Die Kieler Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen war ein Arbeitsparteitag. Vom NPD-Verbot über Mindestlohn, Spitzensteuersatz und Eurobonds bis zur Netzpolitik und Erweiterung der direkten Demokratie kamen so viele Themen dran, dass es den Kommentatoren schwer fiel, eine Hauptbotschaft auszumachen. Ersatzweise stellte etwa der ARD-Bericht die angebliche Rivalität von Jürgen Trittin und Cem Özdemir um die Parteiführung heraus. Das geht immer, dergleichen kann in Gebilden innerer Konkurrenz, wie Parteien welche sind, nie ganz falsch sein. Bedeutsame Differenzen konnten aber nicht gemeldet werden. Ist Parteichef Özdemir "wirtschaftsfreundlicher", hat er "mehr Kontakte" zu Unternehmen als der Fraktionsvorsitzende Trittin? So sah es der ARD-Bericht und ließ deshalb den Bundesvorsitzenden zu Wort kommen. Schröder gegen Lafontaine aufzubauen, ist den großen Medien gelungen, als es 1998 um den rot-grünen Machtwechsel ging. Und nun also Özdemir. Aber was soll's? Özdemir hätte den geforderten Spitzensteuersatz gern niedriger gehabt, die Grüne Jugend wollte ihn höher und Trittin vertrat den Mittelweg, der beschlossen wurde: 49 Prozent.
So ein Streit um die Quantität der Prozente ist nichts Besonderes. Wichtiger war erstens der Versuch, sich der Bevormundung durch die Medien zu entziehen – denn das bedeutet es, wenn die Grünen sich die Möglichkeit eröffnet haben, über Spitzenkandidaten bei Wahlen die Parteibasis abstimmen zu lassen. Zweitens ist das inhaltliche Konzept wichtig, in dessen Rahmen der Streit geführt wurde. Die grüne "Wirtschaftsfreundlichkeit", und da sind Trittin und Özdemir einig, liegt darin, dass man sich mittelständische Unternehmen wünscht, die ihre Stärke in ökologischer Produktion suchen und einen Mindestlohn von 8,50 Euro zahlen. Im übrigen sollen die Firmen – das hatten die Grünen schon Anfang der neunziger Jahre als "grünen New Deal" bezeichnet – nicht nur Staatshilfe entgegennehmen, sondern mit der ganzen Gesellschaft solidarisch sein. Letzteres würde sich eben in der Bereitschaft ausdrücken, einen höheren Spitzensteuersatz zu zahlen.
Auf in die Wotanzone
Die Debatte darum war wohl die wichtigste überhaupt, auch weil sie sich gegen schwarz-gelbe Steuersenkungen wandte, die als Klientelpolitik angegriffen wurden. Was man sonst noch hervorheben kann: eine gute Europa-Perspektive und den Blick auf globale Probleme, die gern verdrängt werden. Özdemirs Europarede hatte Niveau, nicht nur weil er daran erinnerte, dass selbst das Wort "Europa" der griechischen Mythologie entstammt. In der Tat müsste ein Europa oder auch nur eine Eurozone ohne Griechenland, wie von der Bundeskanzlerin immer wieder einmal erwogen, sich mindestens einen neuen Namen geben, am besten wohl dann aus der deutschen Mythologie – "Wotanzone" vielleicht. Doch die Grünen setzen auf Griechenland, ließen den eben zurückgetretenen Ministerpräsidenten Papandreou bei sich auftreten.
Sie fordern Eurobonds, obwohl dies Instrument gerade Deutschland finanziell belastet; Özdemirs Argument war, dass Europa sich nur so gegen immer höhere Zinsaufschläge bei Kreditaufnahme an den Finanzmärkten wehren könne. Er machte auch deutlich, dass die spanische Jugendarbeitslosigkeit, die bei 50 Prozent liegt, eine europäische Frage ist, wenn es "Europa" denn überhaupt gibt. Ob es stimmt, dass "die Grünen die Europapartei" sind, wie er ausrief, ist fraglich. Doch der Weg, griechische und spanische Probleme als europäische Innenpolitik statt als deutsche Außenpolitik zu begreifen und dies gerade in der europäischen Krise zu propagieren, führt weiter.
Der Blick auf globale Probleme kam in Claudia Roths Eröffnungsrede vor, kurz zwar, aber eindrucksvoll. Finanzkrise, ökologische Krise und Hungerkrise sind weltweit miteinander verflochten. Roth nannte die dramatischen Zahlen, etwa dass der C02-Ausstoß 2010 um knapp sechs Prozent zugenommen hat, und griff die Spekulanten an, die für den zunehmenden Hunger verantwortlich sind. Eindrucksvoll, aber doch zu kurz. Hätte gerade diese Botschaft im Zentrum der Bundesdelegiertenkonferenz gestanden, ihre Kontur wäre klarer gewesen. Aber so radikal sind sie nicht.
Politikwechsel in Gänsefüßchen
Die Hauptbotschaft, die ihnen selbst vorschwebte, war der Macht- "und Politikwechsel" bei den Wahlen zum Bundestag 2013. Ja, man muss das Wort in Gänsefüße setzen, denn es blieb Behauptung und wurde nicht plausibel gemacht. Wie soll es zusammen mit der SPD zum Politikwechsel kommen? Da das kürzlich schon einmal versucht wurde, hätte man sich doch gewünscht, dass dazu ein paar Worte verloren worden wären. Wie man verhindert, dass Ähnliches wie Hartz IV und der Kosovokrieg sich wiederholt. Parteichefin Roth musste einflechten, dass die SPD bei der Energiewende nicht unbedingt ein Partner ist, will sie doch neue Kohlekraftwerke. Und überhaupt gibt es Anzeichen, dass sich eine Große Koalition anbahnt, wie sie ebenfalls beiläufig erwähnte. An der innerparteilich umstrittenen Formel, man befinde sich trotz allem nicht "in Äquidistanz" zu den beiden großen Parteien, wolle vielmehr nur mit der SPD das Bündnis "in Augenhöhe", verschluckte sie sich dann fast und huschte schnell darüber hinweg.
Aber nicht nur der Politikwechsel, schon der bloße Machtwechsel wirft Probleme auf, die bei diesem Parteitag nicht einmal gestreift wurden. Gar nichts deutet darauf hin, dass die SPD eine mehrheitsfähige Regierungskoalition jenseits der Union anstrebt, wofür nach dem Umfragestand vielleicht sowohl die Linken als auch die Piraten mit an Bord genommen werden müssten. Was soll denn nun eigentlich geschehen? Weit entfernt sind die Grünen davon, über neue Wege nachzudenken, die mittelfristig gangbar sein könnten: Bündnisse bevorzugt mit Parteien, die ihr programmatisch am nächsten stehen, eben den Linken und den Piraten. Wird sich das je ändern?
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