Korruption und abstrakte Arbeit

Was tun? Eine öffentliche Debatte über Ziele müsste den Mut zu grundsätzlichen Alternativen aufbringen

Politikverdrossenheit ist kein taufrisches Thema, doch zur Zeit hat es Hochkonjunktur. So sehr, dass man sich fragt, wann die Verdrossenheit endlich zurückschlägt. Die SPD unter Korruptionsverdacht wie kürzlich die CDU - soll man es achselzuckend hinnehmen? Der inszenierte Eklat im Bundesrat - lenkt er nicht von der Sache ab? Und dann erst die Außenpolitik. Wir müssten uns entscheiden, auf welcher Seite wir stehen, tönte Außenminister Fischer. Etwa auf der Seite der Terroristen? Gott bewahre - aber nicht ohne Grund fügte er hinzu, jetzt nach den Terroranschlägen gehe es darum, eine gerechte Weltordnung herbeizuführen. Daraus ist nun geworden, dass Deutschland 0,05 Prozent mehr Entwicklungshilfe zahlen will. Von 2007 an. Weil es ja zwar sein mag, dass täglich 20.000 Menschen verhungern, aber was soll´s, erst einmal muss der deutsche Staatshaushalt saniert werden. Unsere Fleischtöpfe brauchen wir selbst; das haben wir eben beschlossen, bühnenreif im Eklat, unter dem Komödientitel "Einwanderungsgesetz".
Ist eine Politik möglich, die sich über die Albernheit unserer politischen Klasse erhebt? Die sich nicht begnügt, gegen die Korruption ein "Korruptionsregister" zu setzen, wie Peter Struck, der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, scheinheilig vorschlägt? Dort sollen Firmen eingetragen werden, die der Bestechung überführt sind. Damit ihnen der Führerscheinentzug droht? Nein, das wäre ja zu hart. Bedenken Sie, es sind gute Boys, die Arbeit, Arbeit, Arbeit schaffen. Also sagen wir, sie werden drei Jahre von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen. Oh, da packt uns das Mitleid erst richtig: Diese Sanktion gilt nur, wenn die Firmen im Inland bestochen haben! Denn im Ausland, so Strucks Registerarie, müssen sie wohl "bestimmte Vereinbarungen" abschließen, sonst halten sie im Wettbewerb nicht mit. Also gesetzt, wir wären Franzosen und Helmut Kohl wäre von Elf Aquitaine bestochen worden, würden wir Tor! schreien. Nun sind wir aber Deutsche und dürfen uns über den Alten das Maul zerreißen. Weil es Spaß macht, ihm eins auszuwischen.

Macht und Wert


Korruption ist kein schlechtes Stichwort, um in die Analyse einzusteigen, obwohl schon Descartes warnend darauf hingewiesen hat, dass die Fähigkeit, Korruption zu erkennen, auf der Welt die am weitesten verbreitete Gabe sei. Diese Fähigkeit könnte eine Falle sein. Es gäbe Wichtigeres zu kritisieren als die Moral von Leuten, die sich bestechen lassen. Doch Michael Hardt und Antonio Negri, in deren Buch Empire wir den Hinweis auf Descartes finden, bleiben bei der Moral nicht stehen (vgl. die Rezension auf S. 15 dieser Ausgabe). Korruption hat einen Sinn: Sie ist das "Zeichen für die Unmöglichkeit, Macht und Wert miteinander zu verbinden". Hardt und Negri formulieren das im Kontext einer umfassenden Konzeption, der zufolge wir uns noch immer auf der Blut- und Schlammspur des Römischen Reiches bewegen. Im alten Rom nämlich, seit es zum Cäsarentum, das heißt zur Militärdiktatur degenerierte, wurde diese Verquickung von Macht und Wert geboren: Man behauptete, die Armee würde nur für den Frieden ausrücken, so wie man heute behauptet, sie würde nur Terroristen jagen und Menschenrechte schützen. Doch es ist eine Lüge, wie man manchmal daran sieht, dass die Mächtigen Arm in Arm nicht mit Ethikern, sondern mit Bestochenen einherschreiten.
Wenn wir den Ansatz auf die Kölner Korruptionsaffäre anwenden, stoßen wir auf deren wesentliche Dimension. Nicht eine Militärmacht, sondern die Macht des Kapitals hat da korrumpierend gewirkt. Ungeachtet dessen muss auch hier die Aufmerksamkeit dem Verhältnis von Macht und Wert gelten. Denn man fragt unwillkürlich: Erstens, ist es nicht trotz allem im Grundsatz gut gelaufen, weil die Kölner Müllverbrennungsanlage doch Arbeitsplätze geschaffen hat? "Arbeit" ist der Wert, dem sich SPD- wie CDU-Politiker verpflichtet wissen. Zweitens aber, warum gelingt es einigen Beteiligten nicht, als Ethiker damit umzugehen? Mag sein, dass wir es mit schwachen Charakteren zu tun haben. Aber ein Charakter ist desto schwächer, je größer die Versuchung ist. Die Versuchung wiederum wächst mit dem Niedergang des betroffenen Wertes; man missachtet ihn desto leichter, je unplausibler er wird. Und da liegt der Hase im Pfeffer. Noch bevor die Kölner Genossen konkret versucht sind, sich bestechen zu lassen, ist ihnen schon einmal das gute Gewissen abhanden gekommen. Sicher, sie schaffen Arbeitsplätze. Aber lässt sich Arbeit - abstrakte Arbeit - wirklich noch als Lebenssinn feiern?
Man ist immer häufiger gezwungen, über die Ziele der Arbeit nachzudenken. Seit Jahrzehnten tobt der Kampf um ein "Endlager" des Atommülls. Auch sonstiger Müll weckt böse Assoziationen. Warum produziert die "Arbeitsgesellschaft" mehr Müll, als die Natur unbeschadet zurücknehmen kann? Hängt das mit den Arbeitszielen zusammen? Warum sprechen wir nicht wenigstens über Grenzen der Müllproduktion? Vielleicht weil das nicht hülfe - man weiß ja, wie es bei den Verhandlungen über Grenzen der CO2-Produktion zugeht. Es gibt Leute, die meinen, unser Planet sei einfach zu klein für die legitime Entfaltung unserer menschlichen Energie, der Arbeit; aber es sei ja möglich, auf andere Planeten auszuweichen. So Jesco von Puttkamer, Planungschef der NASA. So weit muss man gehen, wenn man an abstrakter Arbeit als Wert an sich festhalten will, unabhängig von den Zielen. So weit denken Kölner Genossen nicht. Aber sie werden ein Gefühl dafür haben, dass ein Bemühen um weiter nichts als "die Schaffung von Arbeitsplätzen" keine ethisch wertvolle Sache ist.
Es kommt zum Vorschein, was der wahre Grund ihrer Mühe ist: einfach die Macht des Kapitalverhältnisses, für dessen Reproduktion sie zu sorgen haben. Diese Macht zielt auf Profitmaximierung, die sich nur bei ständiger Produktionsausweitung erreichen lässt. Da kann die Produktion nicht Zielen untergeordnet werden, denn Ziele sind Schranken, sie wären irgendwann erreicht und dann gäbe es keine Ausweitung mehr. Also werden umgekehrt die Ziele der Produktion untergeordnet, das heißt ihrer Ausweitung um jeden Preis - Scheinbedürfnisse werden geweckt und den Konsumenten aufgeschwatzt, und so wachsen die Müllberge und müssen verbrannt werden.
Den Politikern, die das Krebsgeschwür "Profitmaximierung" nur verwalten, statt eine Heilung zu versuchen, ist es unmöglich, Macht und Wert zu verbinden. Sie stumpfen ab; einige werden korrupt. So setzen sie der Öffentlichkeit ein Zeichen. Wenn diese nur Ohren hätte, zu hören.
Auch der Eklat im Bundesrat ist in diesem Sinn ein Korruptionsskandal. SPD und CDU/CSU möchten wohl gern so tun, als stritten sie um Werte. Es geht ja auch hier um die Arbeit, außerdem aber um Deutschland und im Übrigen um Gerechtigkeit. Wir sollen glauben, die Union streite besonders für das Vorrecht des deutschen Arbeiters, während die SPD auch etwa um das Schicksal geschlechtlich Verfolgter besorgt sei. Doch tatsächlich sind sie in der Sache einig. Zum Streit kommt es nur, weil die SPD im Wahlkampf einen Sieg braucht und die Union ein Streitthema. Es geht nur um die Macht: Macht und Wert lassen sich nicht verbinden.

Eine andere Idealität


Ich sehe nicht, dass Hardt und Negri einen gangbaren Ausweg zeigen. Sie klopfen uns Protestierern auf die Schulter und sagen, die Dinge seien nun schon so zugespitzt, dass sie jeden Moment umkippen müssten: "Imperiale Korruption wird bereits unterhöhlt. Das einzige Ereignis, auf das wir noch immer warten, ist dasjenige der Errichtung oder genauer: der revolutionären Erhebung einer mächtigen Organisation. Feste Modelle haben wir für dieses Ereignis nicht zu bieten." Wer soll denn diese Organisation errichten, wenn nicht wir selber?
Wenn die Dinge wirklich so zugespitzt sind, dass sogar eine revolutionäre Organisation entstehen könnte, dann müsste es jedenfalls allemal möglich sein, von unseren Zielen zu sprechen und zugleich die Ziele, die unserer "Arbeitsgesellschaft" und ihrem Militärapparat zugrunde liegen, zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte zu machen. Mir scheint dieser Gesichtspunkt der "Ziele" von ausschlaggebender Bedeutung zu sein. Denn wenn das Problem der Korruption in einer trüben, ideologischen Amalgamierung von "Macht und Wert" liegt, dann kann die Lösung nur darin liegen, dass die Macht - eine demokratisierte Macht - ein anderes Geschwister erhält: statt des Werts eine andere Idealität, die nicht notwendig als Ideologie funktioniert. Das wären eben Ziele. Ziele, die in öffentlicher Kommunikation aufgefunden, dann demokratisch beschlossen und schließlich je nach Zuständigkeit vom Staat oder von freien, der Nachfrage verpflichteten Unternehmern ausgeführt werden.
Auf den ersten Blick mag ein solcher Ansatz zu grundsätzlich erscheinen. Doch man gerät automatisch ins Grundsätzliche, selbst wenn man nur den Kölner Skandal zu begreifen versucht. Gegen Filz, Klüngel und Korruption wird mit Recht "Transparenz" gefordert. Wenn diese aber nur der Aufdeckung der Moral der Politiker dient, liegen noch immer die Antriebskräfte der produktiven unternehmerischen Macht im Dunkel. Mit Recht haben Hardt und Negri unterstrichen, dass der kapitalistischen Globalisierung, wenn man sie denn für kritikwürdig hält, nur auf ihrer eigenen Ebene, also global, und das heißt auch: grundsätzlich, begegnet werden kann. Selbst ein lokaler Skandal wie der in Köln hat diese globale Dimension, wie sich unmittelbar daran zeigt, dass Müll aus Neapel in die Kölner Verbrennungsanlage eingespeist werden muss, um sie rentabel zu halten; mittelbar und bedeutsamer teilt es sich über die Frage der Produkte mit, aus denen Müllberge werden. Die Globalisierungskritiker stehen heute weniger vor einer strategischen Schwierigkeit als vor einer Angstschwelle. Denn natürlich meldet sich die Angst, wenn wir uns fragen, ob wir nicht das Recht der demokratischen Entscheidung über die Produktionsziele proklamieren müssten. Ein strategisches Problem läge darin aber nicht. Im Gegenteil, es ist umgekehrt problematisch, wenn wir den weitreichenden Plänen des internationalen Kapitals keine ebenso umfassenden Alternativprojekte entgegenhalten, sondern nur solche punktuellen Gegengewichte wie die Tobin-Steuer.

Die Parteien


Das letzte globale Alternativprojekt war das des ökologischen Umbaus. Hier war die Frage der Produktionsziele und -mittel und im Zusammenhang damit die Frage der "gesellschaftlichen Planung" - zum Beispiel: soll es eher mehr Autos oder mehr Eisenbahnen geben? - schon implizit aufgeworfen. Dass die ökologische Krise sich nur global oder gar nicht lösen lässt, war ohnehin klar. Der konsequente nächste Schritt hätte in der Entwicklung praktikabler Modelle der demokratischen Entscheidungsfindung und -ausführung von Großprojekten gelegen. Wenn solche Modelle vorhanden wären und in auch nur einer führenden Industrienation die Kommunikation beherrschen würden, hätte das internationale Auswirkungen - wie einst der Kommunismus solche hatte - und könnte auch internationale Verhandlungen beeinflussen. Aber solche Modelle wurden bisher nicht entwickelt. Warum, wenn nicht aus purer Feigheit?
Von einer anderen Seite her unterstreichen auch Hardt und Negri die Notwendigkeit der Kommunikation über Ziele. Auch sie sagen, wir müssten der imperialen Macht ein globales Alternativprojekt entgegensetzen. Als ein solches schlagen sie vor, die "Immanenz" des Menschen zur Geltung zu bringen - statt jeglichen Bezugs auf Werte - und zwar so, dass der menschliche Körper sich als etwas vom Tier und von der Maschine "ontologisch" nicht Verschiedenes erfahren kann. Über dieses Ziel wird man nun aber streiten. Man wird fragen, ob die "ontologische" Gleichsetzung von Mensch und Maschine nicht gerade der Fokus jener produktiven imperialen Macht sein könnte, die von Hardt und Negri eigentlich angegriffen wird. Auf jeden Fall sehen wir, was passiert, wenn wir anfangen, über Ziele zu reden: Sie verstehen sich nicht von selbst, entscheiden aber über unser Leben und das unserer Kinder; wir sind froh, sie wenigstens einmal in Erfahrung gebracht zu haben. Was könnte wichtiger sein, als über sie zu kommunizieren?
Wenn das wie ein zu grundsätzlicher Ansatz aussieht, denke man an das Parteileben, von dem wir in Gestalt der Kölner SPD ja ausgegangen sind. Die Parteien haben sich gewiss über uns erhoben, stehen uns aber doch nahe genug, dass wir noch hoffen können, sie zu beeinflussen. Die Amalgamierung von "Macht und Wert" wird durch die Parteien exemplarisch verkörpert. Deshalb sind wir ja so fieberhaft an ihnen interessiert. Immer wieder stehen sie an der Schwelle der Macht: Das ist die Situation, in der wir geneigt sind zu glauben, dass die Macht, einmal erlangt, von "unserer" Partei auch wirklich zur Verwirklichung des Wertes - der Gleichheit, der Freiheit, des Friedens - eingesetzt werden wird. Hinterher sind wir über die Korruption (im engen oder weiten Sinn des Wortes) bei der Machtausübung enttäuscht (weil Macht und Wert sich nicht verbinden lassen). Und wir wenden uns einer anderen Partei zu, bei der wir uns dieselben Illusionen machen. Das ist ein Kreislauf, der sich unterbrechen ließe. Wenn uns die Korruption wirklich unerträglich ist, warum stellen wir nicht jede Unterstützung für die regierenden Parteien SPD und CDU ein? Das würde einschließen, auch alle Parteien zu boykottieren, die bereit sind, sich von CDU oder SPD ins Schlepptau nehmen zu lassen.
Und warum reagieren wir nicht mit einer Boykottstrategie, wenn Parteien, deren Programm anfangs noch auf Ziele orientiert war, um der Anpassung willen auf "Werte" umstellen? Dazu haben sich sowohl die Grünen als auch die PDS bereitgefunden. Wenn dieser Prozess nicht rückgängig gemacht werden kann, wird es über kurz oder lang zur Gründung einer neuen Partei kommen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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