Die Redner der Eröffnungsveranstaltung melden herbe Verluste: Von einem Wiederaufleben des Marxismus sei in ganz Europa nichts zu spüren. Obwohl marxistische Positionen oft mehrheitsfähig seien, gebe es keine Bewegung "nach links", klagt Sahra Wagenknecht. In Deutschland sei der akademische Marxismus tot, ergänzt der Politikwissenschaftler Frank Deppe. Tatsächlich, die meisten marxistischen Professoren für Wirtschafts- oder Politikwissenschaft sind schon emeritiert. Wenn die neue linke Partei Stipendien für marxistische Doktoranden ausschreibt, welcher Professor, fragt Deppe, soll sie denn betreuen? Das Schlimmste ist aber, diese Marxismuskonferenz selber stellt keinen Neuanfang dar. So schätzt es jedenfalls der Argument-Herausgeber Wolfgang Fritz Haug ein. Wenn es ein Neuanfang wäre, sagt er, würde die Diskussion der Strömungen organisiert; das sei versäumt worden.
Es gibt aber doch Bewegung, Haug selbst ist das beste Beispiel. Wer hätte gedacht, dass er sich einmal auf Hannah Arendt berufen würde? "Handlungsfähigkeit" war schon immer sein Zauberwort, aber nun hat er von Arendt gelernt, Handeln sei gleichbedeutend mit Neuanfangen. Die Totalitarismus-Theoretikerin wurde früher nur verketzert. Auch dass Uwe-Jens Heuer, Vertreter des "Marxistischen" Forums der Linkspartei, vom "Glauben" spricht, auf den Marxisten angewiesen seien, und sogar das neue Papst-Buch lobend erwähnt, hat man auf solchen Konferenzen noch nicht gehört. Kein Sozialist, sagt er, kann wissen, ob der Sozialismus je Wirklichkeit wird, für den mit so hohem persönlichem Einsatz gekämpft werden muss. Wissen reicht also nicht aus. Um handlungsfähig zu sein, brauche man einen "stabilen, verlässlichen Kerns des individuellen Fühlens". Früher waren Gesetze der Menschheitsgeschichte der Gewissheitsquell marxistischer Kämpfer. Heuers "Glaube" besetzt diesen leer gewordenen Platz.
Zum Glück trifft Haugs Eindruck nicht zu, es sei keine Kontroverse organisiert worden. Kein Streit ist derzeit wichtiger als der um das Verhältnis von Marxismus und Keynesianismus: Ihm ist eine brechend volle Podiumsveranstaltung gewidmet. Hier wird freilich nicht offen gelegt, weshalb Marxisten an Keynes interessiert sein müssen. Wenn Keynes den Kapitalismus retten, Marx ihn überwinden wollte, fragt einer aus dem Plenum, was haben sie dann miteinander zu schaffen? Die Antwort ist im Titel einer anderen Veranstaltung versteckt: "Zur Ware-Geld-Beziehung in einer postkapitalistischen Gesellschaft". Joachim Bischoff, der dort auftreten wird, sitzt hier neben Elmar Altvater und dem entschiedenen Keynes-Gegner Conrad Schuhler auf dem Podium. Dass ein Marxismus, der den Markt abschaffen wollte, obsolet geworden ist, sprechen weder Bischoff noch Altvater aus. Sie scheinen es für ausreichend zu halten, vor dem Hintergrund der bekannten Keynes-Vorliebe der WASG zu diskutieren. So muss es für diesem Samstag Nachmittag genügen, dass die heute herrschende Wirtschaftsdoktrin, der Neoliberalismus, vom Sockel der Alleininterpretation des Marktgeschehens gestoßen wird. Altvater nennt den springenden Punkt: Die Ware-Geld-Beziehung wird von der herrschenden Doktrin nur gleichungsmathematisch behandelt; es werden nur wirtschaftliche Gleichgewichte ausgerechnet, postuliert und in ihrer erwünschten Vollkommenheit beschrieben. Dass aber zwischen Kauf und Geldübergabe Zeit verstreicht, was gelegentlich zur Folge hat, dass Gläubiger auf Schuldscheinen sitzen bleiben, erscheint bloß als Anomalie. Keynes hatte den simplen Umstand ins Zentrum seiner Theorie gestellt, nachdem schon Marx´ Geldtheorie von ihm ausgegangen war. Es ist ein Umstand, der irgendeine Art von Wirtschaftsplanung unvermeidlich macht. An dieser Stelle hätte die Frage nicht schamhaft verschwiegen werden dürfen: Strebt der neue Marxismus Planung an, um sich der Ware-Geld-Beziehung trotz ihrer Zeitlichkeit bedienen zu können, oder will er ein weiteres Mal versuchen, die Ware-Geld-Beziehung zwecks Planung abzuschaffen?
Immerhin die Frage, an welche Realitäten denn angeknüpft werden kann, wird schon in der Eröffnungsveranstaltung aufgeworfen. Die meisten Redner - Deppe, Wagenknecht, Robert Steigerwald von der DKP und der Trotzkist Manuel Kellner - hoffen auf Lateinamerika. Dort gibt es Verstaatlichungen, und die Massen gehen auf die Straße. In dem erwähnten Seminar "Zur Ware-Geld-Beziehung" von Joachim Bischoff und Christoph Lieber wird das Thema kritisch weiterverfolgt. Die vom Chavéz-Berater Heinz Dieterich vorgeschlagene "sozialistische Äquivalenzökonomie" geht über das in Ansatz marktfremde Modell der Sowjetunion nur technisch hinaus: Der Computer ist das neue Allheilmittel, mit ihm kann die Planungsinstanz den nationalen Bedarf besser erfassen. Damit ist aber das ökonomische Grundproblem verkannt. Denn der Bedarf muss sich auch im Sozialismus spontan entwickeln, das heißt jederzeit verändern können: Da das nur im flexiblen Medium des Marktes möglich ist, kommt nur dieser - und nicht unmittelbar der Bedarf - als Gegenstand von Planung in Betracht.
China scheint im Bewusstsein der meisten Konferenzteilnehmer nicht zu existieren. Der chinesische Weg wird weder vom Eröffnungspodium als Alternative zur "bolivarischen Revolution" benannt, noch vom Podium über Keynes als Prüfstein für dessen Annahmen. Doch Rolf Berthold, früherer Botschafter der DDR in Peking, bestreitet ein Seminar "Marxistische Debatte in China über den Weg zum Sozialismus". Er stellt Beschlüsse und Papiere der KP Chinas vor. Für die chinesischen Kommunisten, erfährt man, ist der reale Sozialismus nicht beendet, auch wenn das Ende der Sowjetunion ein Rückschlag gewesen sei. Die sowjetischen Sozialisten hätten den Fehler gemacht, die sehr lange Dauer eines sozialistischen Aufbaus zu unterschätzen. Weil China noch ganz am Anfang stehe, stehe es in Ware-Geld-Beziehungen. Erst einmal gehe es darum, bis 2050 die Armut zu bekämpfen - und Berthold scheint zu glauben, dass dann der Markt wieder abgeschafft wird.
www.marxismuskonferenz.de
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