Wahlkampflügen? Aber sicher. Ganz bestimmt hat nicht nur Edmund Stoiber gelogen, als er zeitweilig behauptete, er werde im Fall eines Wahlsieges die Körperschaftssteuern erhöhen, sondern auch die Regierung. Dass die Wirtschaftslage sich nicht bessern würde und dass somit der Staat die erlaubte Obergrenze des Haushaltsdefizits, drei Prozent vom Bruttosozialprodukt, würde überschreiten müssen, zeichnete sich seit August bereits ab, wenn auch "genaue Zahlen" noch nicht vorlagen. Es stand auch schon alles in der Presse, daran erinnert stolz der Spiegel. Nun, und trotzdem wurde die SPD wieder stärkste Partei. Gerhard Schröders Verweis auf die schwierige Weltwirtschaftslage als Hauptursache der deutschen Konjunkturschwäche überzeugte offenbar viele. Kein Wunder, dass die Union es bis heute nicht fassen kann, galt doch hierzulande eine Art Gesetz, wonach jede Regierung abgewählt wird, die im Wahljahr nicht wenigstens einen Scheinaufschwung inszenieren kann.
Es ist gleichwohl komisch, die alte und neue Opposition mit einer "Lügen"-Kampagne reagieren zu sehen. Wer weiß denn nicht, dass eine Regierung "Grausamkeiten" möglichst kurz nach der Wahl begehen soll? Ganz falsch wäre es, sie kurz vor der Wahl zu begehen. Die Union tut jetzt so, als wüsste sie es nicht. Natürlich, wenn Hans Eichel den Konjunktur-Pessimismus schon vor dem 22. September bestätigt und seine Spar- und Steuerpläne damals in die Wege geleitet hätte, würden diese jetzt von einem Finanzminister unter Stoiber exekutiert werden. Das hat keinen Neuigkeitswert. Auffällig ist etwas anderes. Der Sinn des Ausdrucks "Grausamkeiten" hat sich verschoben. Wurden früher Einschnitte ins soziale Netz darunter verstanden, so ist es heute die Belastung des Kapitals, die den mitfühlenden Schmerz mobilisiert. Zwar werden wie üblich die Sozialhaushalte viel stärker geschröpft als die Unternehmerkassen. Denn während 2003 bei der Rente, der Arbeitslosenhilfe und der Bundesanstalt für Arbeit insgesamt 8,7 Milliarden Euro eingespart werden sollen, kann das "Gesetz zum Abbau von Steuervergünstigungen" im gleichen Zeitraum nur 3,6 Milliarden einbringen. Vorausgesetzt, der unionsgeführte Bundesrat lässt es passieren. Aber dass die Regierung es überhaupt wagt, auch Unternehmen zu belasten, führt zu Schreikrämpfen, einer Kampagne mit fast (konter-) revolutionären Untertönen.
Wir haben verstanden: Man erwartet von Gerhard Schröder, dass er nicht an die Fundamente des Neoliberalismus rührt. Er darf also keine Unternehmenssteuern erhöhen, die schon einmal gesenkt worden sind. Er darf auch keine ungerechten Steuervergünstigungen einkassieren, weil auch das als "Steuererhöhung" gehandelt wird. Von Schröder aus gesehen geht es darum, beide Hauptklassen der Gesellschaft zu belasten, wenn auch in einem Verhältnis, das seinem Wahlslogan "Innovation und Gerechtigkeit" Hohn spricht. Für seine Kritiker tauchen jedoch die Menschen mit ihren Klassenschicksalen gar nicht auf. Sie kennen nur neoliberal buchstabierte Gesetze der Volkswirtschaftslehre. Danach hat die Streichung von Steuervergünstigungen keine Entsprechung in der Kürzung des Arbeitslosengelds, sondern ist ein unwissenschaftlicher Akt, "Gift für den Aufschwung" und also unvergleichlich. Und so müssen wir uns in diesen Wochen das Geschrei vom "Gewerkschaftsstaat" anhören, den der Kanzler, die rote Fahne schwingend, jetzt aufbaue.
Allzu ernst braucht man das nicht zu nehmen. Angela Merkel, eben zur Fraktionsvorsitzenden gewählt, muss zeigen, dass sie ins Kleid der Oppositionsführerin passt. Mit der Wahllügen-Kampagne legt sie ihre Reifeprüfung ab. Die Republik wird es überstehen. Wichtig ist dreierlei. Sogar ein Hoffnungsschimmer ist darunter. Es wäre uns nämlich ohne das nachtragende Unions-Geschrei gar nicht aufgegangen, wie bedeutsam es ist, dass die Bevölkerung ihre Wahlentscheidung relativ unabhängig von dem schlechten Eindruck traf, den eine Konjunkturschwäche machte. Denken die Menschen gar nicht so ökonomistisch, wie es nötig wäre, um dem Neoliberalismus dauerhafte Dominanz zu sichern? Haben sie etwa den Primat der Politik über die Ökonomie noch nicht vergessen?
Das Zweite ist weniger erfreulich. Die Unions-Kampagne gegen Schröder mag lächerlich sein; sie ist es aber nur, weil Schröder noch weit schärfere Kritik verdiente. Neoliberale Politik wird nicht nur von der Opposition, sondern auch vom Kanzler betrieben. Der unterscheidet sich nur, weil er politische und gesellschaftliche Mehrheiten für die "Reformen" gewinnen muss. Deshalb dauert es bei ihm etwas länger. Die Union und der Spiegel, die keine Verantwortung tragen, können herausschreien, dass sie die Gewerkschaften zum Teufel wünschen. Der Kanzler muss sie im Boot halten und disziplinieren. Also präsentiert er ein Not- und Sofortprogramm, in dem auch ein paar Gewerkschaftsforderungen berücksichtigt sind. Aber gleichzeitig hat er nach der Hartz- die Rürup-Kommission eingerichtet, um die nächste "Reform"-Runde einzuläuten, und der Vorsitzende der Kommission hat schon die Heraufsetzung des Rentenalters gefordert.
Deshalb ist das Dritte so ärgerlich. Über das Treiben des Kanzlers und seiner Opposition sind wir ja längst nicht mehr überrascht. Aber warum sind die Gewerkschaften so willig, sich durch jeden Kakao ziehen zu lassen? Nicht nur aus der Opposition, auch aus dem Regierungslager tönen Rufe, der Bevölkerung müsse "reiner Wein eingeschenkt werden". Damit ist immer gemeint, ein Sozialsystem wie bisher könne aus dem Gewinn der Kapitalisten und dem Lohn der Arbeiter nicht mehr finanziert werden. Was für ein Unsinn. Die Summe von beidem wächst doch stetig an. Besonders wächst der Gewinn, den es freilich ohne Arbeiter nicht gäbe. Uns wird also nur Kakao eingeschenkt, kein Wein, schon gar kein reiner. Wer, wenn nicht die Vertretung der Arbeiter, hätte die Pflicht, das laut zu sagen? Sie darf sich nicht in der Macht sonnen, die ihr die neoliberale Presse fälschlich zuschreibt.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.