"Kulturelle Fortschrittsskepsis" und "gesellschaftlicher Gruppenegoismus", so hat der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel in seinem kürzlich veröffentlichten Entwurf für ein neues Fortschrittsprogramm geschrieben, führten manchmal zur Abwehr "jeder Veränderung im unmittelbaren Lebensumfeld", zum Beispiel wenn der "Bau eines Bahnhofs" anstehe.
Ob er damit den Streit um den Stuttgarter Bahnhof meint, von dem die Grünen so profitiert haben? Den Eindruck, dass dieser Streit die SPD in eine Krise der Selbstvergewisserung führt, vermittelt zumindest dieses Fortschrittsprogramm. Die SPD will fortschrittlicher sein als die Grünen; wenn sie es wäre, hätten die Wähler – das ist ihre Hoffnung – mehr Grund, sie zur stärksten Partei zu m
artei zu machen, auch in Berlin und Stuttgart, so dass sie dort nicht unter grünen Regierungschefs dienen muss.Nächstes Ziel der SPD muss es sein, den in Umfragen prognostizierten Zuwachs der Grünen auf im Bundesdurchschnitt um 20 Prozent Stimmen zu verhindern. Er würde ganz überwiegend auf Kosten der SPD erfolgen. Schlägt er sich erst in wirklichen Wahlen nieder, wird eine veränderte Wahrnehmung der SPD durch die Wähler, sprich eine Degradation, kaum ausbleiben. So viel ist klar. Nun kann man sich fragen, ob die neue Fortschrittsrhetorik dem Ziel wirklich zuarbeitet. Es stellt sich aber auch die Frage, wie auf der Basis solcher Rhetorik eigentlich mit den Grünen zusammengearbeitet werden soll. Denn das muss die SPD wollen, solange sie überhaupt noch Regierungsämter anstrebt. Fortschrittsfreunde im Bündnis mit Fortschrittsversagern? Das klingt nicht gut.Die Frage der Zusammenarbeit stellt sich mehr noch jenseits der Rhetorik. Sie ist ernst; so wie unter Schröder kann es nicht noch einmal funktionieren, und ein neues Modell ist nicht in Sicht. Liest man den „Entwurf für ein SPD-Fortschrittsprogramm“ unter diesem Gesichtspunkt, zeichnen sich doch mindestens Möglichkeiten ab, wie es besser laufen könnte. Die SPD teilt da unter dem Titel „Fortschritt“ mit, was ihr Identitätskern ist und wie sie ihn zur Zeit verkörpern will. „Fortschritt“ ist im wesentlichen wissenschaftlich-technischer Fortschritt, und man kann ihn sich nicht ohne wirtschaftliches Wachstum vorstellen. Das ist das Credo. Ökologischen Ansprüchen kommt die SPD dadurch entgegen, dass sie zwischen richtigem und falschen Wachstum unterscheiden will. Die Politik soll wählen, was wachsen soll, was nicht, und so den Primat über die Märkte zurückgewinnen. Unter „Politik“ sind Parlamente und Regierungen zu verstehen. Doch sollen auch die Bürger an Genehmigungsverfahren für Großprojekte stärker beteiligt werden – wohl damit sie von ihrer Skepsis gesunden.Genauso stellen es sich die Grünen auch vor, nur dass sie nicht gegen „Fortschrittsskeptiker“ kämpfen und auch selbst keine sind. Gegen Stuttgart 21 haben sie eingewandt, dass der wahre Fortschritt in mehr Güterverkehr auf der Schiene statt in etwas mehr Zeitgewinn für Reisende läge; er hätte, sagten sie, Veränderungen an ganz anderer Stelle erforderlich gemacht. Also, das ist doch eine Basis der Zusammenarbeit.Eine zündende ParoleDie SPD ist „für Fortschritt“ und die Grünen sind es auch. Nur dass sie Verschiedenes für fortschrittlich halten: die SPD einen bestimmten Großbahnhof, die Grünen eine andere Verkehrsordnung; die SPD den Bau von Kohlekraftwerken – auch im neuesten Programmentwurf wieder gefordert –, die Grünen den viel schnelleren Umstieg auf erneuerbare Energien. Nun wohl: Da es vielleicht möglich ist, diese Linien teilweise zu vereinbaren, können Fortschritts-Kompromisse und -Koalitionen gebildet werden, wobei jeweils die Linie des stärkeren Partners den Ton angibt. Aber warum es dann nicht auch so formulieren? Kann man das alles nicht offen aussprechen? Es ist ein Kampf gegen Windmühlen, wenn die SPD stattdessen raunt, der „Fortschritt selbst“ werde „in Frage gestellt“.Die Sozialdemokraten täte ein wirklichen Schritt voran, wenn sie sich den Wählern als die Partei bestimmter technisch-ökonomischer Projekte vorstellte und die anderen Parteien veranlasste, es ebenfalls zu tun. Dass die Wähler entscheiden sollen, wohin der technisch-ökonomische Weg geht – „mehr Demokratie wagen“ in diesem Sinn –, wäre eine zündende Parole. Noch besser wären vielleicht technisch-ökonomische Wahlen, die mit Parlamentswahlen nicht zusammenfallen.Doch Fortschritt geht langsam. Schon wenn die SPD bekennt, dass man sich über die Fortschrittlichkeit ihrer Projekte streiten kann, setzt sie einen Bewusstseinswandel in Gang.