Wie sich Norbert Lammert, CDU, eine Erweiterung der Rechte der Opposition im Bundestag vorstellt, dessen Präsident er ist, hat er am Donnerstag voriger Woche in einem neunseitigen Papier bekannt gemacht. Die Opposition wusste sein Entgegenkommen zu würdigen, war aber doch enttäuscht, weil sie mehr erwartet hatte. Die Enttäuschung ist schon allein aus formalen Gründen gut nachvollziehbar. Lammert schlägt kein Gesetz und keine Änderung der Geschäftsordnung vor, sondern will bloß einen Beschluss herbeiführen, den die große Koalition jetzt gewähren und später, wenn sie will, jederzeit wieder zurücknehmen kann. Das ist noch weniger als eine Gnadengabe. Selbst sie geht aber einem wichtigen Politiker wie Wolfgang Schäuble,
le, dem Bundesfinanzminister, zu weit, so dass man sich wohl da-rauf einstellen muss, dass der Lammert-Vorschlag noch verwässert wird. Dabei ist er selbst schon wässrig genug.Einigkeit als VoraussetzungGut, die Opposition soll Untersuchungsausschüsse einrichten, auch den Verteidigungsausschuss in einen solchen umwandeln und die dort zu untersuchenden Gegenstände festlegen können. Ihre Europa-Rechte würden gestärkt. Sie hätte das Recht, Sondersitzungen zu beantragen, öffentliche Anhörungen und Enquete-Kommissionen durchzusetzen. Alles unter der Bedingung, dass sie sich einig ist. Aber eine Klage gegen die Verfassungsmäßigkeit eines von der Regierung beschlossenen Gesetzes wäre ihr nicht gestattet. Denn dazu müsste das Grundgesetz geändert werden: Laut Artikel 93 kann ein Normenkontrollverfahren aus dem Bundestag heraus nur von mindestens einem Viertel seiner Mitglieder in Gang gesetzt werden, während Grüne und Linke zusammen nur auf ein Fünftel kommen. Hier hätte Lammert erkennen müssen, dass nicht nur ein Gesetz, sondern sogar eine Verfassungsänderung vonnöten ist. Die große Koalition wäre auch groß genug, sie zu bewirken. Worum geht es denn, wenn nicht darum, dass eine Opposition dazu da ist, die jeweilige Regierung wirksam kontrollieren zu können? Eben deshalb hat sie selber Verfassungsrang. Ist sie nicht die Institution, an der sich entscheidet, ob die parlamentarische Demokratie ihren Namen verdient? Ohne das Organklagerecht gegen Gesetze kann sie aber nicht wirksam kontrollieren.Weshalb Lammert und die Koalition es nicht zugestehen wollen, lässt sich den Worten Wolfgang Schäubles entnehmen. Vor Wochen schon hatte der Bundesfinanzminister gesagt, die Grünen seien ja selbst schuld an ihrer Ohnmacht im Bundestag, hätten sie sich doch mit der Union zur schwarz-grünen Bundesregierung zusammentun können. Genüsslich malte er aus, wie es den Grünen die Sprache verschlug, als ihnen beim Sondierungsgespräch die Argumente gegen eine solche Koalition ausgingen. Und dann hätten sie doch gekniffen. Das Demokratieproblem einer Opposition, die ihre Verfassungsaufgabe nicht wahrnehmen kann, auf so einer Ebene abzuhandeln, ist natürlich recht unverfroren. Zumal Schäuble auch noch so tut, als bestünde die Opposition nur aus den Grünen und nicht auch aus der Linkspartei. Aber seine Worte nehmen auf die Demokratiefrage durchaus Bezug. Denn so dürften sie gemeint sein: „In der Tat muss es eine Opposition mit wirksamen Kontrollrechten geben. Sie zu garantieren, war aber in diesem Fall Aufgabe der Grünen. Sie hätten mit uns die kleine Koalition eingehen müssen. Die Opposition, bestehend aus SPD und Linkspartei, wäre dann zur Wahrnehmung aller Kontrollrechte groß genug gewesen.“In dieser Ansicht steckt das Demokratieproblem. Denn ohne dass Schäuble es ausspricht, ja wahrscheinlich ohne dass er es denkt – weil es ihm allzu selbstverständlich erscheint –, setzt er voraus, dass sich Regierung zu Opposition wie Union zu SPD oder umgekehrt verhalte, auch noch wie Koalition unter Unions- zu Koalition unter SPD-Führung oder umgekehrt, oder manche (er nicht) würden sagen „wie rechts zu links oder umgekehrt“. Das steht zwar nicht im Grundgesetz. Nach dem Grundgesetz haben neben der kontrollwirksamen Opposition auch die Parteien Verfassungsrang, nicht aber bestimmte Parteien. Und doch zwingt das Quorum im Artikel 93 kleinere Parteien, entweder mit der SPD oder mit der Union zu koalieren, wenn sie wollen, dass Oppositionsrechte hinreichend gewahrt sind.Man darf schon annehmen, dass ein Demokrat wie Norbert Lammert über die entstandene Situation unglücklich ist. Aber er sieht eine „Ausnahme“ in ihr und hält es deshalb für hinreichend, wenn die Betroffenen und Beteiligten sich etwas ungewöhnlich verhalten, ohne dass gleich Recht und Gesetz geändert werden. Damit räumt er, ohne zu wissen und zu wollen, was er tut, den Unionsparteien und der SPD eben doch Verfassungsrang ein – diesen drei bestimmten Parteien, die sich heute zum Beispiel einig sind, die Energiewende zu verlangsamen, um die Kohleindustrie zu schützen.Teile und herrscheDas Beispiel ist exemplarisch. Man sieht von ihm her, wie grundsätzlich unser Problem ist. Denn in ihm zeigt sich, was die faktisch bevorrechteten Parteien eint: dass ihnen die Interessen des Kapitals über alles gehen. Die Energiewende würde auch ohne Kohleindustrie gelingen und ginge dann schneller. Wer weiß nicht, aus welchem Grund es möglichst schnell gehen sollte! Aber was würde dann aus dem Kapital, das in Kohle nun einmal investiert worden ist? So fragen diese Parteien. Die Sozialdemokraten tun es zwar in der Variante „Was würde dann aus den Arbeitsplätzen?“, aber auch das ist Kapitallogik. Oder soll man es arbeiterfreundlich nennen, wenn die Arbeiter und Arbeiterinnen auf ihre kapitalistische Arbeitsfunktion reduziert werden und man von daher zu wissen behauptet, was ihre Interessen seien? Nein, das sind Menschen, deren Denken und Tun über die Reduktion hinausreicht. Die zum Beispiel Kinder haben, von denen sie nicht wollen, dass sie in ökologische Katastrophen hineinwachsen. Wäre der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel wirklich ein Arbeiterfreund, er würde mit diesen Menschen zusammen die schnellstmögliche Energiewende erzwingen.Dass unser Problem ein Demokratieproblem ist, hat vor einem Dreivierteljahrhundert der italienische Kommunist Antonio Gramsci unterstrichen, der in Mussolinis Gefängnis starb. Wie er zeigt, könnte das Kapital gar nicht anders herrschen als in dieser Struktur zweier Parteilager, die gegeneinander stehen und ihm beide verpflichtet sind. Dann findet immer ein Kampf zwischen den Lagern statt, und die Leute glauben, das sei Demokratie. Der Kampf ist nur leider so, dass er zu gravierenden Entscheidungen selbst dann nicht führen könnte, wenn solche von SPD- oder Unionsseite gewollt würden. Denn es ist immer ein Kampf zwischen zwei ungefähr gleich starken Gegnern, die sich wechselseitig blockieren. „Divide et impera“ nennt man das, teile und herrsche. So eine Demokratie ist unvollständig, eben weil es in ihr unmöglich ist, die Kapitallogik mit ihrem unendlichen, der Umwelt schadenden Wachstumsdrang und -zwang durch etwas Besseres zu ersetzen.Bestimmte Parteien, die durch ein Quorum faktisch privilegiert sind, und zwar dafür, Kapitalinteressen durchzusetzen – das ist eigentlich ein Thema für eine Verfassungsdebatte. Aber es sieht nicht so aus, als würde sie geführt werden. Denn so wenig wie Schäuble weiß, weshalb er so redet, wie er redet, sind sich Grüne und Linkspartei ihrer Situation bewusst. Die Grünen wollen ja gar nicht wahrhaben, dass ihr Projekt mit Kapitallogik unvereinbar ist. Die Linke wiederum ist noch begieriger als sie, mit der SPD zu koalieren und sich so der Kapitallogik, die sie in Worten immerzu angreift, auf einem Umweg unterzuordnen. Eine kleine Hoffnung gibt es trotzdem. Gerade weil selbst Lammerts ungenügende Zugeständnisse nur wirksam werden, wenn sich Grüne und Linke zusammentun, erlangen sie in der Zusammenarbeit vielleicht etwas mehr Bewusstsein ihrer Zusammengehörigkeit. Was muss noch alles geschehen, bis die Öffentlichkeit begreift, dass es nicht nur zwei Parteilager gibt, sondern drei – Unionslager, SPD-Lager und Lager der Parteien, deren Hauptprojekte zur Kapitallogik querstehen! Wenn dann das „dritte Lager“ mit der SPD koalieren würde, wäre auch das eine große Koalition, deren Partner sich ihrer grundsätzlichen Verschiedenheit bewusst blieben, und keine kleine.Da müsste viel geschehen. Aber mit der Zusammenarbeit der kleinen Parteien im Bundestag könnte es anfangen.
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