Vor 750 Jahren, im Mai oder Juni 1265, wurde er geboren. Ein Pflichtanlass, sich seiner zu erinnern? Ich denke, es ist mehr. Schon deshalb mehr, weil wirklich brauchbare – genaue, lesbare, gut kommentierte – Übersetzungen seines wichtigen Werks, der zwischen 1306 und 1321 (seinem Todesjahr) geschriebenen Commedia, erst seit den vergangenen Jahren erhältlich sind. Es heißt jetzt auch wieder so: Commedia. Zur Göttlichen Komödie war es erst in der Generation nach Dante Alighieri geworden, erst Boccaccio, der als Ahnherr der Dante-Bewunderung gilt, fügte das Beiwort Divina hinzu. Doch wie Lessing sagt, wollen Dichter „weniger erhoben / und fleißiger gelesen sein“. Das ist, was Dante angeht, jetzt besser möglich.
Wenn er eine „Komödie“ vorlegt, so liegt darin zweierlei: Erstens der gute Schluss, auf den die Dichtung hinausläuft, und zweitens, dass der Dichter hohen und niederen Stil durcheinander verwendet. Den niederen hatte die alte Kunstlehre aus der Tragödie ausgeschlossen. Dante ist der erste, der diese Trennung nicht mehr akzeptiert. Sein Buch endet im Himmel, wo Gespräche über hohe Themen geführt werden. Aber es beginnt in der Hölle, wo ihn einmal ein Kopf ansieht, der „so voll“ war „mit Scheiße, dass sich nicht sagen ließ, ob er Laie oder Kleriker war“. Zwischen Anfang und Ende führt es durch den Läuterungsberg, wo man etwa erfährt, dass Caesar „sich beim Triumphzug ‚Regina!‘ anhören musste“ (seine Soldaten verspotteten ihn, weil er schwul war).
Die neuen Übersetzungen stammen von Kurt Flasch, dem großen Mediävisten, und Hartmut Köhler, dem großen Romanisten. Flaschs Version ist 2011 erschienen, zusammen mit dem Band Einladung, Dante zu lesen, und 2013 neu aufgelegt worden und hat mehr als 100 Seiten Anmerkungen. Bei Köhler gibt es sogar so viele Anmerkungen, dass die Commedia bei ihm aus drei Teilbänden besteht (2010, 2011, 2012) – Hölle, Läuterungsberg und Paradies. Die Anmerkungen findet man bei Köhler unten auf den Seiten des fortlaufenden Gesangs, der dabei manchmal auf wenige Zeilen zusammenschrumpft, und man liest sie immer mit Interesse.
Trinität mit Terzinen
Denn Köhler bringt weit mehr als die gelehrte Erklärung der Verse. Durch viele Verweise auf spätere Dichter, die sich auf die Commedia bezogen haben – und alle großen haben es noch in der jüngsten Vergangenheit getan: Borges und Beckett, Solschenizyn, Enzensberger, Peter Weiss –, bekommt man eine Vorstellung von der ungeheuren Nachwirkung; weitere Verweise auf aktuelle Trivialbezugnahmen wie auf das Videospiel Dantes Inferno (2010) lockern den Apparat zusätzlich auf. Mich hat etwa der Hinweis berührt, dass die britische Krimiautorin Dorothy Sayers sich in den letzten zwölf Jahren ihres Lebens nur noch mit der Commedia beschäftigte. 1944 im Luftschutzkeller hatte ihr jemand eine Übersetzung zugesteckt. Sayers wurde dann selbst zur Commedia-Übersetzerin.
Gut und lesbar sind die Übersetzungen von Flasch und von Köhler, dem ich hier die Zitate entleihe, und das nicht zuletzt deshalb, weil sie in Prosa gehalten sind. Plausibel begründen beide, dass Dantes strenge Form, fünfhebige Terzinen mit Reimen, sich auf Deutsch nur um den Preis nachbilden lassen, dass Teile und Nuancen des Sinns verloren gehen. Natürlich nimmt das einer guten Nachdichtung nicht schon ihren Wert. Die bislang letzte hatte Thomas Vormbaum 2004 vorgelegt. Doch da eine einmalige Lektüre ohnehin nicht ausreicht, kann man verschiedene Fassungen der Commedia, ob in lyrischer oder in Prosaform-Übersetzung, auch parallel lesen.
Oder man liest bei Köhler gleich den italienischen Urtext mit. Köhler lässt auch von einem zentralen poetischen Merkmal Dantes nicht: In seiner Übersetzung beginnt mit jeder Terzine ein neuer Absatz. Terzinen sind aufeinander bezogene Strophen aus jeweils drei Versen nach dem Reimschema a-b-a, b-c-b und so weiter. In dieser Form schlägt sich von Anfang an die göttliche Trinität nieder, die bei Dante doch erst im letzten, 100. Gesang thematisch wird. Sie wird es mit der überraschenden Pointe, dass Dante sich selbst in ihr wiedererkennt. Er nimmt wörtlich, dass der Mensch das Ebenbild Gottes sei.
Die Commedia ist so reichhaltig, dass wir hier nur an ihrer Oberfläche kratzen können. Die Hölle zu lesen ist noch nicht schwer, weil sie zwar schrecklich ist, aber handfeste Szenen enthält; und weil sie zwar von Allegorien wimmelt wie das ganze Werk, aber doch niemand behaupten wird, dass sie selbst eine ist. Die Hölle gibt es wirklich, das wird niemand bestreiten. Die meisten Menschen haben sie schon einmal durchwandert, auf diese oder jene Art.
In Dantes Hölle begegnen wir Francesca da Rimini und Graf Ugolino. Francesca ist eine verheiratete Frau, die berichtet, wie sie zusammen mit dem Bruder ihres Gemahls ein Buch über die Liebe las und wie dann beide von ihr ergriffen wurden. An jenem Tage lasen sie nicht weiter. In der Hölle angekommen, werden sie „nach hier, nach dort, nach oben, nach unten“ geworfen. Ugolino hat Furchtbares erlebt: Seine Feinde sperren ihn und seine Kinder in einem Turm, die Kinder verhungern. Die Frage, ob er sie aufisst, nachdem sie vor ihm gestorben sind, lässt Dante offen. Köhler merkt an, der tiefere und wahrhaft höllische Sinn liege darin, dass Ugolino keine Möglichkeit hat, ihnen Trost zu spenden. Schon an diesen Beispielen fällt auf, dass es unklar ist, ob Dante wirklich von einem Totenreich spricht oder nicht eher von der Hölle im Leben. Bei Ugolino handelt es sich nicht einmal um eine Metapher. Seine allegorische Strafe und der Grund, weshalb er nach göttlichem Ratschluss in die Hölle der Toten eingewiesen worden sein soll, treten hinter dem, was er im Turm erlebt, zurück.
Dante selbst deutet an, dass er vom Leben schreibt. Denn kurz vor Ugolino tritt einer auf, der zum Zeitpunkt des Höllenberichts noch gar nicht tot ist. Befragt, wie er zugleich leben und in der Hölle sein kann, erwidert der Betreffende, Bruder Alberigo: „Sobald die Seele Verrat begeht, wie ich es tat, wird ihr der Körper von einem Dämon weggenommen, der ihn beherrscht, bis seine Lebenszeit um ist.“ Daher sieht man „droben noch den Körper des Schattens, der da hinter mir überwintert“. Alberigo steckt nämlich im Eis, nur sein Oberkörper ragt heraus. Auch dieses Bild ist weithin bekannt, obwohl wenige von seiner Herkunft wissen dürften: In einem Gedicht von Stéphane Mallarmé steckt ein Schwan im Eis. Pierre Boulez hat es vertont.
Nehmen wir noch zwei Höllenfiguren dazu, die der Sekundärliteratur teuer sind: Odysseus und Farinata. Auch bei ihnen sind es Dinge des Lebens, von denen sie gequält werden. Das geht bei beiden so weit, dass man den Eindruck hat, sie gingen über Dantes Höllenstrafen mit Gleichgültigkeit hinweg. Sie brennen, ja, doch es ist ihnen schnurz. Geistig brennen sie sowieso.
Was Odysseus angeht, folgt Dante der Überlieferung, dass dieser sich zuletzt in den Atlantik gewagt haben soll. Odysseus muntert die Schiffsbesatzung mit einer kleinen Rede auf: „Geschaffen wart ihr nicht, damit ihr lebtet wie die Tiere, vielmehr um Tugend und Erkenntnis anzustreben.“ Köhler nennt das „eine Kernstelle“ der Commedia. Sie ist es deshalb, weil Dante das auch zu sich selbst gesagt haben dürfte. Odysseus’ Schiff erreicht nicht Amerika, dafür aber den Läuterungsberg, von dem Dante sich vorstellt, dass er auf der Rückseite der Erde liegt, und zerschellt an ihm. Was hier auffällt, ist die Nachwirkung bis hin zu Enzensbergers Untergang der Titanic. Poetisch spielt Hans Magnus Enzensbergers Werk auf westdeutsche 68er-Kommunisten an, die hoffnungsvoll nach Kuba reisen und dort ernüchtert werden. Enzensbergers Gedicht trägt den Untertitel Eine Komödie und hat 33 Gesänge, von denen der erste aus freien Terzinen besteht.
Im Gesang über Farinata, einen politischen Gegner Dantes, fällt die Plastizität der Schilderung auf: Kaum haben er und Dante über dessen Vorfahren zu sprechen begonnen, „da schob sich hinter diesem ein weiterer Schatten über den Rand seines offenen Sarges, aber nur bis zum Kinn: Ich denke, er hatte sich auf die Knie erhoben. Suchend schaute er zu mir herüber, als wünschte er, es käme noch jemand mit mir. Doch als er sich nach einer Weile in dieser Hoffnung getrogen sah, sagte er weinend: ‚Wenn du doch dank deinem hohen Ingenium in diesen blinden Kerker kommen darfst, wo ist dann mein Sohn? Warum ist er nicht bei dir?‘“
Der Romanist Erich Auerbach (1892 – 1957) hat hier eine in der Literaturgeschichte ganz neue Fähigkeit gesehen, Einzelheiten sinnlich nahezubringen. Sicher hat er Goethes kleinen Aufsatz gekannt, in dem dieser dieselbe Errungenschaft an einem von Dante beschriebenen Bergrutsch weiter unten in der Hölle rühmt. Beide, Goethe wie Auerbach, verweisen darauf, dass Dante auch ein Zeitgenosse und Freund Giottos war, des berühmten Malers der Frührenaissance. Auerbach hält Dantes stilistischen Fortschritt gar für so bedeutend, dass er schreibt, mit ihm beginne eigentlich erst die große Literatur. Wenn man mit Ernst Robert Curtius (1886 – 1956), einem anderen großen Romanisten, das Entgegengesetzte betont: dass Dante die Tradition der antiken Rhetorik aufrechterhält und ausschöpft und der Neuzeit anempfiehlt, hat man Auerbach deshalb nicht widersprochen. Im Gegenteil. Ein nachhaltiger Neubeginn ist immer auch eine Brücke.
Flämmchen auf Fußsohlen
Von der Hölle im Leben weiß Dante genug, weil er selbst durch sie gegangen ist. Das unterscheidet ihn nicht von anderen, ungewöhnlich ist aber, dass er es in so drastischer Form zum Thema seiner Dichtung macht. Farinata war sein Parteigegner. Von den Parteiverhältnissen erfahren wir viel in der Commedia. Es gab in Florenz wie anderswo Guelfen und Ghibellinen – Papsttreue und Kaisertreue –, außerdem unter den Guelfen selbst wieder zwei Strömungen. Dante wurde als Mitglied der einen von der andern ins dauerhafte Exil gezwungen, wofür er Bonifaz VIII. glaubte verantwortlich machen zu können.
Gegen diesen amtierenden Papst war er zudem aus Gründen eingenommen, die über sein persönliches Schicksal hinausreichten. Ein Papst, meinte er, müsse einem Kaiser zwar frei entgegentreten können, dürfe aber nicht versuchen, sich selbst zum Überkaiser zu machen. Das tat Bonifaz noch extremer als andere vor ihm und bereitete dabei doch nur die Übersiedlung der Päpste nach Avignon, die zeitweilige französische Gefangenschaft der Kirche vor. Dante liegt nicht nur am Papsttum viel, sondern auch an den deutschen Kaisern, die er beschwört, das von Kriegen durchwirrte Italien endlich zu befrieden.
Seine Vorstellungen über das Kaiser-Papst-Verhältnis entwickelt er in dem Buch De monarchia, die Commedia aber könnte gut als Pamphlet gegen Bonifaz beschrieben werden. Dabei genügt es dem Dichter nicht, den noch lebenden Papst für die Hölle zu designieren, wo er kopfüber in der Erde stecken soll, während auf seinen Fußsohlen Flämmchen züngeln – Sinnbild der Verkehrung des Pfingstwunders, wo der flammende Geist auf die Köpfe der Jünger Jesu kam –, sondern immer wieder, selbst noch im Paradies, kommt er auf den Gehassten zurück.
Dantes persönliche Hölle lässt sich erahnen. Wenn er am Beginn der der Commedia durch den Wald irrt, begegnet ihm ein Pardel, ein Raubtier. Dessen Symbolik besagt, dass Dante verführt wird – nur zu welcher Art von Lust? Sollte es Homosexualität gewesen sein? „Wie lebte eigentlich all die Jahre über dieser Verbannte“, fragt Köhler, „der ja erst siebenunddreißig Jahre zählte und dessen Ehefrau – einer guten Florentiner Gewohnheit gemäß – nicht mit in die Verbannung geschickt wurde? War die Gewohnheit auch für den Verbannten gut? War er, wie vielfach suggeriert wird, durch eine ‚Abirrung vom rechten Wege‘, mit der ja die Commedia einsetzt, so abgeschreckt, dass alles Begehren nur mehr ins Überirdische gehen sollte?“
Als ein anderer Exilierter, dem Dante in der Hölle begegnet, ihm sagt, er sei schwul geworden, weil seine Frau ihn nicht herangelassen habe, reagiert er ohne Zögern: „Wäre ich vor dem Feuer geschützt gewesen, ich hätte mich unten zwischen sie hineingeworfen.“ Ziemlich deutlich wird, dass er in seiner dunklen Lebensmitte kurz davor stand, sich das Leben zu nehmen. Davon hält ihn nur Beatrice ab, die angebetete Frau, die längst tot ist, ihm aber vom Himmel sein Dichtervorbild Vergil schickt; der hält ihn vom Selbstmord ab. Er führt ihn durch die Hölle und ist auch noch auf dem Läuterungsberg sein Begleiter. Danach übernimmt Beatrice die Wanderführung.
Aber Dante hat auch an Parteikriegen teilgenommen, und auch das spiegeln die Höllenszenen. Wenn man liest, wie die verblödeten Teufel im achten Kreis der Hölle ihrem Sadismus freien Lauf lassen – die Opfer sind im Pechgraben, und immer wenn eines den Kopf über die siedende Oberfläche hebt, feuern sie einander an: „Ho, stech ihm die Zinken in den Rücken, reiß ihm die Haut ab!“ –, denkt man an aktuelle Szenen der Grausamkeit, etwa diese aus Sierra Leone, die uns Peter Scholl-Latour erzählt hat: Kindersoldaten fangen den nächstbesten Passanten ab, besaufen sich und würfeln, welche Extremität ihm abgeschnitten werden soll. Gut, das siedende Pech macht die Szene irreal; aber wenn man das vernachlässigt, bleibt erzwungenes Ertrinken übrig. So wenig Dantes allegorische Darstellungsart heute noch weiterverfolgt werden könnte und sollte: Dass sein Realismus aus der Literatur so gut wie verschwunden ist, ist doch bedauerlich. An Romanen über Schwulenschicksale oder Fälle von Selbstmord fehlt es nicht, aber wo transzendieren sie noch das Private? Wo sind sie noch politisch engagiert, wo lenken sie den Blick auf kollektive Sadismen?
Eine Literatur, die das ausblendet, kann die realistisch genannt werden? Wie bei Dante deutlich wird, ist Realismus mehr als ein formales Verfahren; er ist von der Suche nach Wahrheit nicht zu trennen, deren Ort das bloß Private nicht ist. Die Commedia ergeht sich in ausgesuchten Allegorien und ist doch realistischer als mancher heutige Roman, der uns nacherzählt, was wir selbst jeden Tag erleben. Wenn mit Dante die große Literatur beginnt, haben wir dann heute noch große Literatur?
Wenigstens eine Allegorie sei näher betrachtet, selbst wenn auch das wieder nur oberflächlich geschehen kann. Am Ende des Läuterungsbergs übernimmt also Beatrice die Wanderleitung. Die Begleitumstände zeigen abermals, welch tiefe Spuren Dante in der Kunstgeschichte hinterlässt und wie frühere von späterer Kunst erhellt werden kann, ohne sie manchmal sogar unverständlich bliebe.
Gestalten zum Greifen
Oben auf der Bergkuppe befindet sich das irdische Paradies. Von dort aus werden Dante und Beatrice ihren Flug in einen ganz astronomisch (und noch ptolemäisch) gedachten Himmel antreten. Doch wie kommt Dante ins Paradies hinein? Er muss einen Feuerring durchschreiten, wie es ja schon in der Genesis heißt: Der das Paradies bewachende, Adam und Eva vertreibende Engel trage ein Flammenschwert. Wie man hinauskommt, so kommt man auch wieder hinein. Das führt Jahrhunderte später auch Richard Wagners Siegfried vor, der die von einem Flammenring umschlossene Brünnhilde findet, die auch eine Art Engel ist, ein Kriegsengel. Bei Wagner wie bei Dante wird betont, dass der Gang durchs Feuer Mut erfordert. Aber während Siegfried jenen Mut ohne Weiteres hat, muss Dante erst mit Hilfe Vergils seine Angst überwinden. Die Hilfe besteht darin, dass Vergil ihn an seinen Wunsch erinnert, Beatrice zu begegnen.
Wer ist diese Frau, und wie kann Dante sie geliebt haben? Wie Dante in einer früheren Dichtung erzählt, ist er einer Beatrice einmal auf der Straße begegnet, als diese zwölf Jahre alt war. Kurz danach ist sie gestorben. Die Vermutung liegt nahe, dass Dante sie als Symbol aufbietet. Dieses Symbol verändert aber auf dem Weg von der frühen Dichtung zur Dichtung des Exilierten seinen Gehalt. In der 1295 vollendeten Vita Nova trägt sie Züge der angebeteten Herrin des Minnesangs; im wohl zwischen 1308 und 1314 geschriebenen Läuterungsberg tritt sie im Kontext einer allegorisch dargestellten Kirche auf.
Herrin ist sie geblieben, auch Angebetete, aber nun kommt hinzu, dass sie Dante herzhaft beschimpft. Wie kann sie ihm aber vorwerfen, er sei ihr untreu geworden? Sollte er etwa einer verstorbenen Zwölfjährigen, mit der er nie ein Wort gewechselt hat, durch lebenslange Abstinenz Treue beweisen? Das kann der Dichter nicht gemeint haben.
Auf Umwegen hilft Goethe weiter. Im ersten Akt von Faust II bringt er einen Karnevalszug der italienischen Renaissance auf die Bühne. Auf einem der Prozessionswagen sitzt Plutus als Sinnbild des Reichtums. Der Geiz läuft hinter dem Wagen her, der „Knabe Wagenlenker“ jedoch, der die ziehenden Pferde dirigiert, ist die Poesie (er bezeichnet sich selbst so), die aus dem Überfluss schöpft und diesen keineswegs für sich behält. Im Kirchenzug der Commedia wird ebenfalls ein Wagen mitgeführt, und die Kirche ist dieser Wagen, und ihn ersteigt: Beatrice. Hier fällt uns auch Wagner noch einmal ein. Er könnte an diesen Zug gedacht haben, als er das erste Zwischenspiel im ersten Aufzug des Parsifal schrieb. Da erzählt die Musik den Niedergang der Kirche im Lauf der Jahrhunderte, und eben dasselbe versinnbildlicht Dante an der Prozession des Wagens.
Wichtiger als der Sitz auf dem Wagen ist die Kraft, die ihn bewegt– bei Goethe also die von der Poesie gelenkten Pferde, bei Dante Christus in Gestalt eines Greifen, eines Doppelwesens aus Mensch und Tier, dem der Wagen um den Hals gebunden ist. Nun ist Beatrice zwar klein neben dem Greifen, aber doch zusammen mit Dante das Paar der Dichtung. Wen repräsentiert sie als auf dem Wagen Sitzende? Müsste nicht, wenn der Wagen die Kirche ist, oben drauf das Kirchenvolk sitzen oder ein Repräsentant desselben? Oder ein Repräsentant aller Päpste? Beides ist Beatrice sicher nicht. Aber wie Plutus bei Goethe im Überfluss des Reichtums lebt, so lebt sie im Überfließen der Liebe, kraft derer sie sich Dante zuwendet und ihn tadelt, um ihm zu helfen.
Plutus, hinter dessen Karnevalsmaske sich Faust verbirgt – der in dieser Szene auch seinen Dichter repräsentiert – naht nicht ohne seinen Knaben Wagenlenker, der die Bedeutung des Überfließens ins poetische Geben zieht, bevor sich beide einvernehmlich trennen. In der Commedia braucht es keinen Lenker, der Greif weiß selbst, wohin er zieht, zum Baum nämlich, von dem Eva den Apfel nahm. An ihn bindet er die Wagendeichsel, und die Folge ist, dass der abgestorbene Baum wieder ergrünt. Das heißt aber nicht, dass der Platz des Knaben bei Dante leer wäre. Beatrice ist seine Entsprechung. Dante verhält sich zu Beatrice wie Plutus/Goethe zum Knaben.
Wenn Goethes Faust sich zusammen mit einem Knaben zeigt, der die Poesie bedeutet, so schließen wir, dass Dante, wie er in seiner eigenen Dichtung auftritt, sich entsprechend mit einer allegorischen 12-Jährigen verbindet, die ebenfalls die Poesie bedeutet. Beatrice als Allegorie der Kunst? Das würde Sinn machen. Vor allem wäre ihr Vorwurf gegen Dante nicht mehr verrückt. Wem hatte dieser die Treue gebrochen? Von der Commedia her gesehen einer Poesie, die kirchlich zu sein hat. Das war die Vita Nova, die bereits von Beatrice handelt, nicht gewesen. Sie hatte sich vom Kirchenstil gerade abgewendet. Der Treuebruch bestand nicht darin, dass Dante Beatrice verließ, sondern dass er nicht die wahre Beatrice zeigte, schon als er sie dort allererst einführte. Die Beatrice, von der er damals inspiriert wurde, den Minnesang zu erneuern, war nicht die wahre Beatrice gewesen. Diese lernt er erst jetzt kennen: Sie trägt ihm kirchliche Themen auf.
Dantes Poesie soll auf die Kirche bezogen sein. Die Commedia ist es von Anfang an. Ja, seine Poesie ist nach Form und Inhalt ganz anders geworden. Das Exil hat ihn verändert – nicht zum Selbstmord getrieben, aber zu einer ernsteren, für die öffentlichen Kräfte, wie die Kirche eine ist, aufmerksamen Poesie. Keineswegs wird Dante damit wieder zum traditionellen Kirchendichter. Im Gegenteil, seine Poesie kritisiert die Kirche heftig, und wie er schon vor dem Eintritt ins irdische Paradies Gelegenheit hatte, gegen Bonifaz zu polemisieren, schimpft von da an auch Beatrice. Noch bei ihrem letzten Auftritt im Himmel tut sie es und da sogar am schrillsten, was einen merkwürdigen Missklang in den heiligen Sphären ergibt. Ausdrücklich beauftragt sie Dante zuletzt, diese Kritik nach der Rückkehr zur Erde öffentlich vorzutragen. Eine neue engagierte Kunst, für die sie steht, hat ihren Autor gesucht und gefunden.
La Commedia/Die Göttliche Komödie Dante Alighieri und Hartmut Köhler Kassette mit drei Bänden, Reclam 2012, 2.080 S., 89 €
Commedia in deutscher Prosa Kurt Flasch Fischer Klassik 2013, 640 S., 24,99 €
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