Norbert Blüm, der gestern im Alter von 84 Jahren verstorbene Christdemokrat, ist ein Beispiel dafür, dass die bloße Parteizugehörigkeit eines Menschen noch nicht viel über ihn aussagt. War er „rechts“ oder „links“, vielleicht gar beides gleichzeitig? So viel ist klar, er war ein Exponent seiner Partei, einer von denen, auf die sich Helmut Kohl stützen konnte, als der in den 1970er Jahren den CDU-Vorsitz anstrebte und auch erhielt. Als Kohl Kanzler geworden war, ist Blüm sogar der Einzige gewesen, der ihm in sämtlichen vier Kabinetten zwischen 1982 und 1998 als Minister diente, zuständig stets für Arbeit und Soziales. Er stand also durchaus für die „rechte Mitte“, in der sich seine Partei verortet sieht, und demonstrierte es noch kurz vor dem Ende der Kohl-Regierung, als unter seiner Führung eine Rentenreform beschlossen wurde, die von der SPD und den Grünen als unsozial angegriffen wurde, weil sie eine Absenkung des Rentenniveaus beinhaltete: Wegen der demografischen Entwicklung – prozentual immer mehr Rentner, immer weniger Einzahler – sollten die Renten künftig langsamer ansteigen. Das war 1997; als ein Jahr später die rot-grüne Koalition zu regieren begann, nahm sie den „demografischen Faktor“ zunächst zurück, führte ihn aber dann unter anderem Namen wieder ein.
An Blüms damaligen Ausspruch „Die Rente ist sicher“ erinnern nun nicht wenige Nachrufe. Doch kann man ihn nicht auf seine Rentenpolitik reduzieren, abgesehen davon, dass diese selber facettenreich war. Wie er 2003 in einemFreitag-Interview zu erkennen gab, schwang in dem Satz auch mit, dass Rentensicherung durch private Absicherung allenfalls ergänzt, aber keineswegs ersetzt werden könne. Zu diesem Zeitpunkt hatte er die rot-grüne Sozialpolitik schon links überholt. Die Hartz-Reformen waren nicht seine Sache: „Hartz ist Pfusch“, sagte er 2009 derSüddeutschen Zeitung.
Blüm gehörte nicht, wie man denken könnte, zu denen, die erst als Rentner radikal oder radikaler werden. Dass Kohl ihn nie gegen einen anderen Minister austauschte, war bestimmt auch Folge davon, dass er sich in seinem Amt „klein machte“, wie Heribert Prantl einmal in derSüddeutschenschrieb. Aber das zeigte nur, dass er nicht eitel war. Ein Leisetreter war er niemals. Wenn er es für nötig hielt, widersprach er der eigenen Partei. So 1987, als er die Regierungskoalition „an den Rand der Spaltung brachte“, wie derSpiegelim Nachhinein schrieb. Mit beispielloser Schärfe griff er, anders als seine Parteifreunde, den chilenischen Diktator Pinochet an. Von Franz Josef Strauß war Pinochet 1977 bescheinigt worden, Chile sei „ein demokratisches und freies Land“, Blüm hingegen wirft ihm die „abstrusen Phantasien der Grausamkeit“ seiner Henkersknechte vor. „Machen Sie Schluss mit der Folter“, sagt er ihm ins Gesicht. Er kämpft für die Freilassung von 16 zum Tod verurteilten Häftlingen, die dann wirklich in die Bundesrepublik ausreisen dürfen, obwohl Strauß meint, das seien „Kommunisten“ und „Verbrecher“, obwohl Heinrich Lummer (CDU) findet, sie gehörten als Terroristen hinter Schloss und Riegel – es sind Angehörige der trotzkistischen Untergrundorganisation Mir –, obwohl auch Bundesinnenminister Zimmermann (CSU) dagegen ist. Blüm setzt sich durch, weil Außenminister Genscher (FDP) das Asylbegehren unterstützt.
Mit „rechts“ oder „links“ kommt man Blüm nicht bei
Sein Gastbeitrag für dieSüddeutsche2018, wo er Angela Merkels drei Jahre zurückliegende Grenzöffnung für den großen Flüchtlingstreck gegen innerparteiliche Kritiker verteidigte, liegt auf derselben Linie. „Kulturschande“ wirft er ihnen vor, überhaupt wirkt seine Sprache fast linksradikal. Er belässt es nicht bei Worten; schon 2016 hat er im Flüchtlingscamp Idomeni übernachtet. Doch tut er es aus christlich-katholischer Gesinnung, die überhaupt in seiner Haltung das Konstante ist. In die Partei, die sich christlich nannte, trat der ehemalige Messdiener mit 15 Jahren ein, während er sich zum Werkzeugmacher ausbilden ließ, und blieb ihr treu, obwohl er wie andere erkannte, dass „christlich“ nur ein Deckwort für „konservativ“ war. Wo beide Adjektive sich deckten, war er selbst konservativ und auch rechts. So griff er 2014 die rechtliche Gleichstellung homosexueller Paare an; dass sie gar eine Familie bilden konnten, ging nicht in seinen Kopf. Es gibt Politiker, die am Lebensende linker werden, andere treten im Alter links auf, obwohl sie früher für rechts galten und sich kaum geändert haben, dafür ist aber ihre Partei nach rechts gerückt; die Sozialdemokratin Gesine Schwan mag ein Beispiel sein. Einem wie Blüm kommt man mit „rechts“ oder „links“ nicht bei, weil es ihm um die Sache ging und er nichts über den parteipolitischen Kamm scherte. So wünscht man sich Politiker, doch die Verhältnisse sind nicht so und deshalb wird er uns fehlen.
Im vorigen Jahr war er nach einer Sepsis ins Koma gefallen, seither von der Schulter abwärts gelähmt. Im März 2020 konnte er das Krankenhaus verlassen, diktierte noch seiner Frau einen Gastbeitrag für dieZeit: „Jetzt begreife ich“, sagt er, „welches Glück die Normalität ist. Ich sehe durchs Fenster des Krankenzimmers auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Menschen scheinbar voraussetzungslos gehen. Die ‚normalen Verhältnisse‘ bieten ein Potenzial an Lust, das wir erst zu schätzen wissen, wenn wir es verloren haben." Das war kurz vor dem Inkrafttreten der Corona-Einschränkungen.
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