Merkels Kirch-Hof

Nach der Wahl ist vor der Wahl Die Politik bleibt unverändert, aber man wird sie besser verstehen

Was wird nach dem 18. September anders? Viele Regierungskonstellationen sind denkbar, doch wahrscheinlich führen die Mehrheitsverhältnisse zur schlichten Fortsetzung der bisherigen Politik. Die Anwesenheit der Linkspartei im Bundestag verspricht allerdings eine neue Debattenlage. Legitimationsverlust des Neoliberalismus wenigstens in der SPD, möglichst auch in der Union wäre die erwünschte Folge. Wie schnell sie eintritt, wissen wir nicht.

Wenn Union und FDP die absolute Mehrheit gewinnen, wird sich freilich manches ändern. Es sieht nur im Moment nicht mehr danach aus. Indem Angela Merkel eine Mehrwertsteuererhöhung ankündigte, hat sie ihre Siegchancen vermindert. Sie sah es selbst und wollte es durch die Nominierung Paul Kirchhofs für das Amt des Bundesfinanzministers wieder gut machen. An ihrem Willen, Steuern im Prinzip nicht erhöhen, sondern senken zu wollen, würde nun niemand mehr zweifeln können, dachte sie. Es war ein unbeholfenes Manöver, das ihren Fehler erst richtig schlimm machte. Denn viele Bürger, die aus Ärger über den Kanzler zur Union übergelaufen waren, begriffen wahrscheinlich jetzt erst, dass Merkel Gerhard Schröders Politik gar nicht verändern, sondern nur zuspitzen und beschleunigen will. Dem Fernsehduell Merkel - Schröder konnten sie entnehmen, welche Richtung mit Kirchhof angezeigt ist. Seitdem sinken die Umfragewerte der Union.

Nehmen wir trotzdem einmal an, Merkel wird Kanzlerin einer Bundestagsmehrheit aus Union und FDP. Dann wird sie die Umsetzung ihrer wirtschafts- und sozialpolitischen Nahziele zügig einleiten: Senkung des Spitzensteuersatzes von jetzt 42 auf 39 Prozent; Abschaffung der Pendlerpauschale, der Nacht- und Sonntagszuschläge; die erwähnte Mehrwertsteuererhöhung; Herbeiführung "betrieblicher Bündnisse" ohne Gewerkschaftseinfluss per Gesetz; Aussetzung des Kündigungsschutzes in Betrieben mit bis zu 20 Beschäftigten; die Kopfprämie als Grundlage der Krankenversicherung; die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Erziehungsleistungen sollen laut Unionsprogramm im Steuerrecht und in den Sozialversicherungen stärker honoriert werden, doch wo das Geld dafür herkommt, wenn die Steuereinnahmen weiter sinken, ist schleierhaft.

Man muss sich Merkels Persönlichkeit bei der Durchsetzung dieser Politik vorstellen. Mit der Idee, die Berufung Kirchhofs würde ihre Wahlchancen erhöhen, hat sie noch einmal ihre naiv doktrinäre Haltung offenbart. Sie glaubt wirklich an die neoliberale Theorie. Wenn die Steuereinnahmen erst einmal sinken, steigen sie bald umso mehr, wird sie "den Menschen" erklären. Der größere steuerliche Grundfreibetrag für Eltern muss dann warten, aber ja nicht für lange. Welche sozialen Leistungen sie zusammenstreicht, um die angeblich nur vorübergehenden Steuerausfälle zu kompensieren, wird man sehen. Aber sie wird schnörkellos handeln und sich ehrlich wundern, wenn "die Menschen" nicht mit ihr zusammen geduldig auf höhere Steuereinnahmen warten. Oder darauf, dass die Unternehmer nach der Lockerung des Kündigungsschutzes mehr Arbeitsplätze schaffen. Als Überzeugungstäterin wird sie die "betrieblichen Bündnisse" konfrontativ herbeiführen wollen, mit der Folge von Arbeitskämpfen.

Doch wie gesagt, es ist gar nicht wahrscheinlich, dass sie Kanzlerin einer schwarz-gelben Koalition wird. Nach Lage der Dinge dürfte es zu eben der Großen Koalition kommen, die in der Woche vor der Wahl von allen Beteiligten so heftig ausgeschlossen wird. Auch so wird Merkel Kanzlerin, aber das ändert dann nichts. Denn eine Große Koalition besteht seit 2003, als die Hartz-"Reformen" eingeleitet wurden, faktisch sowieso. Denkbar ist immerhin auch eine Minderheitsregierung der Union, vielleicht gar der SPD. Die SPD könnte bereit sein, eine Unionsregierung zu tolerieren. Eine Minderheitsregierung der SPD könnte umgekehrt nur von der Union toleriert werden, nicht von der Linkspartei, es sei denn, Schröder tritt ab und macht Müntefering Platz; aber das sind keine realistischen Varianten. Jedenfalls würden auch Minderheitsregierungen unter Merkels oder Schröders Führung die bisherige Politik fortführen.

Dasselbe gilt für eine Ampelkoalition unter Schröders Führung. Auch da müsste sich Schröder wegen der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat mit der Union einigen. Was hat diese Wahl dann überhaupt für einen Sinn? Der einzige Sinn, den sie haben könnte, wäre eine entschiedene Föderalismusreform, für die es in der Tat eine Große Koalition bräuchte. Wenn es nämlich gelänge, die ständige Wechselblockade von Bundestag und Bundesrat verfassungsrechtlich zu beenden, würden wirkliche Politikwechsel in der Folge späterer Wahlen wieder möglich. Diese Blockade macht ja auch um eine schwarz-gelbe Merkel-Regierung keinen Bogen, da Merkels Politik mit der Abwahl vieler CDU-Landesregierungen bezahlt werden müsste. Man erinnert sich noch: 1998, als Schröder Kanzler wurde, beherrschte die SPD auch den Bundesrat - aber nur noch für ein paar Monate.

Nun, diese Wahl hat einen weiteren Sinn, der im Einzug einer starken Fraktion der Linkspartei liegt. Alles, was Union und SPD von da an gemeinsam tun, wird dann durch begabte, in den Medien beachtete Redner der Linkspartei immerzu auf das Prinzip Kirchhof zurückgeführt werden. Man hat gesehen, was Schröder im Fernsehduell bewirkte, als er behaupten konnte, auf Steuersenkungen à la Kirchhof laufe nur Merkels Politik hinaus, seine aber nicht. Die Umfragewerte der Union sanken deutlich. Aber in Wahrheit hat auch die SPD seit Jahren - seit Lafontaines Weggang - kein anderes Konzept mehr als das der Steuersenkung. Das ist ja der Grund, weshalb der Staat immer mehr "verschlankt" werden muss. Wenn Lafontaine, Gysi und andere den Zusammenhang immer wieder erläutern, werden bald alle verstanden haben.


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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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