Dem Comic-Zeichner der FAZ, Volker Reiche, fiel zur Föderalismusreform gähnende Langeweile ein. "Auf horizontaler Ebene der Gliederung der Föderation ist häufig eine gegenseitige Lähmung zu beklagen", erklärt der kleine Rafael seinen Stofftieren und der Großmutter beim Zubettgehen und schläft sofort ein. Wenn er gar noch vom "Zugriffsrecht" angefangen hätte, das in der Föderalismuskommission gefordert wird! Langeweile ist ein Effekt von Unverständlichkeit, oft auch, wie jedenfalls die Existenzphilosophie behauptet, von unnennbarer Angst. Mit einer Wort-Null wie "Zugriffsrecht" konfrontiert, unterdrückt man böse Ahnungen und blättert gähnend weiter.
Nach einem Jahr Kommissions-Beratung hat sich jetzt ein Beteiligter herabgelassen, das "Zugriffsrecht" als "verfassungsrechtliches Abweichungsrecht" zu explizieren. Das ist wenigstens etwas klarer. Es geht um das Recht der Bundesländer, Bundesgesetze vor der Ausführung erst einmal eigenständig auszudeuten. Die Organisation der ausführenden Ämter und die konkrete Verfahrensregelung sollen Ländersache sein. Dies fordern die Länder als Preis für das Begehren der Bundesregierung, möglichst viele Bundesgesetze künftig ohne Zustimmung des Bundesrats beschließen lassen zu können. Der Preis ist aber noch höher. Der Bund soll keine Rahmengesetze mehr erlassen dürfen. Ein Rahmengesetz legt bisher eine Materie, zum Beispiel das Hochschulwesen, im Allgemeinen fest und behält den Ländern die Regelung der Einzelheiten vor. Und künftig? Wie man leicht sieht, würden sich nach dem Ländervorschlag alle Bundesgesetze, unter dem Schein einer Abschaffung der Rahmengesetzgebung, in bloße Rahmengesetze verwandeln.
Bundesgesetze im vollen Wortsinn gäbe es gar nicht mehr. Was aber von ihnen übrig bliebe, die faktischen Bundesrahmengesetze, müsste der Bund außerdem mit einem teilweisen Rückzug aus der konkurrierenden Gesetzgebung bezahlen. In dieser dürfen die Länder bisher nur dann Gesetze erlassen, wenn es der Bund nicht tut. Der Bund darf es laut Artikel 72 des Grundgesetzes dann tun, wenn für "gleichwertige Lebensverhältnisse" in allen Ländern "oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit" zu sorgen ist. Die Länder klagen, der Bund habe diese Bestimmung ausgenutzt, um überhaupt alles gesetzlich zu regeln, so dass dem Länderwillen gar nichts mehr zu tun bleibe. Künftig soll Materie für Materie unterschieden werden, was die Länder regeln und was der Bund. Die konkurrierende Gesetzgebung wäre damit also ebenfalls abgeschafft. Aber auch dieser Preis ist den Ländern noch nicht hoch genug. Es verbleiben ja immer noch die in Bundesgesetze umgetauften Bundesrahmengesetze: Sie sollen doch wenigstens dann, wenn den Ländern bei der Ausführung Kosten entstehen - und wann wäre das nicht der Fall -, der Zustimmung im Bundesrat nach wie vor bedürfen ...
Was geht hier eigentlich vor? In der vorigen Woche gab es den Aufschrei Papiers, des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts: Deutschland sei jetzt schon "staatenbündisch" verfasst, diese Tendenz dürfe nicht noch verstärkt werden. Wenn man ein sogenanntes Zugriffsrecht zulasse, sei jede Rechtssicherheit dahin. Papier sprach von einem "Systembruch", weil der Grundsatz "Bundesrecht bricht Landesrecht" verletzt werde. Nach seiner Auffassung sind bei der Reform der Gesetzgebungskompetenzen höchstens "Randkorrekturen" möglich.
Die Länder versuchen jedoch eine Revolution. Wie kommen sie dazu? Man muss hier erst einmal wie bei kleinen Kindern fragen, wer "angefangen" hat. Nicht sie nämlich, sondern der Bundeskanzler. Im Überschwang der überraschend gewonnenen Bundestagswahl hatte er die Länder aufgefordert, mehr Bundesgesetze ohne Bundesratszustimmung zuzulassen, damit seine Politik nicht ständig "blockiert" werde. Gleich anschließend musste er sich jedoch, um seine Hartz-Gesetze durchzubringen, zu Verhandlungen mit den unionsgeführten Ländern bequemen. Diese nutzten das aus, um nicht nur bei Hartz IV, sondern auch bei der Neuregelung der Gesetzgebungskompetenzen das Heft in die Hand zu bekommen.
Den größeren Bundesländern geht es um möglichst viel quasistaatliche Eigenständigkeit. Das ist seit langem bekannt. Am liebsten würden sie in der EU gleichrangig neben der Bundesregierung mitmischen. Auch das SPD-geführte Nordrhein-Westfalen macht keine Ausnahme. Peer Steinbrück, der Düsseldorfer Regierungschef, weist gern darauf hin, dass sein Land, hätte es die Souveränität, als sechstgrößter EU-Staat gelten könnte. Diesen Großländern ist es lästig, für die ärmeren ostdeutschen Länder mitverantwortlich zu sein. Deshalb haben sie jahrelang für eine Neuregelung des Länderfinanzausgleichs gestritten, bisher mit wenig Erfolg. Der Vorstoß des Kanzlers bot ihnen eine neue Chance. Die Föderalismusreform, die ihnen vorschwebt, läuft auf so viel gesetzgeberische Eigenstaatlichkeit der Länder hinaus, dass die vorgeschriebene Finanzsolidarität mit den armen Ländern bald anachronistisch wirken würde und vielleicht doch noch abgeschafft werden könnte.
Dabei muss man differenzieren zwischen den Länderregierungschefs und den Sprechern der Wirtschaftsverbände. Die Letzteren sehen in der Föderalismusreform wie in jeder anderen ein willkommenes Spielfeld der Deregulierung. Hätten sie es nicht mehr ernsthaft mit einem Zentralstaat, sondern nur noch mit fast souveränen Länderregierungen zu tun, dann könnten sie ihre gewöhnliche Herrschaftsmethode, das Gegeneinanderausspielen, noch effektiver einsetzen. Wenn man Parteien gegeneinander ausspielt, hat man die Mühsal, mit dem Gemeinwohl argumentieren zu müssen. Spielt man Länder gegeneinander aus, geht es nur noch darum, wer einem das Investieren am billigsten macht. Deshalb treten die Wirtschaftskapitäne besonders entschieden für die "Entflechtung" von Bund- und Länderkompetenzen ein. Und die Länderregierungschefs, wenn sie "mehr Wettbewerb zwischen den Ländern" fordern, plappern es oft einfach nach.
Sie haben jedoch noch andere Motive. Der Beitritt der ostdeutschen Länder zur Bundesrepublik bedeutete seinerzeit nicht nur, dass die Westländer zur Kasse gebeten wurden. Es kam der Umzug der Hauptstadt nach Berlin, also nach Ostdeutschland hinzu. Die alte westdeutsche Angst, von "Preußen" regiert zu werden, lebte daher wieder auf. Diese Angst musste sich im letzten halben Jahrzehnt gewaltig steigern. Denn erst 1999 hat die Bundesregierung Bonn den Rücken gekehrt. Seitdem verlaufen sich die Landespolitiker im neuen Berlin zwischen hypermodernen Riesengebäuden. Wird ihnen da nicht die Landesmetropole, von der sie kommen, zur Provinzhauptstadt? Ein FAZ-Kommentar sprach das kürzlich offen aus. Es ist sehr verständlich, dass unter solchen Umständen ein "Zentralismusproblem" in den Köpfen entsteht. Der deregulierte Staat, der letztlich vor allem dem Kapital nützen würde, wird unter der Fahne der kulturellen Autonomie erfochten.
Die Bundesregierung hat lange fast tatenlos zugeschaut. In den Wirren des Streits um die Hartz-Gesetze fehlte ihr die Kraft, sich in den Meinungsbildungsprozess der Föderalismuskommission einzubringen, in der sie doch immerhin einen Katzentisch besetzt. Erst vor anderthalb Monaten meldete sie sich zu Wort, veranlasst vielleicht durch den Vorwurf des rechtspolitischen Sprechers der Union im Bundestag, Röttgen, sie mauere. Ermutigt aber auch durch die Stimmungswende zuungunsten der CDU, die in ostdeutschen Wahlen zutage getreten war. Außerdem hatte eine Umfrage ergeben, dass fast 90 Prozent der Bürger für bundeseinheitliche Regelungen selbst in Bildungsfragen, der traditionellen Länderdomäne, votieren. Nun plötzlich konnte man den Kanzler hören, wie er vor der Umwandlung des Bundesstaates in einen Staatenbund warnte. "Der Bund schlägt zurück", meldeten die Zeitungen. "Wenn der Preis zu hoch ist, würde ich es lieber scheitern lassen", sagte jetzt Brigitte Zypries, die Bundesjustizministerin. Sie will den Ländern höchstens die Zuständigkeit für den Ladenschluss und das Gaststättenrecht abtreten. Grüne Spitzenpolitiker wie Künast und Bütikofer haben sich ähnlich hart geäußert.
Undurchsichtig ist die Rolle Franz Münteferings. Er war es, der die Föderalismuskommission vorgeschlagen hatte, und er trägt nach allem, was man hört, die auf "Systembruch" zielenden Vorschläge der Kommission mit. Worauf will er hinaus? Vielleicht hat er sich schon mit der baldigen Abwahl der SPD-Regierung abgefunden und spekuliert auf einen Wiedergewinn der Bundesländer unter einer Unions-Regierung, die Gerhard Schröders neoliberalen Kurs noch verschärfen würde. Als Müntefering die Kommission vorschlug, war er schon Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag. Inzwischen ist er zudem noch Parteichef geworden. Er spricht anders als Schröder - aber hier haben wir es einmal mit einer Frage zu tun, auf die der Kanzler, so allgewaltig er immer sein mag, überhaupt keinen Einfluss hat. Denn Verfassungsänderungen sind Sache der Fraktionen, nicht der Regierung.
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