Lauter unwillige Vollstrecker

Krise der Unionsparteien CDU und CSU werfen sich wechselseitig soziale Gewissenlosigkeit vor

Die Unionsparteien sind in erstaunlich hohem Maß mit sich zerfallen. Seit Ostern ist der schwelende Streit nochmals eskaliert: Friedrich Merz, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Bundestag, warf nicht nur den beiden Parteivorsitzenden vor, sie paralysierten sich oft gegenseitig - so weit könnte man noch denken, er habe sich nur selbst im Vergleich mit Merkel und Stoiber aufwerten wollen -, sondern konstatierte auch, es gebe "ein echtes Strukturproblem mit diesen beiden Parteien". Niemand widersprach ihm. Vielmehr fragte der stellvertretende CSU-Vorsitzende Seehofer zurück, warum Merz denn nicht eingegriffen habe, als sich die Parteien bei ihrer letzten gemeinsamen Präsidiumssitzung im März über die Einschränkung des Tarifrechts zerstritten. Worauf der Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, Kauder, feststellte, die Äußerung Seehofers zeige, dass es in der Union keine Ruhe geben werde, bevor sie sich nicht auf gemeinsame Positionen in den Fragen der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung geeinigt habe. Ja, wenn das alles umstritten ist, worin sind sich beide Parteien denn einig?

Man sollte doch denken, sie würden nach jeder haushoch gewonnenen Landtagswahl immer geschlossener. Der Machtwechsel in Berlin ist zum Greifen nahe. Nur wer dann Kanzler wird, ist noch nicht entschieden. Aber eine interessante Kandidatenkonkurrenz kann im Wahlkampf gerade nützen, wie die SPD vor 1998 demonstrierte. Und doch ist in allem der Wurm drin. Das begann mit der Wahlniederlage 2002 und hörte seitdem nicht mehr auf. Die Öffentlichkeit bemerkte es nicht so recht, sie war zu sehr mit den Querelen in der SPD nach Schröders Verkündung der "Agenda 2010" beschäftigt. Jetzt ist es nicht mehr unter der Decke zu halten.

Blicken wir zurück: Nach jener Wahlniederlage überlegte die CDU-Vorsitzende Merkel laut, ob die Union sich nicht neuen Wählergruppen öffnen müsse; sie denkt vor allem an großstädtische Frauen. Die Kritik der CSU kommt postwendend: "Was das Frauen- und Familienbild der Union angeht, haben wir keinen Korrekturbedarf", sagt CSU-Generalsekretär Goppel. Im März 2003, kurz vor Schröders Regierungserklärung zur "Agenda", legt der CSU-Vorsitzende Stoiber ein "Akutprogramm für den Sanierungsfall Deutschland" vor. Seine rabiaten Vorschläge, zum Beispiel die Kürzung der Sozialhilfe für Arbeitsfähige auf 75 Prozent, werden von ostdeutschen CDU-Politikern sowie von Laurenz Meyer, dem Generalsekretär der CDU, scharf kritisiert. Im Sommer gibt es Streit um die EU-Verfassung und um Steuersenkungen. Nachdem der Europa-Abgeordnete Brok, CDU, die Verfassungskritik von CSU-Politikern als "haltlos und schädlich" gebrandmarkt hat, sendet Stoiber der Kollegin Merkel einen Brief, in dem gleich 16 Kritikpunkte aufgelistet sind. Dann erregen sich CSU-Politiker, weil Merz und der hessische Ministerpräsident Koch fordern, Steuersenkungen müssten gegenfinanziert werden. Eigentlich ist das mehr zur Bundesregierung gesagt, doch Stoiber fühlt sich angegriffen.

Es wird Herbst. Seehofer findet die Reformvorschläge der von Angela Merkel eingesetzten Herzog-Kommission "schockierend", woraufhin der Vorsitzende der CDU-Sozialausschüsse, Arentz, seiner Partei empfiehlt, sich die CSU zum Vorbild zu nehmen. Im Dezember sagt Merkel: "Dass die CSU das soziale Gewissen ist und wir die marktwirtschaftliche Komponente, werden wir nicht zulassen." Anfang 2004 bricht der Streit um die Gegenfinanzierung offen aus, wird aber zunächst durch einen Kompromiss beigelegt. Im März gibt es die schon erwähnte Sitzung der Präsidien zur Arbeitsmarktpolitik; hinterher fühlt sich jede Partei von der anderen überfahren. Die CSU tut kund, solche gemeinsamen Sitzungen werde es vorerst nicht mehr geben.

Das ist kein bloßer Führungsstreit zwischen Stoiber und Merkel. Es ist aber, bei Lichte besehen, auch kein Streit zwischen CDU und CSU. Nur der fiktiven Einfachheit halber wird es immer wieder so dargestellt. Dabei müsste doch jeder stutzen, wenn er im Dezember liest, Merkel wolle das "soziale Gewissen" nicht Stoiber überlassen, nachdem er im März gelesen hat, Stoiber werde von Laurenz Meyer als unsozial kritisiert. Um diese verworrenen Vorgänge zu begreifen, muss man davon abstrahieren, wer was wann gesagt hat. Die Sache ist die: Es soll ein Sieg über die SPD dadurch herbeigeführt werden, dass die Union den Neoliberalismus des Kanzlers an sozialer Grausamkeit noch übertrifft, aber diese Strategie versetzt beide Unionsparteien in Unruhe und führt zu den Auseinandersetzungen. Sollte die Union darunter leiden, dass sie etwas tut, was ihr gegen den Strich geht? Dann ginge es ihr ja gar nicht anders als der SPD. Aus gehörigem Abstand betrachtet, scheint das tatsächlich die Erklärung zu sein. Im Juni 2003 erschien in der Politischen Vierteljahresschrift, Sonderheft 33, der Aufsatz von David Hanley: "Die Zukunft der europäischen Christdemokratie". Er legt dar, dass alle "CD-Parteien" in der Krise sind - wegen ihrer Abkunft von der katholischen Soziallehre, auch wenn es lange her ist.

Wir hören von Hanley, dass es zwei Sorten von CD-Parteien gegeben habe, die einen mit Kirchennähe und die andern, die eher nur konservativ sind. Gerade die deutschen CD-Parteien rechnet Hanley zu den nur konservativen. Das Interessante an seiner Unterscheidung ist, dass er konstatieren kann, die eher christlichen CD-Parteien sind durch den Einbruch des kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaates in tiefe Krisen gestürzt - der markanteste Fall ist der italienische -, während die eher konservativen sich von solchen Krisen zumindest schnell erholten, indem sie die von ihnen selbst bis dahin vertretene Wohlfahrtspolitik über Bord warfen. Tonangebend in der neoliberalen Wende, die nun beide Sorten von CD-Parteien erleiden, ist die deutsche Sektion. Von hier geht auch die Tendenz aus, rechte Kräfte europaweit zu assimilieren, bevor diese, wie in Italien geschehen, die CD-Kräfte assimilieren können.

Eine solche Wende kann, wenn überhaupt, nicht ohne furchtbares Knirschen gelingen. Sozialdemokratische und CD-Parteien haben das, was man heute den "Rheinischen Kapitalismus" nennt, gemeinsam getragen. Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Westeuropa. Wenn sie ihn jetzt beerdigen, müssen sie sich selbst vernichten und ersetzen. Die Frage, ob das geht, bleibt auch für die CD-Parteien unbeantwortet. Man sieht erst einmal nur, dass sie glauben, ihnen bleibe keine andere Wahl. "Diese ideologische Veränderung", schreibt Hanley, "spiegelt die Auffassung wider, dass der Marktliberalismus eine ideologische Hegemonie erlangt hat und nicht wie in der Vergangenheit direkt in Frage gestellt werden kann." Es ist tatsächlich nicht anders als in der SPD. Merkel, Stoiber, Schröder, Müntefering - lauter unwillige Vollstrecker! Vielleicht haben sie ja recht, wenn auch anders, als sie meinen: Der "Marktliberalismus" kann nicht mehr durch Reformen gebändigt werden. Sondern um noch etwas zu retten, muss man das Verpönte tun - die kapitalistische Ökonomie grundlegend verändern. Das aber haben weder die sozialdemokratischen, noch die CD-Parteien auf dem Programm.


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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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