Menschenrechte einmal anders

Zwangsarbeiter-Entschädigung Die deutsch-amerikanische Regierungsvereinbarung fußt auf einer alten Nationalstaats-Doktrin, während staatliche Souveränität zunehmend in Frage gestellt wird. Doch das ist nur scheinbar ein Anachronismus

Die beabsichtigte große Geste sei im Gezerre um juristische Fragen fast untergegangen, schreibt der Berliner Tagesspiegel. Das ist nicht nur wahr, sondern auch erfreulich. Denn infolge des "Gezerres" kam die in die Geste eingewickelte Realität zum Vorschein.

Die juristische Konstruktion war doch hochinteressant: Die Wirtschaft zahlt nur aus, wenn "Rechtssicherheit" besteht. Die ist gegeben, wenn die betroffenen Unternehmen "darauf bauen können", dass Klagen vor amerikanischen Gerichten in Zukunft abgewiesen werden. Wann können sie es? Wenn die Gerichte sich für unzuständig erklären, indem sie auf die deutsch-amerikanische Regierungsvereinbarung verweisen. Man hoffte also, sie würden sich dieser Vereinbarung unterordnen. Wie verträgt sich das mit der Gewaltenteilungslehre? Dazu lesen wir in der FAZ, einer amerikanischen "Act-of-States"-Doktrin zufolge falle es nicht in die Zuständigkeit von Gerichten, sich mit außenpolitischen Angelegenheiten zu befassen.

Und nun hat ja die amerikanische Regierung in jener Vereinbarung festgestellt, die Klageabweisungen lägen im außenpolitischen Interesse der USA. Als daher jetzt ein Berufungsgericht auf die Feststellung Bezug nahm und sie anerkannte, konnte die deutsche Seite ihrerseits erkennen, dass die erwünschte "Rechtssicherheit" gegeben war.

Der Vorgang ist sensationell, wenn man bedenkt, dass die Debatte über Menschenrechtsfragen - um eine solche handelt es sich bei der Entschädigung für Zwangsarbeit - sich seit zehn Jahren in eine ganz andere Richtung entwickelt. Die vielberufene Weiterentwicklung des Völkerrechts läuft ja gerade darauf hinaus, dass Gerichte Behördenakte nicht nur des eigenen Staates, sondern auch anderer Staaten zum Gegenstand der Be- und Verurteilung machen können, wenn Menschenrechte betroffen sind. Hier aber sollen sie aufhören, sich in die Angelegenheiten des Staates, der für die Menschenrechtsverletzung verantwortlich ist, noch weiter einzumischen. Es ist, als sähe eine chilenisch-spanische Regierungsvereinbarung vor, dass Pinochet nicht vor ein spanisches Gericht gestellt werden darf.

Wer nun noch dem Hinweis auf die "Act-of-States"-Doktrin nachgeht, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie stammt aus dem 19. Jahrhundert und tritt als Schlussfolgerung aus dem Prinzip auf, dass jeder souveräne Staat verpflichtet sei, die Unabhängigkeit jedes anderen souveränen Staates anzuerkennen. Das ist gerade das Prinzip, von dem es sonst heißt, es gelte bei Menschenrechtsverletzungen nicht mehr. Dann gilt aber auch die Doktrin nicht mehr, der zufolge kein Gericht die Wirksamkeit oder Rechtmäßigkeit von Hoheitsakten eines anderen Staates prüfen darf, außer wenn sie geeignet sind, auch in den eigenen Staat hineinzuwirken.

Wenn die FAZ meint, die Doktrin fordere die Gerichte auf, sich nicht in Vorgänge einzumischen, die vom Außenminister bearbeitet werden, so irrt sie. Denn es kann ja sein, dass der Außenminister den anderen Staat vor der Beurteilung durch die eigenen Gerichte zu schützen versucht, obwohl die Behörden des anderen Staates in den eigenen hineingewirkt haben. Eben mit einem solchen Fall haben wir es zu tun: Amerikanische Bürger sind betroffen. Da liegt es doch nahe, dass die Gerichte sich über die amtliche Außenpolitik hinwegsetzen, gerade wenn sie die Doktrin beherzigen. Wir sehen also, von "Rechtssicherheit" kann gar keine Rede sein. Es hat jetzt ein Berufungsgericht einer Regierungsvereinbarung zugestimmt. Andere Gerichte können wieder anders entscheiden. Und sollte man nicht auch erwähnen, dass die "Act-of-States"-Doktrin vom Supreme Court schon seit 1972 nicht mehr anerkannt wird?

Eine andere Frage ist aber noch interessanter: Wie konnte es Gerhard Schröder gelingen, für deutsche Verbrechen eine Sonderbehandlung durchzusetzen, die dem Trend der Völkerrechtsentwicklung zuwiderläuft? Soll man antworten, dass dieser Trend sich eben nur auf Staaten und ihre Behörden, nicht aber auf die Wirtschaft bezieht? Dann wäre das die Realität, die zum Vorschein kommt: Dass die deutsche Wirtschaft als Sektion des globalisierten Kapitals eine Souveränität behalten hat oder gerade neu erwirbt, die den Staaten immer mehr abhanden kommt. Nicht für Jugoslawien, wohl aber für Siemens stünde der Souveränitäts-Vorbehalt in voller Geltung. Es würde halt einen Unterschied machen, ob Staaten oder Kapitalgruppen die Menschenrechte verletzen: Gegen erstere führt man Krieg, von letzteren lässt man sich die Bedingungen diktieren. - Wie gut, dass wenigstens die große Geste misslang.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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