Bei diesem Thema ist es wichtig, in welcher Zeitung es erscheint, ob im Spiegel oder im Freitag. "Was not tut" in Schröders zweiter Halbzeit, wissen die Hamburger Redakteure ja wieder ganz genau: Privatisierung des Gesundheitswesens, Rente mit 67 oder später ... Die Taten der Regierung werden dem, was die größten Journale fordern, wieder ähnlich sein. So ist es ja auch bisher gewesen. Wo sollte ein Gerhard Schröder denn sonst seinen Maßstab hernehmen zur Einschätzung dessen, was die Wirklichkeit ist? Dass seine schneidigen Reformen der letzten zwei Jahre - Steuern, Renten, Sparhaushalt - nicht populär waren, ist ihm wohlbewusst. Nicht viel mehr als ein Fünftel der Wählerschaft verbindet Hoffnungen damit. Aber Wähler können ja kurzsichtig sein. Also muss Schröder sich an Leute mit Überblick halten. Was die Meinungsführer empfehlen, setzt er um - verzögert, damit die Wähler nicht ganz verprellt werden.
Es mag früher Regierungen gegeben haben, die sich gewissen Kriterien rationaler Problemlösung verpflichtet wussten, wie etwa dass man Maßnahmen nicht nur einleitet und immer weiter vorantreibt, sondern auch an ihrem Erfolg misst und deshalb aufgibt und abbricht, wenn sie zu nichts führen. Damit ist es längst vorbei. Die jetzige Regierung ändert den neoliberalen Kurs nicht, obwohl sich irgendwelche Erfolge noch immer nicht zeigen. Halt! Wann würde man von "Erfolgen" denn sprechen? Darüber gibt es ja gar keine Einigkeit. Die Unternehmerverbände würden "gute Standortbedingungen" für Unternehmen anführen. Die politischen Parteien, und zwar sämtliche, tragen dieses Kriterium nur unter der Bedingung mit, dass sie sich einen Abbau der Arbeitslosigkeit davon versprechen. Den gibt es aber eben nicht. Derselbe Spiegel, dem der Neoliberalismus immer noch längst nicht weit genug geht, muss es einräumen: Die verbesserte Arbeitsmarktlage kommt nur durch veränderte Darstellungsmethoden zustande, man kann es auch "Schönfärberei" nennen. So werden jetzt auch die 630-Mark-Jobber als Erwerbstätige erfasst.
Im Osten zeigt es sich besonders krass. "Die größten Teile der neuen Bundesländer sind und bleiben", so muss der Spiegel vernichtend urteilen, "abgekoppelt von den Branchen und Wertschöpfungsketten der Zukunft." Aber er gibt nicht zu, dass dieses Urteil nicht das ökonomische Können und Wissen der ostdeutschen Menschen, sondern die Reputation der neoliberalen Strategie vernichtet. Denn diese hatte dort doch ihr Versuchsfeld. Operation gelungen, Patient tot? Die Bundesregierung ist nicht dabei, nach besserer Medizin zu suchen. Nichts spricht für eine Kursänderung in Schröders "zweiter Halbzeit". Der Zusammenhang von erster und zweiter Halbzeit wird besonders an der Rentenreform deutlich: jetzt in der Mitte der Legislaturperiode ist klar, worin sie bestehen wird, und jetzt haben die SPD-Strategen nur noch die Sorge, trotzdem wiedergewählt zu werden; also beschließen sie, den Reformbeginn so zu verschieben, dass die schädlichen Auswirkungen erst im Jahr nach der Wahl erfahrbar werden. Welch ein Zynismus! Über den Zynismus staunen wir nicht mehr, wohl aber über die Empfindungslosigkeit der Betroffenen. Warum äußern sie ihre Sorge in Meinungsumfragen, nicht aber in politischen Handlungen?
Sie sind nur scheinbar empfindungslos. Sie sind in einem politischen System gefangen, das ihnen nur Handlungen der Selbstblockade erlaubt. Sie können Schröder eben nur abwählen, indem sie Merkel, Wulff und Stoiber an die Regierung bringen. Frau Merkel scheint sich jetzt für eine Wahlkampfstrategie entschieden zu haben: Schröder in nationalen Fragen rechts, in ökonomischen links zu überholen. Sie bringt Erhards Soziale Marktwirtschaft wieder ins Gespräch. Die FAZ meint, sie propagiere den Kommunitarismus. Das ist auch zynisch. Die Steuer- und Rentenpolitik der CDU ist von dem, was Schröder durchsetzt, im Endergebnis praktisch nicht verschieden. Was sollen die Wähler da machen, wenn sie auch noch in ihren Zeitungen lesen, dass es nicht gegen SPD und CDU spricht, wenn die meisten Teile Ostdeutschlands "abgekoppelt sind und bleiben"? Die Frage der zweiten Halbzeit nimmt sich von daher recht langweilig aus. Man kennt die Strategie und die Akteure - Unternehmer, Regierung, SPD, CDU. Also geht es so weiter wie bisher.
Nur zwei traditionell mächtige Akteure sind immer noch nicht gleichgepolt, die Gewerkschaften und die Kirchen. Und die sozialen Bewegungen sind auch noch nicht tot, etwa die Euromärsche gegen Arbeitslosigkeit oder die Bewegung gegen Atommülltransporte. Wenn die nächsten zwei Jahre doch noch spannend werden könnten, dann weil es diese Sperrfeuerquellen immer noch gibt. Die strategische Frage ist, wie sie die von den Medien errichteten Verschweigungsdämme überfluten können. Der Antiatombewegung wird das gelingen, aber sie kann das Blatt allein nicht wenden, weil sie nicht auf dem ökonomischen Feld agiert, das entscheidend ist. Oder weil es jedenfalls so aussieht, als täte sie das nicht. Ökonomie wird ja nicht, wie es sein müsste, von der Frage beherrscht, was produziert werden soll und was nicht. Die Regierung hat den AKW-Betreibern nicht deshalb eine Laufzeitgarantie gegeben, weil sie es für gut hält, dass Atomenergie produziert wird, sondern deshalb, weil die Betreiber noch möglichst lange von ihren märchenhaften "Rückstellungen" profitieren wollen - durch den Verkauf welcher Güter, ist auch ihnen egal - und Schröder sich dem gebeugt hat.
Wenn Ökonomie unter der Frage stünde, was produziert werden soll, würde nicht Lohn und Gehalt für beliebiges Arbeiten ausgezahlt, sondern dafür, dass Gutes mit höchster Effizienz erarbeitet, Nichtgutes dafür strikt unterlassen wird. Unter diesem Vorzeichen müssten Arbeit und Einkommen entkoppelt werden. Nur der, der auch am begrenzten Guten nicht mitarbeiten will, würde mit Einkommensverlust bestraft, nicht aber der, der eine Arbeitspause einlegt (um stattdessen in Erwartung künftiger Arbeit zu experimentieren oder sich zu bilden), weil sein Beitrag für die begrenzte gute Arbeit momentan nicht gebraucht wird. In einer solchen Ökonomie, die von der gesellschaftlichen Wahl des für gut Gehaltenen ausginge, würden die Sozialsysteme nicht in der Luft hängen. Niemand in ihr würde es für gerecht halten, dass Rentner immer mehr verarmen, und eben infolge dieses verbreiteten Sinns für Gerechtigkeit würden die an Rentnerarmut interessierten Kräfte auch tatsächlich zurückgedrängt und besiegt werden.
Wer kämpft noch dafür? Die Gewerkschaften denken nicht so grundsätzlich, wehren sich aber doch gegen die Rentnerverarmung. Sie werden vielleicht aus Schröders "Bündnis für Arbeit" aussteigen, die IG Medien hat schon dazu aufgerufen. Aber wo liest man, dass die IG Metall im Dezember einen Berliner "Rentengipfel" abhalten will? Von den Kirchen liest man heute sogar mehr, neigt aber dazu, es nicht ernst zu nehmen. Daran haben sie selbst schuld wegen der Art und Weise, wie sie die Abtreibungsfrage behandeln. Es ist trotzdem schade. In der vorigen Woche wurde ein ökumenisches Papier zur Bildungspolitik veröffentlicht, das die FAZ sicher nur deshalb zur Kenntnis brachte, weil sie es für Folklore hält. Es hätte nämlich von der Sache her genauso gut von einer kommunistischen Partei stammen können. Während der Spiegel will, dass Schröder gegen den Konservatismus der Forschungsinstitute vorgeht, damit sie sich "dem technologischen Wandel" schneller öffnen, fordert das Kirchenpapier mehr Langsamkeit. "Nur an Zeit und Geld" werde Bildung noch "gekoppelt", lesen wir da, sie sei also "kolonisiert" worden, werde am Gewinn und nicht, wie es sein müsste, am "guten Leben" gemessen; statt gegenzusteuern, kranke auch die Bildungspolitik am Nützlichkeitsdenken, ja an einem "subjektlosen Funktionalismus" oder, kurzum, an einem "Totalitarismus neuen Typs"!
Freilich erinnert das Papier auch daran, dass Kirchen dazu da sind, sich mit den "letzten Dingen", dem Tod zu befassen. Da möchte man vielleicht doch lieber totalitär im Leben sein oder regiert werden. Aber die Dinge, nicht nur die letzten, sind in Schröders zweiter Halbzeit schon so zugespitzt, dass selbst die Frage des Todes unmittelbar auf der neoliberalen Agenda auftaucht und also ohnehin abgehandelt werden muss. Eine Chance für die Kirchen? Warum das Gesundheitswesen teuer ist und vielleicht privatisiert werden muss, wurde wohl noch nie so offen ausgesprochen wie im Spiegel dieser Woche: Das liege auch daran, dass "die steigende Rentnerzahl teure Innovationen, die das Leben im Alter erleichtern und verlängern können", "erzwingt"; denn "ausgerechnet die Fortschritte in der Genmedizin und Biotechnologie werfen die Frage auf: Werden alle Patienten noch in den Genuss der bestmöglichen, immer teureren Behandlung kommen?" Also erstens: die Gesundheitsversorgung wird deshalb unbezahlbar, weil sie auf Gen- und Biotechnik umgestellt wird. Deshalb, weil einige sich diese "teuren Innovationen" zugute kommen lassen, müssen alle anderen vom bisherigen Versorgungsniveau runter. Und zweitens: es wird in diesem Zusammenhang ganz diffus von der "Lebensverlängerung" gesprochen. Also vom Tod. Davon, dass man ihn hinausschiebt. Aber wohin eigentlich? Und wozu? In welchen Fällen und bei welchem Alter? Offenbar in jedem Alter! In jedem Fall, wenn nur die "immer teurere Behandlung" bezahlt werden kann! Hat diese säkularisierte Gesellschaft etwa Angst vorm Sterben? Warum denn nur? Mit der "steigenden Rentnerzahl" steht das alles in keinem Zusammenhang.
Eher führt es weiter, sich an die Mumienreligion der alten Ägypter zu erinnern. Da war es nämlich genauso. Bei der Mumifizierung, bemerkt der Ägyptologe Jan Assmann, haben die Menschen es eben "nicht bei Amuletten und Zaubersprüchen bewenden lassen, sondern ihr ganzes anatomisches und chemisches Wissen zur Anwendung gebracht." Welche Menschen? Es gab einerseits eine Ideologie für alle, die den "Gerechten", sich sozialkonform Verhaltenden eine Chance zum Nachleben verhieß. Es gab andererseits Klartext für Eingeweihte, Mächtige und Zahlungskräftige. Da war Nachleben dann plötzlich nicht mehr an geistige, sondern an körperliche Methoden des Weiterlebens gebunden, wie sie heute die Biotechnologie zu entwickeln sucht. Bei einem anderen Forscher lese ich, dass eben die Notwendigkeit, den Mumienkult zu unterhalten, "den Niedergang des Alten Reiches bestimmt" hat: "Das memphitische Königtum verarmt durch die ständige Verteilung von königlichen Ländereien, deren Erträge der Versorgung der Gräber dienen, an seine Beamten und an die Tempel." Heute werden nicht Länder, sondern staatlich bezahlte Forschungsziele und -ergebnisse verteilt, nicht von Königen, sondern von Schröder, und nicht an Beamte, sondern an Privateigentümer; letzteres deshalb, weil die Mächtigen unseres Gemeinwesens sich nicht mehr auf den Grundsatz berufen, dass der Staat die Schwachen von der Starken schützen muss, wie es die Pharaonen noch taten und darum eben Beamte aufboten. Das andere ist gleich geblieben. Wir steuern wieder auf eine Art Mumienkult zu, den sich wieder nur wenige leisten können, und das Gemeinwesen ist deshalb wieder im Niedergang.
Und Schröder tritt seine zweite Halbzeit an, wahrscheinlich mit dem Ergebnis eines zweiten Heimsiegs. Ist das interessant? Jedenfalls ist daran weniger das Spielfeld interessant als die Zuschauertribüne. Wann wird sie sich endlich leeren?
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