Frage: Was kostet scheinbar nichts und wird von Politikern bei jeder günstigen Gelegenheit „angemahnt“? Antwort: Die Menschenrechte. „Der Freitag“ will es sich nicht ganz so einfach machen: In dieser Ausgabe eröffnet Michael Jäger die Reihe zum Thema.
Was sind Menschenrechte: ein Vorwand des westlichen Imperialismus, ein Deckmantel für Kriege, in denen es in Wahrheit um handfeste ökonomische Interessen geht – oder eine linke Utopie? Man findet unter Linken beide Auffassungen, oft gleichzeitig. Tatsächlich stehen sie gar nicht im Widerspruch zueinander. Menschenrechte können eine linke Utopie sein, die heute schwer als solche sichtbar zu machen ist, weil sie allzu oft im Zerrspiegel westlicher Interessen erscheint. Doch wenn das so ist, kann darauf nur mit der Verdeutlichung der linken Utopie geantwortet werden: damit man den Unterschied zu imperialistischen Überlagerungen erkennt und für die Utopie entschieden praktisch eintreten kann.
Nur kurz sei an die gegebene Menschenrechtssituation erinnert, um deren „utopische“ Überbietung es geht. Die meisten Staaten der Welt haben Menschenrechtserklärungen unterzeichnet – die Praxis ist nicht immer danach. Die Situation stagniert, doch wenigstens im Diskurs ist ein Fortschritt zu verzeichnen: „Bürgerliche“ Rechte wie Versammlungsfreiheit und soziale wie das Recht „auf Arbeit“, oder wenigstens auf freie Betätigung von Gewerkschaften, werden nicht mehr wie zur Zeit des Kalten Krieges gegeneinander ausgespielt. In der UNO-Charta standen sie schon immer nebeneinander. Seit zehn Jahren werden sie auch von amnesty international als Einheit angesehen. Dass Rechte, die aufs Individuum bezogen sind, nicht von sozialen getrennt werden können, ist eine für jeden „linken“ Menschenrechtsdiskurs charakteristische Annahme.
Doch sie allein enthält noch keine linke Utopie. Der Soziologe Alex Demirovic hat es am Beispiel der Europäischen Sozialcharta gezeigt: Diese „verwendet mehrfach die Ausdrücke Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Koalitionsrecht, Erreichung der Vollbeschäftigung, Familie als Keimzelle der Gesellschaft etc. Da damit der Anspruch auf universelle Geltung erhoben wird, werden bestimmte gesellschaftliche Praktiken und Lebensformen, der heutige Notzustand auf alle Ewigkeit festgeschrieben.“ Die Frage, „ob die damit versprochene Lebensweise mit ihrer Notlagen erzeugenden Dynamik nicht selbst problematisch ist“, wird nicht gestellt. Das wäre aber gerade die Frage der linken Utopie. Man ist notwendig auf sie verwiesen, sobald man nur anfängt, in Menschenrechten mehr als „bürgerliche“ Abwehrrechte gegen den Staat zu sehen.
Der Mensch ist: eine Utopie
Abwehrrechte sind „bürgerlich“ genannt worden, weil der Verdacht im Raum steht, sie dienten dem Schutz einer Privatheit, die mit Rücksichtslosigkeit gepaart sein kann. Versucht man, rein aufs Individuum bezogene Rechte so zu denken, dass daraus keine Rechtfertigung individueller Borniertheit entspringt, ist man schon bei der Frage des Sozialen, nämlich wie sich die mit Abwehrrechten versehenen Individuen zueinander verhalten: rücksichtslos oder solidarisch. Auf diese Frage hat Marx utopisch mit der „Assoziation“ geantwortet, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. Das heißt: Der Ausgangspunkt bin nicht ich, dessen Recht die anderen Ichs zu respektieren haben – sondern sie sind der Ausgangspunkt, für ihr Recht trete ich ein, weil ich es selbst nicht hätte, würden sie es nicht haben. Rechte hätte ich zwar, aber nicht solche „des Menschen“: „Menschlich“ genannt zu werden, würde ich nicht verdienen. Nicht jedenfalls im utopischen Sinn.
Denn was der Mensch ist, wer weiß es? Er ist eine Utopie. Das heißt nicht, dass die heute vorhandene Auskunft über seine Rechte an der Utopie gemessen und deshalb als ungenügend abgetan werden dürfte. Im Gegenteil: Sie benennt das, was der Mensch nach dem, was man längst weiß, mindestens zu beanspruchen hat, ganz richtig. Aber indem sie es tut, bleiben ihr gewisse Konfusionen nicht erspart, die eben damit zusammenhängen, dass die utopischen Fragen unbeantwortet sind.
So laufen alle klassischen Menschenrechte, die man „bürgerlich“ genannt hat, auf die Befreiung von Herrschaft und dem, was sie anrichtet, hinaus, sei‘s Folter oder Unterdrückung der Meinungsfreiheit. Aber obwohl es die Formel „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ gegeben hat, ist immer unklar geblieben, ob der Befreiung von Herrschaft eine Befreiung zur Solidarität nicht nur ohne Herrschaft, sondern auch ohne private Rücksichtslosigkeit entsprechen sollte. Dabei wird Herrschaft doch gerade durch Rücksichtslosigkeit auf den Plan gerufen, wie schon Thomas Hobbes wusste. Der Krieg aller gegen alle zwingt zur Kapitulation vor dem Leviathan. Ein rein privates statt soziales Menschenrechtsverständnis führt dazu, dass Herrschaft und mit ihr die Gefahr der Menschenrechtsverletzung ständig präsent bleiben. Der Ausweg – keine Herrschaft, nur gewählte funktionale Leitung, und doch Solidarität – kann nur als Utopie gedacht werden. Denn die Ordnung, die dergleichen trüge, ist noch nicht entdeckt worden.
„Der Mensch“ hat das Recht, oder sollte es haben, in einer Ordnung ohne Menschenrechtsverletzung leben zu können. Das heißt, sein elementares Menschenrecht ist das Recht auf eine solche Ordnung. Da nützt es gar nichts, die körperliche Unversehrtheit der Person gegen den utopischen Ordnungsgedanken auszuspielen, indem man argumentiert, dieser sei ideologisch überfrachtet, jene hingegen habe faktischen Charakter und hänge mit konkreten Nöten zusammen, die man nicht zerreden solle. Das ist es ja eben: Auf diesem Planeten verhungern täglich um 25.000 Menschen, jeden Tag also wird die körperliche Unversehrtheit auf massivste Weise 25.000 Mal vernichtet. Ich, dessen Körper unversehrt bleibt, weil ich in einem Staat mit relativ hohem Menschenrechtsstandard lebe, lebe gleichwohl nicht in einer planetarischen Ordnung, die dasselbe auch allen anderen Menschen ermöglicht.
Verwandlung des Täters
Man sieht daran, dass es tatsächlich nicht angeht, Menschenrechte auf Abwehrrechte zu reduzieren, also darauf, dass „der Staat sich nicht einmischen soll“. Das Gegenteil ist richtig. Es ist verlogen, wenn ein reicher Staat seine bessere Menschenrechtssituation gegen die schlechtere eines armen Staates ausspielt. Denn „der Mensch“ ist ein internationales Wesen. Es war schon fragwürdig, dass einst der „Sozialismus in einem Lande“ versucht wurde. Nicht fragwürdig, sondern verrückt wäre die Rede von „Menschenrechten in einem Lande“. Wer beim Wort „Menschenrechte“ nicht an das Individuum denkt, das in afrikanischer Ödnis vergebens nach Nahrung sucht, soll es nicht in den Mund nehmen.
Freilich: Wo man sagen muss, dass Staaten, die nicht eingreifen, sich der Menschenrechtsverletzung schuldig machen, ist die Gefahr „imperialistischer Überlagerung“ besonders groß. Sie greifen ja gern ein, nur nicht in der richtigen Weise. Falsch wird es, wenn sie gegen „objektive“ Verletzungen vorgehen, ohne das Menschenrechtsbewusstsein der Region zu berücksichtigen, um die es geht. Der erste Eingriff muss in der Verbreitung von Rechtsbewusstsein bestehen, wozu es heute genügend mächtige Mittel gibt, schon allein durchs Internet. Ist das Bewusstsein da, können die unterstützt werden, die es haben; sie müssen den Kampf selbst führen. Aber auch das Rechtsbewusstsein der Täter ist in Rechnung zu stellen. Denn auf lange Sicht wird der Schutz des Menschen, der zum Opfer werden kann, nur durch die Verwandlung des Täters in einen Menschen erreicht.
Das beste und wichtigste Beispiel ist das Menschenrecht der Frau. Die es verletzen, sind Männer. Der Weg, es durchzusetzen, führt über deren Zivilisierung. Sicher spricht das nicht gegen die Legitimität kurzzeitiger Zwangsmaßnahmen; aber solche etwa in Afghanistan durchzusetzen, ist schwer. Es ist auch deshalb schwer, weil sich die Frage stellt, wer denn das Subjekt der Zwangsmaßnahmen sein soll. Ein solches Subjekt müsste die verquere Religion zerpflücken können, nach der Frauen Solidarität üben, wenn sie etwa ihr Gesicht verstecken, wie das vor 2000 Jahren auch der Apostel Paulus glaubte. Sind westliche Truppen dieses Subjekt? Auch wenn der Westen in puncto Frauenemanzipation weiter ist als die islamische Welt, gehört es nicht zu seinen Stärken, zwischen Solidarität und fehlgeleiteter Solidarität zu unterscheiden. Vielmehr neigt er dazu, den freien Menschen isoliert zu sehen und so auch zu postulieren. Deshalb glauben Muslime dem Westen nicht, wenn er von Menschenrechten spricht. Dass diese Rechte die Menschen zur Solidarität befreien, weiß nur eine „utopische Linke“. Die müsste intervenieren und würde es sicher nicht militärisch tun.
Wenn es erst noch eine Aufgabe ist, das Subjekt der Menschenrechte hervorzubringen, was durch die Existenz von Tätermenschen bewiesen wird, nützen Militärinterventionen gar nichts. Aber eine andere Weltökonomie würde viel helfen. In einer solidarischen Weltökonomie hätten Täter weniger Spielraum, und mit der Zeit würde ihre Zahl abnehmen. Unser Beitrag, unser Menschenrecht wäre der solidarische Verzicht. Das gehört zur „linken Utopie“ wie der Schutz vor Folterern.
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