Sozialdemokratischer Fahndungseifer

Grüne Die Annäherung zur CDU scheint – medial gesehen – die Quintessenz des Grünen-Parteitags gewesen zu sein. Dabei hat die Partei ein linkes Programm beschlossen
"Irgendjemand muss schließlich regieren", sagt Kretschmann und macht damit die Ambitionen der Grünen deutlich
"Irgendjemand muss schließlich regieren", sagt Kretschmann und macht damit die Ambitionen der Grünen deutlich

Foto: Johannes Eisele/AFP/Getty Images

Das Wahlkampfprogramm der Bundesdelegiertenkonferenz in Hannover weist den Willen der Grünen, mit der SPD eine Regierungskoalition zu bilden, deutlich aus. Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent, Anstieg des Hartz IV-Satzes auf 420 Euro, Garantierente von 850 Euro für Menschen, die mehr als 30 Jahre Erwerbsarbeit geleistet oder Kinder betreut haben: Wenn sich manche Kollegen im Medienwald nicht entblöden, solche Forderungen als unbezahlbaren Traum vom sozialen Schlaraffenland abzutun, ist das zwar lachhaft, aber um Forderungen eines linken Programms handelt es sich auf jeden Fall.

Links ist auch die Forderung, das Asylrecht wiederherzustellen, das bis Anfang der 1990er Jahre galt, links ist die Ablehnung der Drohnen-Pläne der Bundesregierung. Besonders hervorhebenswert - denn hier haben wir es mit dem ökologischen Kernanliegen dieser Partei zu tun - ist der Plan, einkommensschwache Haushalten beim Bezahlen der Energiekosten zu unterstützen, wofür ein mit drei Milliarden Euro ausgestatteter Fonds eingerichtet werden soll. Er ist ebenfalls links.

Ob man die Forderungen links genug findet, ist eine Frage für sich. So wäre es wohl linker und besser, überhöhte Energiepreise von vornherein zu verhindern, als mit Steuergeldern ihre Bezahlung zu ermöglichen. Und ein Hartz IV-Satz von 420 Euro liegt immer noch unter dem Existenzminimum von Menschen, die dem Anspruch nach weder sozial noch kulturell ausgegrenzt sein sollen. Aber wer das findet, kann ja die Linkspartei wählen. Klar ist jedenfalls, dass die Grünen mit solchen Forderungen der SPD nahe und der Union fern stehen.

Indessen hält das die Kommentatoren nicht ab, unablässig nach Spuren für eine verborgene schwarz-grüne Option der Partei zu fahnden. Das dürfte der interessanteste Vorgang im Umfeld dieser Bundesdelegiertenkonferenz sein. Und worauf stützt sich der Fahndungseifer? Nun, es scheint ja, als habe der Parteitag selbst ihm trotz allem neue Nahrung gegeben. Denn an seinem Rande unterschieden Winfried Kretschmann und Boris Palmer zwischen dem, was die Grünen wollen, und dem, was sie vielleicht gegen ihren Willen tun müssen, wenn es zur rot-grünen Mehrheit nicht reicht.

Geheuchelte Empörung

Aber Vorsicht. Man muss auch hier differenzieren. Man wird einerseits nicht vergessen, dass es zur rot-rot-grünen Mehrheit wahrscheinlich auf jeden Fall reichen würde. Unter diesem Aspekt erscheint Kretschmanns und Palmers Stellungnahme wenig sachdienlich. Andererseits bleibt es doch auffällig, dass die Neigung, lieber mit der Union als mit der Linkspartei zu koalieren, den Grünen stets und der SPD sehr selten angekreidet wird.

Daran hat selbst die jüngste Berliner Abgeordnetenhauswahl nichts geändert. Die SPD entschied sich da, mit der CDU statt mit den Grünen zu regieren, obwohl sie den Wahlkampf nicht zuletzt mit dem Hinweis auf angebliche schwarz-grüne Neigungen der Grünen bestritten hatte. Diese Verdächtigung ist ein Klavier, auf dem die SPD virtuos spielen kann, oder wenn nicht virtuos, dann lärmend - laut genug offenbar, um ihre eigene Nähe zur Union zu übertönen.

Ältere werden sich erinnern, wie sie einst auf Antje Vollmers Wahl zur Vizepräsidentin des Bundestags reagiert hat. Die Opposition durfte zwei Vizepräsidenten stellen. Es wäre naheliegend gewesen, wenn die SPD die Grüne mitgewählt hätte, neben einer Person aus ihren eigenen Reihen. Das tat sie aber nicht, sie wollte beide Posten für sich. Die Union fand das unanständig, und so kam eine schwarz-grüne Mehrheit für Vollmer zustande. Auf diese Mehrheit reagierte die SPD mit geheuchelter Empörung.

Die Führungriege macht den Unterschied

"Irgendjemand muss schließlich regieren", hat Kretschmann gesagt, und da kann man ihm schwer widersprechen. Warum aber soll dann nur die SPD das Recht haben, mit der Union zu koalieren, und nicht auch die grüne Partei? Es gibt keinen vernünftigen Grund. Deshalb muss gleich die nächste Frage gestellt werden: Angenommen, es gäbe nur die beiden Möglichkeiten einer entweder schwarz-roten oder schwarz-grünen Regierung, was wäre vom linken Standpunkt wünschenswerter?

Und hier wird es erst wirklich interessant. Denn man mag zwar antworten, die SPD sei linker, als die Grünen es sind. Doch in die Koalitionsregierung würde ja nicht "die SPD" kommen, sondern Menschen aus ihrer Führungsriege, Peer Steinbrück zum Beispiel, dessen Politik an der Seite Gerhard Schröders und Angela Merkels wir kennen. Der Unterschied zwischen der SPD und den Grünen liegt darin, dass bei der letzteren Partei auch die Führungsriege, aus der die Bundesminister hervorgehen würden, hinter den linken Wahlkampf-Forderungen steht.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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