Traum von der absoluten Freiheit

Verfall Die Piraten setzen eigentlich auf das richtige Thema. Warum sind sie dann nicht die Partei einer neuen Demokratie?
Ausgabe 19/2013

Der Niedergang der Piraten hat nicht lange auf sich warten lassen. Nur noch drei Prozent Wählerzustimmung geben kaum Hoffnung, dass sie im Herbst in den Bundestag einziehen können. Es ist nicht nur deshalb erstaunlich, weil sie erst voriges Jahr mit acht Prozent den nordrhein-westfälischen Landtag enterten, sondern viel mehr noch wegen ihres Themas, des Internets. Müsste sich dessen außergewöhnliche Bedeutung nicht auf sie selbst übertragen? Als Hauptgründe der ungünstigen Entwicklung erscheinen ihre mangelnde Kompetenz, ein Gesamtprogramm über das Einzelthema hinaus zu entwickeln – besonders die Wirtschaftspolitik ist bei ihnen eine Leerstelle –, und ihre innere Zerstrittenheit. Wahrscheinlich sind das zwei Seiten desselben Befunds, denn für ein Gesamtprogramm bräuchte es politische Übereinstimmung. Zu der kann es nicht kommen, wenn sich Freunde des freien Internets versammeln, die ansonsten wie Sozialdemokraten, Freidemokraten oder Grüne denken.

Parteienforscher werden sagen, bloß um ein Thema herum könne eben keine Partei Bestand haben. Als richtige Partei gilt ihnen eine, die sich auf allgemeine „Werte“ wie Freiheit, Gerechtigkeit oder Nachhaltigkeit beruft und in der sich große soziale Gruppierungen bündeln und widerspiegeln. So schien es in der Frühzeit des Parteienstaats klar und verständlich, dass es „bürgerliche“ Parteien, Arbeiter- und sogar auch (in Skandinavien) Bauernparteien gab. In seiner Blütezeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurden noch andere soziale Wurzeln der Parteigegnerschaft bemerkt, so die konfessionelle Zugehörigkeit oder der Protest der Peripherie eines Landes gegen das Zentrum. Aus der Überlagerung solcher Linien lassen sich die deutschen etablierten Parteien erklären: Bei der SPD war die Klassenzugehörigkeit das wichtigste Bindemittel, bei der CDU die Konfession, bei der CSU kam die Betonung der bayerisch-„peripheren“ Lage hinzu.

Diese Art und Weise, eine Demokratie als Parteienstaat zu betreiben, hat natürlich nur Sinn, wenn die Parteien politische Alternativen ausarbeiten, über die dann abgestimmt werden kann. Hier aber liegt die Crux der „richtigen Parteien“. Denn ihre politischen Gegensätze verschwinden immer mehr, während die sozialen Zugehörigkeiten bestehen bleiben.

Wichtiges Konfliktfeld

Ist eine der großen Parteien an der Regierung, macht sie ungefähr dieselbe Politik wie die andere. Nur im permanenten Wahlkampf betont sie ihre angebliche Besonderheit. Und weil selbst das schwer fällt, werden „Werte“ in den Vordergrund gestellt. Warum verschwinden die Gegensätze? Da hören wir die Antwort, dass alle sozialen Gruppen zur selben Politik objektiv gezwungen seien. So sollen wir der SPD glauben, dass gerade Hartz IV der wichtigste, sogar von der CDU anerkannte Erfolg der Regierungszeit Gerhard Schröders gewesen sei. Es ist kein Wunder, dass heute in der Weltfinanzkrise auch Stimmen laut werden, die nicht mehr den Niedergang der Demokratie beklagen, sondern offen ihre Aufhebung fordern. Darauf läuft es mit den „richtigen Parteien“ hinaus, die so ungeheuer vernünftig sind, sich nicht um „ein Thema“ herum zu gruppieren.

Es ist aber gar nicht abseitig, das zu tun, wenn das Thema ein allgemeines der ganzen Gesellschaft ist. Die etablierten Parteien machen es selbst vor, wenn sie „Werte“ hochhalten. Die CDU zum Beispiel stellt sich als Partei der Freiheit dar und behauptet, daraus lasse sich ihre ganze politische Agenda ableiten. Das stimmt zwar nicht, hat aber den Vorteil, dass einige, die an der Agenda zweifeln, die Partei schon wegen der Freiheit wählen.

Das Internet als Thema der Piraten ist nicht nur wie die Freiheit eine allgemeine Angelegenheit, sondern auch eine handfeste. Es gibt heute kein wichtigeres Konfliktfeld. Gekämpft wird darum, ob es zum Instrument der ökonomischen und politischen Privatmächte wird oder zum Instrument des Zusammenschlusses freier Individuen. Was kann eigentlich allgemeiner und zustimmungswürdiger sein als dieses „eine Thema“? Ist es nicht besser, sich für den freien Zusammenschluss einzusetzen, wie die Piraten es tun, als für eine Freiheit, die zum abstrakten „Wert“ herunterkommt? Doch die Sache hat eine Implikation, die den Piraten weniger bewusst ist. Das Internet ist, marxistisch gesprochen, eine neue Produktivkraft. Dass es den freien Zusammenschluss befördern würde, wenn nicht Privatmächte ihn erfolgreich behinderten, ist nur eine neue Variante desselben Konflikts, der schon bei der Entstehung großer kapitalistischer Fabriken im 19. Jahrhundert aufkam. Schon damals wurde proklamiert: Hier sind Massen von Menschen versammelt, und wie frei könnten sie für Ziele zusammenarbeiten, die im allgemeinen Interesse liegen, wenn da nicht die Privatmächte wären.

Fehler im Gedankengebäude

Doch wenn das, was die Arbeiter wollten, wirklich das Allgemeine war, hätte auch der Kampf dafür ein allgemeiner sein müssen. Das war der Fehler im marxistischen Gedankengebäude. Eine soziale Gruppe kann nur in Übereinstimmung mit den herrschenden Verhältnissen kämpfen, denn was sie zur Gruppe macht, ist ihre Stellung und damit ihr Funktionieren in der Produktion. Man kommt eben zur sozialen Gruppe nicht frei zusammen. Das gilt auch für die Arbeiterklasse, auf die der Marxismus so große Hoffnungen setzte. Gerade die Entwicklung der Produktivkräfte kann von ihr nicht repräsentiert werden. Es müsste ja bedeuten, sie nimmt in der Entwicklung ein Problem wahr und sucht eine Lösung im Interesse aller. Tatsächlich wird sie immer nach einer suchen, die ihrem sozialen Sonderinteresse entspricht.

Von ihr also kann der Gemeinsinn der neuen Produktivkraft, der entbunden werden müsste, nicht durchgesetzt werden. Also, denkt man, müssen Menschen beliebiger sozialer Gruppenzugehörigkeit die Sache selber zum Sammelpunkt der erhofften Partei machen. Doch auch dieser Weg scheint nicht zu funktionieren. Die Piraten haben ja die Bedeutung der Produktivkraft Internet erkannt. Für die Probleme, die es aufwirft, schlagen sie als freie Individuen Lösungen vor. Und doch gelingt es nicht. Außen schwindet die Zustimmung, innen zerstreitet man sich.

Man kann es kaum begreifen, weil das Internet nicht nur eine neue Produktivkraft ist, sondern auch die Demokratie befördert, was einer „Internetpartei“ doch Auftrieb geben sollte. Welchen Nutzen die Demokratie davon hat, ist durch die Rolle, die es bei der Organisation kollektiver Proteste spielen kann, und durch Wikileaks schon sichtbar geworden. Aber auch die ökonomische Demokratie könnte gewinnen. Das Internet lässt eigentlich erst begreifen, was ökonomische Demokratie sein könnte. Denn erstens: In einer Ökonomie freier Individuen müssten diese, und nicht ein Staat, über die grundlegenden Produktionspfade einer Gesellschaft entscheiden. Zweitens, die Methode, mit welcher Individuen statt Gruppen entscheiden, ist die Wahl qua Stimmabgabe. Drittens wird es durchs Internet möglich, sich der allgemeinen Wahl auch zur Entscheidung über den ökonomischen Weg einer Gesellschaft zu bedienen. Rudolf Bahro wies darauf schon 1977 hin: „Heute, wo das Problem der allgemeinen Volksversammlung von der quantitativ-technischen Seite durch die modernen Computer und Massenkommunikationsmittel gelöst ist, könnten prinzipiell alle Individuen regelmäßig an der Entscheidung über die Neuwertverteilung, an der Festlegung der Perspektiven der Gesellschaft, an den Willensakten der Prognose teilnehmen“.

Dieser Neuanfang könnte das Programm einer Partei sein, der es um das „eine Thema“ Internet geht. Eine solche Partei könnte sich Erfolgsaussichten ausrechnen. Denn die Entwicklung bewegt sich von selbst in die skizzierte Richtung. In den letzten Jahrzehnten ist immer wieder bewusst geworden, dass an der „Festlegung der Perspektiven der Gesellschaft“ alle Individuen durch Volksentscheid hätten beteiligt sein sollen – ob es sich um die Nutzung der Atomkraft, den Stuttgarter Tunnelbahnhof oder die Bedeutung handelt, die man der Autoindustrie zugestehen will.

Warum sind die Piraten nicht die Partei des Übergangs zu neuen Formen der politischen und ökonomischen Demokratie? Wahrscheinlich weil sie aus sozialen Gruppen zusammengesetzt ist, die so agieren wie in allen Parteien. Sie müssten schon wirklich ein Zusammenschluss freier Individuen sein, um Erfolg zu haben. Menschen indes, die absolut frei sind, kann es in einer nur teilweise freien Gesellschaft nicht geben. Wenn dies mitbedacht würde, wäre eine Wendung zum Besseren möglich. Man kann sich eine Partei vorstellen, in der Individuen von vornherein im Bewusstsein kooperieren, dass sie nicht übereinstimmen außer in der zentralen Frage, deren Wichtigkeit sie besser erkennen als andere. Wo sie im Parlament vertreten sind, geben sie in Fragen, die das soziale Gruppeninteresse wecken, die Abstimmung immer frei. Wo eine solche Frage von der zentralen Internet-Frage nicht zu trennen ist, suchen sie nach der integralen Lösung. Kann sie sich nur auf zwei oder mehrere Lösungsansätze einigen, ist das auch nicht schlimm, sondern fördert selbst wieder die Demokratie: Man führt der Gesellschaft vor, worüber sie eigentlich streiten müsste.

Bis zu diesem Freiheitsgrad könnte eine Partei aus freien Individuen bestehen. Doch sie müssten sich anders verhalten als heute. Wer heute leugnen wollte, dass er anfällig ist, sich an Shitstorms zu beteiligen, wäre weniger frei, als man schon sein kann. Um sich vor dieser Anfälligkeit zu schützen, müssen sich die Individuen einen strengen Verhaltenskodex auferlegen. Das könnte damit anfangen, dass man sich nur mit „Sie“ anredet. Jede innerparteiliche Situation müsste streng formalisiert sein. Das wäre mit Freiheit nicht unverträglich. Wenn das freie Individuum sich in den Autobahnverkehr einfädelt, muss es auch bereit sein, sich formalen Regeln unterzuordnen. Bei Strafe des Untergangs. Vor dem Untergang sind eben auch Parteien, die es sich zu leicht machen, nicht gefeit. Die Piraten machen es sich zu leicht. Sie meinen, man komme besser voran, wenn man möglichst viele innerparteiliche Strukturen dereguliert. Das konnte nicht gut gehen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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