Pilotfall Rosenbrock

IM-VERDACHT Mit der Veröffentlichung der SIRA-Dateien droht eine neue Hetzjagd, diesmal gegen West-Linke

Ein paar Jahre lang konnte man glauben, die Stasi-Hysterie und Bloßstellung ehemaliger »IMs« hänge ursächlich mit der Regierungs- und Definitionsmacht der CDU über die erste Periode des vereinigten Deutschlands zusammen. Sie schien Handhabe zu bieten, Politiker wie Gregor Gysi und Manfred Stolpe, Exponenten der in Ostdeutschland mit der CDU konkurrierenden Parteien, auf einem Nebenfeld niederzumachen. Dieser Versuch brach in dem Maß zusammen, wie die Politik der Kohl-Regierung immer glückloser wurde und schließlich auch vor dem Hintergrund der Stasi-Verdächtigungen nicht mehr leuchtete. Doch jetzt beginnt eine neue Verdächtigungswelle. Diesmal geht es um zigtausend Westdeutsche, die sich, weil sie für die Stasi spioniert haben sollen, der Gefahr des Berufsverbots ausgesetzt sehen. Seit zwei Monaten beschäftigt der Pilotfall des Professors Rolf Rosenbrock vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) die Presse - er wird nicht der einzige bleiben.

Warum gerade jetzt? Weil der amerikanische Geheimdienst CIA der Bundesregierung in den nächsten Wochen die vollständige Kopie einer IM-Doppelkartei übergeben wird, die er in der Wendezeit ergattert hat. Bislang wurden nur ausgewählte Vorgänge mitgeteilt. Es handelt sich um eine Kartei mit Deck- und eine mit zugeordneten Klarnamen. Professor Rosenbrock gehörte schon zu jener Auswahl, an deren Publikwerden die CIA selbst ein Interesse hatte. Bereits 1992 wurde er deshalb in Deutschland vernommen. Die Untersuchung, ob er mit einem IM »Maurer« identisch sei, musste aber ergebnislos abgebrochen werden. Es war ja bekannt, dass die Stasi gelegentlich auch Menschen Decknamen verpasste, die sie ohne deren Wissen abschöpfte. Eine von Rosenbrock unterzeichnete IM-Verpflichtung konnte niemand vorweisen, auch von den Berichten »Maurers« fehlte jede Spur.

Der Fall wurde neu akut, als es der Gauck-Behörde Anfang 1999 gelang, die Stasi-Datei SIRA (»System, Information, Recherche der Aufklärung«) zu decodieren. Das ist eine Art Posteingangsbuch der Stasi: Jeder IM-Bericht wurde hier nach Umfang, Inhalts-Stichwort und Angabe der Quelle erfasst. Da man bereits wusste, dass es einen IM »Maurer« gegeben hatte, war es nicht überraschend, seine Registriernummer hier verzeichnet zu finden. Die Berichte selbst hatte man damit freilich immer noch nicht, und wer sich gar für Verpflichtungserklärungen interessiert, kann mit SIRA überhaupt nichts anfangen. Dennoch ist diese Datei für Rosenbrock nicht unerheblich, taucht er doch einmal im Klarnamen auf - und zwar als Ausgespähter, was nicht gerade für seine Identität mit »Maurer« spricht. Umgekehrt hätte aber der Umstand, dass dieser ihm zugeordnete Deckname nun ausgerechnet in SIRA steht, dem WZB-Professor eigentlich zur Entlastung verhelfen müssen.

Denn die Gauckbehörde selbst hat sich über »Möglichkeiten und Grenzen bei der Recherche in SIRA« eingeräumt: »Konspirative Gründe führten dazu, dass man die abgehörten Informationen als Angaben eines inoffiziellen Mitarbeiters ausgab.« Muss man damit bei IM-Vorgängen ohnehin immer rechnen, wenn keine Verpflichtungserklärung vorliegt, so galt das für SIRA in gesteigertem Maß, denn »in Abweichung von den übrigen MfS-Diensteinheiten führte die HVA (Hauptverwaltung Aufklärung) auch zu Kontaktpersonen, also Personen, die sich nicht für eine Zusammenarbeit verpflichtet hatten, Personalunterlagen.« »Deshalb«, so die Gauck-Behörde, »ist es wichtig, SIRA-Recherchen durch andere Unterlagen abzustützen« - die es im Fall Maurer-Rosenbrock nicht gibt.

Das Auftauchen »Maurers« in SIRA kann aber ohnehin nicht erklären, weshalb Rosenbrock erst im Dezember 1999 von der WZB-Arbeit »freigestellt« wurde, um dann am 21. Januar 2000, ein ganzes Jahr nach der Decodierung jener Datei, fristlos entlassen zu werden. Nun, just im Dezember berichtete der Spiegel. Es war das altbekannte Muster. Irgendjemand hatte dem Magazin Material zugesteckt, das der Betroffene auch danach nur teilweise zu sehen bekam, und der Vorgang gewann eine politische Dimension. Rosenbrock ist zwar nicht mit Gysi oder Stolpe zu vergleichen, man kann aber doch einen typischen hochrangigen Zuarbeiter der rot-grünen Wende in ihm sehen. Er wurde Ende März 1999 in den Sachverständigenrat beim Bundesgesundheitsministerium berufen. »Rosenbrocks Thesen aus dem Jahr 1997«, schreibt die Süddeutsche Zeitung, »lesen sich über weite Strecken heute wie das Gesundheits-Reformprogramm der grünen Gesundheitsministerin Andrea Fischer.« Da ist es doch interessant, dass der Spiegel-Bericht ganz auf Rosenbrocks Rolle in Fischers neuer Gesundheitspolitik abhebt: »Seit Monaten laufen Ärzte und Krankenkassen Sturm gegen ihre Reformpläne (...). Ein glückliches Händchen hat Ministerin Fischer mit der Berufung Rosenbrocks womöglich nicht bewiesen.« Es konnte nicht ausbleiben, dass helfend auch noch die Männerhand eines Spiegel-Redakteurs eingriff.

Rosenbrock ist einer der renommiertesten Gesundheitsforscher in diesem Lande. Die von ihm aufgebaute Forschungseinheit im WZB gehört nach einer Evaluation, die der Wissenschaftsrat 1997 durchführte, zu den »sehr erfolgreichen«. Doch als der Spiegel-Bericht erschienen war, verlor der Professor sofort das Vertrauen der Geschäftsleitung. Nach drei Tagen fand er sich schon »freigestellt«. Er wurde dann gekündigt, obwohl der Betriebsrat Einspruch eingelegt hatte. Die Geschäftsleitung meint, was man in SIRA über den IM »Maurer« erfahre, stimme mit Rosenbrocks »Profil« überein. Maurer wie Rosenbrock haben sich in alternativen Kreisen bewegt - Volksuni, Hilfe für Chile-Flüchtlinge und dergleichen - und sind zugleich im WZB tätig gewesen. Der Spiegel hatte auch hier das Politische gesehen: 1980 habe Rosenbrock »das Stasi-Ministerium mit Material über die Solidarnosc´-Sympathisanten in Westberlin, zu denen auch die heutige Gesundheitsministerin Andrea Fischer zählte«, versorgt. Nur: der Beschuldigte sagt, mit Solidarnosc´-Unterstützung habe er sich »niemals befasst« und »niemals mitgearbeitet«. Müsste sich das nicht nachprüfen lassen? Das wurde aber gar nicht versucht.

In einem an die Mitarbeiter gerichteten Rechtfertigungsbrief teilt WZB-Präsident Friedhelm Neidhardt mit, er und die Geschäftsführerin Christiane Neumann hegten subjektiv keinen Zweifel mehr an der Identität von Rosenbrock und »Maurer«. Besonders glaubwürdig ist das angesichts der Faktenlage nicht. Die »subjektive Gewissheit« wird wohl deshalb so stark betont, weil Rosenbrocks Entlassung mit Fakten nicht begründet werden kann: da bleibt nur das fragwürdige juristische Instrument der »Verdachtskündigung«, für die man eben nur »subjektiv« zu argumentieren braucht. Der Betriebsrat kennt die Dokumente auch, die die Leitung zur Kündigung veranlasst haben, für ihn ist der Fall nicht zweifelsfrei geklärt.

Rosenbrocks Unschuld ist nicht über jeden Zweifel erhaben. Das sollte aber in einem Rechtsstaat nicht handlungsleitend sein. »Im Zweifel für den Angeklagten« müsste gelten. Als seinerzeit Gregor Gysi beschuldigt wurde, gab man sich noch Mühe, aus einem Stasi-Vermerk, der seine Untauglichkeit zum IM bedauerte, etwas irgendwie paradox Ähnliches wie eine IM-Verpflichtungserklärung wenigstens zu konstruieren. In der Welle von Beschuldigungen gegen West-Linke, die jetzt anzurollen droht, scheint man sich auf harte Fakten nun gar nicht mehr berufen zu müssen. Was da auf uns zukommt, lässt die Einleitung eines Tagesspiegel-Artikels vom 10. Februar erahnen: »In den großflächigen Bücherregalen steht alles, was der aufgeklärte 68er braucht. Der Katalog zur George-Grosz-Ausstellung in der Nationalgalerie, Isabelle Allendes ›Geisterhaus‹ als Paperback und die gesamten Marx-Engels-Werke, komplett selbstverständlich und in gebundenem Leinen. ›Natürlich war ich Sozialist‹, sagt Rolf Rosenbrock mit einem Blick, als hätte die Frage gelautet: Waren Sie schon mal in der Kirche?« Wir lernen, dass es sich empfiehlt, von Zeit zu Zeit die alten Bücher zu verbrennen.

Weitere Informationen der Gauck-Behörde über die SIRA-Karteien unter www.snafu.de/~bstu/hva-sira/index.htm

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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