhalt der Kooperation in Deutschland. Dieser hat mit Verfassungsfragen gar nichts zu tun. Es könnte ja auch sein, dass die Parteien eher in der Außenpolitik begrenzt kooperieren, während sie sich in Fragen des Neoliberalismus scharf widersprechen. Nein, der neoliberale Konsens folgt einem ganz anderen Muster. Der Neoliberalismus ist die Propaganda der Meinungsmacher. Es gibt kaum noch Gegenpropaganda für einen gezähmten Kapitalismus und schon gar nicht für eine grundsätzlich andere Gesellschaft. Politiker aber sind Menschen, deren Stärke im Aufgreifen, nicht im Erfinden von Ideen besteht. Immer wenn sich die Krise der Gesellschaft verschärft, profilieren sie sich, indem sie die vorhandenen Ideen als ihre eigenen Vorschläge vortragen. Was soll dabei schon herauskommen, wenn es im wesentlichen nur eine Sorte von Ideen gibt? Ob Gabriel oder Stoiber, Schröder oder Koch, das Parteibuch spielt gar keine Rolle mehr. Jeder arbeitet spontan der herrschenden Propaganda entgegen. Dabei läge die Frage so nahe, ob die Krise der Gesellschaft nicht gerade daher rührt, dass nun schon seit Jahrzehnten Schritt um Schritt neoliberal "reformiert" wird. Ist es immer noch nicht genug - oder schon viel zu viel? Die Frage niederzuhalten, wird den Propagandisten nicht auf ewig gelingen.
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