Immer wieder fragen sich die Grünen, ob der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann mehr das Parteiprogramm oder die berühmte Mitte der Gesellschaft repräsentiert – so auch bei der Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) am vergangenen Wochenende in Hamburg. Sie müssen manchmal zweifeln, ob er noch ein gut sichtbares grünes Etikett ist, bei dem „draufsteht, was drin ist“. Es war deshalb eine spannende Frage, wie die BDK mit Kretschmanns Asylpolitik, seiner Ablehnung der rot-rot-grünen Koalition in Thüringen und – das war besonders interessant – seinem Postulat, die Grünen müssten sich als Wirtschaftspartei aufstellen, umgehen würde.
Die ersten beiden Punkte wurden routiniert abgearbeitet. Der Beschluss zur Asylpolitik, dem auch Kretschmann zustimmen konnte, bezeichnet das neue Gesetz, demzufolge Serbien, Bosnien und Mazedonien nunmehr als sichere Herkunftsländer von Asylbewerbern gelten und diese daher ohne Weiteres abgewiesen werden können, als „in der Sache falsch“. Dass er es dennoch im Bundesrat passieren ließ, um kleine Erleichterungen für andere Asylbewerber zu erreichen, akzeptierte die BDK gleichwohl und behauptet in ihrem Beschluss, noch mehr Aufweichung des Asylrechts werde nun aber wirklich nicht hingenommen. Noch einfacher war es, die Politik der Thüringer Parteifreunde in Schutz zu nehmen. Hier brauchte nur die Beschlusslage bekräftigt zu werden, dass sich die Grünen keinem Koalitionszwang beugen, sondern für ihre Anliegen den jeweils besten Partner suchen. Vor diesem Hintergrund mag Kretschmanns Meinung eine Verführung für CDU-Wähler darstellen, sind aber auch kräftige Ausfälle gegen die Kohle- und Klimapolitik der SPD denkbar geworden, die zu Zeiten der rot-grünen Gefangenschaft kaum öffentlich vermittelbar gewesen wären.
Umbau als Revolution
Das Thema Wirtschaftspartei ist aber deshalb besonders interessant, weil die BDK hier weniger Stellung nahm (das tat sie explizit überhaupt nicht), als dass sie weiterführende konzeptionelle Antworten fand. Kretschmanns Postulat war lediglich Bestandteil eines Interviews der Tagesschau am Rande der BDK, in dem der Politische Geschäftsführer Michael Kellner gefragt wurde, wie die Partei Wirtschaftsinteressen und Umwelt miteinander versöhnen wolle. Tatsächlich hatte Kretschmann nicht nur sagen wollen, dass ökologische Ziele nur auf dem Weg des ökonomischen Umbaus erreichbar sind, wonach eine Ökologiepartei selbstverständlich Wirtschaftspartei sein muss. Er machte sich zudem für die Investitionsfreiheit der Unternehmer stark. Er hatte allerdings ergänzt, einen ökologischen Rahmen müssten sie sich schon gefallen lassen. Kellner nun gelang es, die Frage der Tagesschau ganz einfach mit der Aufzählung der Beschlüsse der BDK zu beantworten.
„Es gibt genügend Innovationsträger unter den Unternehmen, die zeigen, dass man auch mit ökologischen Ideen eine Wirtschaft voranbringen kann“, sagte er. „Auf der anderen Seite müssen wir aber auch klare Kante zeigen, wenn Firmen gegen eine ökologische Wende im Land stehen – wie etwa Monsanto, die Pestizide, Düngemittel und gentechnisch veränderte Pflanzen herstellen.“ Letzteres war ein Hauptthema der BDK. Fraktionschef Anton Hofreiter hielt dazu eine kämpferische, von den Delegierten gefeierte Rede. „Die Agrarwende hat ökologisch eine ähnliche Bedeutung, wie sie die Energiewende hat“, rief er. Wenn das der Rahmen ist, liegt Kretschmann ja gar nicht so falsch. Denn selbst wer sich den ökologisch-ökonomischen Umbau als eine Art Revolution vorstellt, muss sich doch fragen, von wo die umstürzenden Kräfte herkommen sollen. Die bolschewistische Revolutionsvorstellung hatte den Baustein enthalten, dass es chancenlos sei, sich dem Militär entgegenzustellen. Deshalb müsse dieses gespalten werden. Ebenso chancenlos wäre es heute, sich dem Unternehmertum als solchem entgegenzustellen, besonders wenn man es gar nicht prinzipiell verwirft. Nein, heute muss das Unternehmerlager gespalten werden. Es braucht eine streitbare ökologische Unternehmerfraktion, die sogar offen bereit ist, mit der Kapitallogik zu brechen. In diesem Sinn ist es richtig und notwendig, sich auf Wirtschaftsinteressen einzulassen.
Von einem konzeptionellen Fortschritt der Partei kann wegen der Bewältigung des leidigen Themas Veggie-Day gesprochen werden. Ob es wirklich das schlechte Abschneiden bei der Bundestagswahl mitverursacht hat, mag dahingestellt bleiben. Der wichtigere Grund war sicher, dass die Grünen ihre Spalten einer Unternehmerkampagne gegen die Energiewende geöffnet hatten, die angeblich die Stromkunden zu sehr belaste. Aber freilich, die Idee des fleischfreien Wochentags ließ sich da leicht als weitere Bosheit gegen die Verbraucher verkaufen. Nun sind die Grünen glücklicherweise nicht fortgefahren, sich immer nur zu entschuldigen. Michael Kellner hat die Haltung der BDK auf den Punkt gebracht: „Wir sind die Anwälte der Verbraucher, wir machen für sie Politik gegen Dreck im Essen – wie Gentechnik oder hormonverändertes Fleisch.“ Will sagen, der ökologisch-ökonomische Umbau setzt nicht bei der Moral der Verbraucher an, sondern bei dem, was die Unternehmen ihnen anzubieten wagen.
Was genügen soll
Schließlich hat sich die Partei auch gegen die Klimapolitik der Bundesregierung gewandt. Da sie forderte, die Emissionsziele müssten gesetzlich festgeschrieben werden, bestand auch da ein direkter, wenn auch unausgesprochener Bezug zu Kretschmanns Postulat der Wirtschaftspartei. Denn so ein Gesetz wäre ein rechtskräftiger ökologischer Rahmen der Investitionsfreiheit. Aber was ist ein Rahmen, der seinen Namen verdient? Die BDK verweist in ihrem Beschluss auf das Klimaschutzgesetz, das in Nordrhein-Westfalen dank der dortigen rot-grünen Koalition schon gilt. Wenn das genügen soll, sind wir noch nicht viel weiter gekommen. Zum Thema Umsetzung der Ziele heißt es dort nämlich nur, die Landesregierung sei verpflichtet, „ihre Handlungsmöglichkeiten zu nutzen“. Die Unternehmen werden zu nichts verpflichtet. Das ist kein Rahmen, der hält.
Kommentare 6
Die Analyse ist korrekt: Die Grünen haben sich längst zu einer Partei gewandelt, die die Rolle der Mehrheitsbeschaffer alternativ zur Option einer großen Koalition spielen wollen. Denn Grün/Schwarz ist, die einzige rechnerisch noch mögliche Option eines optischen Regierungswechsel auf parlamentarischer Bühne, der ja bereits seit der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder, der mit der liberalen Wendung der SPD einherging, kein wirklicher Politikwechsel mehr darstellt. Deshalb werden die Grünen, solange die Linke noch nicht durch die einseitige Dominanz des Liebich-Flügels erfolgreich soweit geschliffen ist, dass selbst ein moderater Schritt weg von der neoliberalen Agenda durch Rot-Rot-Grün ausgeschlossen ist, einfach alles mitmachen, was ansteht --- selbst im Kernbereich der Ökologie. Die SPD hat's ihnen mit ihrem Kernbereich des Sozialen ja vorgemacht.
Selbstverständlich werden die Grünen kein ernst zu nehmendes Hindernis für den Abschluss von Ceta, TTIP & Tisa darstellen. Sie werden auch der hegemonialen Durchsetzung von US-geschützten Marktinteressen der Agrarkonzerne, global auf den Verzehr von Grundnahrungsmittel Patentgebühren erheben und Landwirtschaftsflächen kontrollieren wollen, nachgeben -- und lediglich auf den Erhalt eines ökologischen Nischenfragments für die eigene gut verdienende Klientel bestehen.
Denn die marktgerechte 'Anpassung' der ökologischen Forderung wird unter Grün/Schwarz ebenso "alternativlos" werden wie die demontierte Sozialpolitk unter Rot/Schwarz.
Falls je wieder der deutsche Parlamentarismus durch eine neue Apo eine demokratische Revitalisierungsspritze erhalten wird, wird diese sich eine neue parlamentarische Platform prägen müssen. Denn die Grünen haben als eine Partei, die hegemonialen Kräften mal eine eigenständige politische Antwort entgegensetzen wollte, definitiv abgewirtschaftet.
" ... global auf den Verzehr von Grundnahrungsmittel Patentgebühren erheben und Landwirtschaftsflächen kontrollieren wollen ..." - ich nehme an, es soll heißen "zu wollen" - aber trotzdem verstehe ich diesen Satz inhaltlich nicht. Habe ich etwas versäumt hinsichtlich einer US-amerikanischen Offensive in Richtung Patentansprüche auf Verzehr von Grundnahrungsmitteln? Meinen Sie die bekannten Ansprüche aus Patenten von genmanipuliertem Getreide oder tatsächlich Ansprüche, die selbst darüber noch hinausgehen? (Inzwischen muss man ja aus dieser Richtung beinahe alles für möglich halten.) Und, da Ihr Text schon so sauber zusammenstellt, gegen welche Begehrlichkeiten wir uns dringend zur Wehr setzen sollten, erlaube ich mir, alphabetta, die Frage, ob Ihnen auch bereits US-Ansprüche auf Steuerung des Wetters dieser Welt bekannt sind. Ein heute auf "ORF.at" unter dem Titel "Geoengineering: Hightech-Tricks gegen Klimawandel" erschienener Artikel hat in seiner locker daherkommenden Neutralität in meinen Gedanken gleich zu schlimmsten Horrorvisionen geführt. - Nein, ich bin nicht paranoid, noch nicht ...
Kretschmann hat 30 Jahre gekämpft um dann , am Ziel angekommen , als BW-MP ALLE seine / unsere Ziele zu verraten .
Kretschmann rennt SO ins offene CDU- und SPD-Messer . Die von uns Wählern vom Hof gejagte fdp schleicht überall rum : Goll als " Sprecher für Justiz und Medien " und " Beauftragter für den Strafvollzug ", seinen Spezi Ex-Gefängnisdirektor Schlosser machte er zum GenSTA , seine fdp-Kollegen kriegen dank BverfG - Voßkuhle ( Karlsruhe / BW ) die tollsten Europ-Jobs . Als Kollateralschaden ( und Feindbild ) dürfen Rechtsradikale mit : Beide wären mit 5 % - Hürde draussen und DAS wäre der WählerWILLE ! BW hat 4 Kernkraftwerke , die größte Waffenproduktion und die meisten Selbstanzeigen von Steuerhinterziehern . Wo SOO viel Geld ist, sind auch Drogen-
und Menschenhandel und Korruption auf allen Ebenen . MP Winfried Kretschmann ist MITSCHULD !!! S. a. Goll , s.a. Johannes Riedl, Heidelberg , s.a. OB-Wahl Heidelberg mit 23% Wahlbeteiligung !
s. a. CDU-Mappus-Milliarden-Schaden mit Goll-Hilfe ! Ungesühnt !
Neues Denken
besteht nicht einfach darin, eben einmal eine neue Regierung zu bilden, durch welche Farbenspiele auch immer. Faule Kompromisse bei TTIP würden nicht nur die Schere zwischen Arm und Reich immer noch weiter öffnen, sie würden auch die verbale Solidarität der deutschen Grünen, mit den internationalen “Grünen“ Bewegungen und den Entwicklungsländern aushebeln.
Das (befürchtete) "Kretschmann-Politik-Prinzip“ mit TTIP-Akrobatik wäre gefährlich.
Wenn wir die Not in der Welt lindern wollen, dann müssen wir die Gen-Pflanzen-Patente entweder verbieten - z.B. um die Artenvielfalt nicht weiter zu gefährden - oder die Anwender, wie Gen-Technik-Farmer und deren Länder, müssten schadenersatzpflichtig gemacht werden für Schäden, die anderen Farmern und Verbrauchern durch Gentechnik entstehen. - Das aber wäre genau das Gegenteil von dem, was unsere Politiker mit TTIP derzeit global erzwingen möchten!
Eine grüne, ökologische, demokratische und soziale Antwort auf die derzeitige “Globalisierung“ unter "diesem unerträglichen Kapitalismus“ kann doch nur ein Gegenkonzept, eine faire Antwort auf "TTIP & TISA“ sein:
Ein neues globales System, welches den bestehenden menschenverachtenden Kapitalismus überwindet
Ein menschenfreundlicher Kapitalismus ist möglich. - Z.B. wenn er nicht mehr tötet - wenn er faire Lebensbedingungen schafft - wenn er die Schere zwischen Arm & Reich verringert.
Es wäre eine Illusion zu glauben, das wir die notwendigen politischen Entscheidungen blind den Politikern, den Parteien, der Wirtschaft und den Konzernen überlassen können. Das haben wir seit dem Mauerfall Jahr für Jahr beobachten können, dass diese Hoffnung nicht aufgegangen ist.
Gerechtigkeit ist: "das neue globale Gebot" - "die neue globale Politik“ - und "ein neuer globaler Rahmen".
Das sehe ich ähnlich, die Grüne hat so viel von ihren ursprünglichen Zielen inzwischen verraten, man muss nur sehen, wo Joschka Fischer inzwischen gelandet ist. Kopfschütteln.