Isolationsfolter

Musikfest 2020 Ein Filmabend mit Beckett – das war schon vor Corona geplant. Die Brücke von Beckett zu Beethoven ist dessen „Geistertrio“

Kaum glaublich, dass dieser „Film & Live“-Abend am Montag schon im ursprünglichen Musikfest-Programm, das während der Corona-Krise überarbeitet wurde, vorgesehen war – so sehr scheint es die mit ihr verbundenen Ängste zu spiegeln. Auch dass es im Zoopalast, einem der großen Berliner Kinos, stattfinden sollte statt wie bis dahin immer im Konzerthaus am Gendarmenmarkt, sowie dass die Musik nicht wie sonst von einem großen Orchester, sondern von einem einzigen Solisten bestritten wurde, stand da schon fest. Film & Live gehört seit 2016 dazu, es waren meistens Streifen aus der Stummfilm-Zeit, am Anfang hatte die Film-Oper Iwan Grosnij von Eisenstein und Prokofjew aus den 1940er Jahren gestanden. 2020 aber wird Samuel Beckett gezeigt, der in den 1970er und 80er Jahren einige Fernseh-Sendungen produziert hatte.

Die erste gezeigte Sendung, Not I (1973), hat gar nichts mit Musik zu tun. Man sieht einen weiblichen Mund in Großaufnahme ohne Umgebung – ganz selten wird auch das Kinn sichtbar -, der in rasender Schnelle, in einer Mischung aus Angst und Wut, spricht und spricht. Der Titel ist natürlich englisch zu lesen, also nicht „Not Eins“, sondern „nicht ich“. Wenn man will, kann man an die letzten Seiten von Becketts Roman Der Namenlose (1953) denken, weil da jedenfalls auch jemand ohne Punkt und Komma in unendlichem, inhaltlich nicht von der Stelle kommendem Sprechen sich ergeht, aber da ist noch Hoffnung, obgleich man sie lesend kaum nachvollziehen mag („man muss die Wörter sagen, bis sie mich sagen“); nicht so in Not I. Aber selbst wenn das ein Stummfilm wäre, würde der isolierte rasende Mund erschrecken. In den Gedichten René Chars, die Pierre Boulez vertont hat (Le marteau sans maître, 1952–1955), gibt es einen Vers, der auf deutsch „Weinende Augen suchen den bewohnbaren Wald“ hieße; das ist harmlos verglichen mit diesem Mund, der sich als verselbständigtes Gebiss gibt. Mit einer Geschichte irgendwo bei Baudrillard, die er erzählt oder erfindet, könnte man es eher vergleichen: Ihre Augen seien so schön, habe ein Liebender einer Frau gesagt, daraufhin habe die Frau ihm diese Augen als Geschenk überreicht.

Die zweite Sendung, Ghost Trio (1975/76), stellt Beckett in den Kontext des Hauptthemas dieses Musikfestes, denn der Titel bezieht sich auf Beethoven sogenanntes Geistertrio op. 70 Nr. 1 in D-Dur für Klavier, Violine und Cello (1808). Den Mittelsatz in d-moll hat Paul Bekker als „Offenbarung beethovenscher Schwermut“ gehört. Bei Beckett werden nur gelegentlich Stücke daraus von der Tonkonserve eingeblendet, manchmal nur kleine hart abgebrochene Brocken. Man sieht in einen nackten länglichen Raum hinein, der für eine Gefängniszelle zu groß ist. Fahles Licht, links eine große nackte Pritsche, rechts ein Mann, der auf einer kleinen Bank sitzt und sein Gesicht auf einen Holzblock presst, den er in Händen hält. Mit emotionsloser Stimme spricht eine Frau aus dem Off, als wollte sie erklären, sie erklärt aber nichts. Der Mann hebt manchmal seinen Kopf und öffnet neben seinem Sitz eine unvermutete Tür – der Raum hatte eintönig geschlossen ausgesehen. Doch hinter der Tür ist nur ein Gang, der nirgendwohin führt.

Natürlich ist das eine Anspielung auf Sartres Geschlossene Gesellschaft (1944), wo gleich von Beginn an klar ist, dass der auf der Theaterbühne gezeigte Raum zur Hölle gehört und zum ewigen Aufenthalt von Toten bestimmt ist. Auch dort wird einmal die Tür geöffnet, die man zwar deutlich sah, aber für verriegelt gehalten hatte – sie lässt sich leicht öffnen, führt aber ebenfalls nirgendwohin, so dass es keinen Sinn hat, den Raum zu verlassen. Allerdings wird er bei Sartre von drei Menschen bewohnt, die sich gegenseitig das Leben, wie man sagt, zur Hölle machen: „Die Hölle, das sind die anderen“, ist Sartres Resümee. Becketts Hölle indessen ist die absolute Vereinsamung, man könnte sagen die „Isolationsfolter“. Am Ende der Sendung, wenn der Mann wieder einmal die Tür öffnet, steht ein Anderer davor, aber nur um sich mit schlürfenden Schritten, das Auge auf den Zuschauenden gerichtet, zu entfernen. Auch ein unvermutetes Fenster wird mehrmals geöffnet, dahinter ist nur Schwärze. Am Ende ist man fast froh, wenigstens das Geräusch von Regen zu hören.

Die dritte und letzte Darbietung war MOVING PICTURE (946-3) von Gerhard Richter, dem bekannten Maler, und Corinna Belz für die Filmproduktion. 946-3 (2016) ist zunächst ein abstraktes Gemälde gewesen, eine Ähnlichkeit mit der Bildbewegung im Film als „neue Version“ der „Kyoto Version“ (2019/20) konnte ich nicht erkennen. Man sieht zunächst farbige waagerechte Streifen, aus denen allmählich eine Art Teppichmuster wird, zunächst kleinteilig, dann mit größer werdenden aber immer die Starrheit von Teppichfiguren wie auch deren Spiegelung ineinander beibehaltend. Ihre langsame unaufhörliche Veränderung quillt immer aus der Mitte nach beiden Seiten symmetrisch hervor. Die Figuren sind schwer entzifferbar, man kommt aber meistens nicht umhin, an menschenähnliche Körper, Gliedmaßen und Gesichtsfelder, manchmal mit Augen, zu denken. In ihrer kalten Fremdartigkeit und einem Farbenmosaik wie bei Schmetterlingen haben sie grauenerregend auf mich gewirkt – ja, so gern man Schmetterlinge früher gesehen hat (ich habe seit Jahren keine gesehen), weiß ich doch auch, dass sie mit ihren Farben ihre natürlichen Feinde abschreckten, für die sahen sie ekelhaft aus. Ihren größten natürlichen Feind, den Menschen, haben sie als solchen ja nicht erkannt. Dem Richter-Film gegenüber fand ich mich in der Position des Feinds der Schmetterlinge. Er entwickelt sich zuletzt zu dem zurück, womit er begonnen hatte, am Ende stehen wieder die waagerechten Streifen.

Der Film wurde live begleitet von Marco Blaauw mit Solotrompete und Elektronik zur Musik von Rebecca Saunders. Hier werfen wir zunächst einen Blick zurück auf das Konzert vom 11.9., wo er die Doppeltrichtertrompete solo gespielt hatte, ebenfalls zu einem Stück von Saunders, ohne Elektronik zwar, aber mit Effekten, die sich elektronisch anhörten. Das Stück am vorigen Freitag hieß White (2015, rev. 2016). Es steht im Zusammengang mit Saunders‘ Trompetenkonzert Alba (2014), das im ursprünglichen Musikfestprogramm vorgesehen gewesen war und dessen Titel auf ein Gedicht von Beckett verweist. Mit dem danach geschriebenen Solostück wollte Saunders ihre musikalischen Gedanken zum Thema fortführen und zuspitzen. Albus (weiß), so lasen wir im Programmheft, „meint nicht den Glanz, sondern die völlige Abwesenheit von Farbe“. Und Saunders selbst äußert: „Ohne Schatten und ohne Grau ist Weiß besonders heiß, die Farbe der Wut.“

Die Hitze konnte man hören. Aber was hörte man am Montag zum Film von Richter und Belz? Ich kann nur meinen subjektiven Eindruck mitteilen, der dem, was Saunders selbst dazu sagt, möglicherweise nicht entspricht. Allerdings muss man, wenn gleich vom „Leuchten“ die Rede sein wird, das eben zur Farbe Weiß Gesagte mitdenken. Das „Leuchten“ von 946-3, sagt Saunders, „seine hypnotisierende, absolute Konzentration und vor allem seine Art, das Zeitgefühl aufzuheben“, habe sie fasziniert. Mir ist das Trompetensolo als eine Art Verkündung begegnet; als „Apokalypse“, könnte man formulieren, wenn da etwas offenbart worden wäre – das ist ja der Wortsinn. Verkündet wurde aber umgekehrt das Nichtwissen. Dass man sah und doch nicht sah. Was übrigens ebenfalls auf die Bibel verwiese: „Da sagte er: Geh und sag diesem Volk: Hören sollt ihr, hören, aber nicht verstehen. Sehen sollt ihr, sehen, aber nicht erkennen.“ (Jes. 6, 9)

Rebecca Saunders habe ich zuerst auf dem Musikfest 2017 gehört, damals mit der Uraufführung ihrer Komposition Yes, das ist „eine räumliche Performance für Sopran, 19 Solist*innen und Dirigent (2016/17) nach dem letzten Kapitel (Monolog der Molly Bloom) aus dem Ulysses von James Joyce“. Schon diese Musik hatte Saunders mit den Worten erklärt, sie wolle eine „entwerfen, die aus dem Fluss der Zeit heraustritt, die wie eine Klangskulptur in den Raum projiziert wird“. Was mir aber am meisten auffällt, wenn ich meinen Bericht von 2017 wiederlese, ist dass ich ihre Musik schon damals auf Beckett bezog. Ich schließe mit einem Zitat aus jenem Bericht: Die Komposition, schrieb ich,

„heißt ‚Yes‘, nicht ‚No‘ und da fällt mir gleich das Buch ein, das ich eben erst las, Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin von Dieter Henrich (München 2016): Wo Fichte oder Beethoven auf eine bessere Zukunft hofften und sich für sie engagierten, fragen sich Henrich oder Saunders, was sie dem Nihilismus angesichts der Zustände, wie sie sind, entgegensetzen können. Das schließt Handeln zur Veränderung der Zustände ja nicht aus, ist aber vielleicht inzwischen zur Voraussetzung geworden, sich dazu noch aufraffen zu können. Saunders belässt es nicht beim Titel, sonders erläutert ihn als ihre Sicht auf den Molly-Bloom-Monolog: ‚>Yes< ist vieldeutig und komplex, wirft viele Schatten und verweist auf verschiedene Themen: auf den Moment des Orgasmus im Halbschlaf; auf das lebensbejahende >Yes<; auf das >Yes<, das das Annehmen des Schicksals besiegelt; auf eine Erinnerung an einen äußerst abenteuerlichen Liebhaber und auch an die Zeit, als Molly Bloom >Ja< zu ihrem zukünftigen Mann gesagt hat.'“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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