Viele kleine Brüche

Umdenken Wie vollziehen sich wissenschaftliche Revolutionen? Leiser, als es später erscheint. Die „kopernikanische Wende“ etwa hat es für Kopernikus selbst nicht gegeben

Warum ist die Reputation der Wissenschaft so groß? Weil sie methodisch gesichertes Wissen liefert. Freilich leiden wir darunter, dass unser Alltagsdenken es längst nicht mehr nachvollziehen kann. Max Weber schrieb vor hundert Jahren, der Wilde wisse „unendlich viel mehr“ von den Bedingungen seiner Existenz als der Zivilisierte. Lift und Trambahn sind seine Beispiele. Wir benutzen sie wie der Wilde den Fetisch. Wir sagen, sie werden mit Energie betrieben, aber was ist denn „Energie“? Ihre „Haupteigenschaft“ sei ihre „Transformierbarkeit“, schreibt Hermann Bondi 1971. Was sie selbst sei, darf man nicht fragen. Energie als Transformierbarkeit ist kein Prädikat, zu dem es ein Subjekt gäbe. Heinrich Hertz schrieb 1894, die Physik bediene sich gern „der Ausdrucksweise der Energielehre“, weil sie es so „am besten vermeidet, von Dingen zu reden, von welchen sie sehr wenig weiß“. Wenn wir um „Energie“ Krieg führen oder im Golf von Mexiko nach ihr bohren, ähneln wir dann mittelalterlichen Seefahrern, die sich mit gutem Erfolg an ptolemäischen, geozentrischen Himmelskarten orientierten?

Hier stoßen wir aber erst auf das größere Paradox. Was heute Wissenschaft genannt wird, ist aus der Verabschiedung des ptolemäischen Weltbilds hervorgegangen. Dieser Übergang scheint eine recht irrationale Veranstaltung gewesen zu sein. Als Galilei gegen das ptolemäische Weltbild stritt, konnte er sich mit seinen Gegnern nicht einmal über Dinge einigen, die zu sehen waren. Bert Brecht hat die charakteristische Szene in seinem Galilei-Drama festgehalten: Astronomen weigern sich, durchs Fernrohr zu schauen, um die Jupitermonde zu besichtigen, weil es solche Monde nicht geben könne. Ihr Wissen schloss das aus, und Galilei selbst verfügte über kein anderes. Er fand daher keine Begründung, konnte die Monde nur zeigen. Wissenschaft lebt aber von Begründung. Kurz, es gab eine „rationale Lücke“, und Galilei musste eine „wissenschaftliche Revolution“ vollziehen. So formulierte es der Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn vor einem halben Jahrhundert.

Seit das geschah, haben sich viele gemüht, die „Lücke“ zu schließen. Denn mag uns manches Wissenschaftliche mit Zweifel erfüllen, wollen wir doch die Wissenschaft selbst nicht mit dem Bad ausschütten. Aber dann müsste sich die Rationalität ihres Anfangs zeigen lassen.

Ursula Schmidt von der Arbeitsgruppe Argumentationstheorie an der Universität Hamburg hat einen besonders ambitionierten Versuch vorgelegt und rekonstruiert die Entwicklung „von der vorkopernikanischen Astronomie zur Newtonschen Mechanik“. Schmidt macht plausibel, dass es nicht besonders irrational war, nicht durchs Fernrohr schauen zu wollen. Das Gerät war noch unverlässlich. Es zeigte die Monde gar nicht immer. Und Galileis Gegner weigerten sich nicht so stur, wie Brecht suggeriert. Sie entwickelten vielmehr selbst bessere Fernrohre; sie ließen sich auf die Debatte ein.

Wandel in Schrittchen

In Schmidts Darstellung wird deutlich, dass diese Revolution aus vielen Schritten bestand. Unbegreiflich ist sie nur, wenn man ihr Ende mit ihrem Ausgangspunkt, also Newton mit Ptolemäus, „das“ heliozentrische mit „dem“ geozentrischen System, unmittelbar konfrontiert. Da scheint dann keine Brücke vom einen zum andern zu führen. Wenn man die Dinge im Einzelnen betrachtet, gewinnt man ein ganz anderes Bild. Die „kopernikanische Wende“ etwa hat es für Kopernikus selbst nicht gegeben. Er beabsichtigte wohl nicht einmal, der ptolemäischen Astronomie grundsätzlich zu widersprechen. Stattdessen nahm er sie sich, „abgesehen von der Erdbewegungsthese, zum Vorbild“. Es gab Unstimmigkeiten in den ptolemäischen Rechnungen, die waren zu beheben: Das hatten andere vor ihm getan und hatten das ptolemäische System deshalb nicht verlassen. Kopernikus sah nur eine weitere Unstimmigkeit: Unter der Voraussetzung, dass sich die Sonne um die Erde dreht, ließen sich die „Sphären“ von Venus, Merkur und Sonne nicht konsistent in eine zeitliche Ordnung bringen. Eine solche setzt, wie er fand, die Sonne als Mittelpunkt voraus: Dann war es kein Wunder, dass der Merkur als sonnennächster Planet 88 und die Venus 223 Tage umlief. Wenn aber diese Planeten umliefen, lag es nahe, dasselbe von der Erde anzunehmen.

Kopernikus brachte das herrschende Weltbild noch nicht in Unordnung, doch nach ihm zog Galilei eine theologisch brisante Schlussfolgerung: Wenn sich die Erde um die Sonne dreht, gibt es zwischen „Himmel und Erde“ gar keinen Unterschied. Der Himmel besteht aus Himmelskörpern und die Erde ist auch einer. Darzustellen, wie dieser Grundansatz mit den Einzelheiten der galileischen Physik zusammenhängt, gelingt Schmidt besser als anderen. Zum Beispiel hatte Galilei die These der Erdrotation zu verteidigen. Kopernikus war auf sie verfallen, weil sich der Schein der Sonnenbewegung um die Erde anders nicht erklären ließ. Aber dann müsste doch, sagten die Gegner, ein vom Turm fallender Stein etwas abseits vom Turm aufschlagen, denn die Erde hätte sich während des Falls ein Stück weitergedreht. Indem er das Argument zu widerlegen versuchte, fand Galilei eine erste Version des Trägheitsprinzips und begann mit den Überlegungen zu seinem Fallgesetz.

So entsteht ganz langsam die neue Physik, immer im direkten Kontakt mit den Argumenten der Gegner, und Schmidt folgt ihren kleinsten Zügen: erst über Kepler, Des­cartes und Borelli bis Newton, dann bei Newton selbst in der ganzen Verlaufsreihe seines weitläufigen Forschungsprogramms. Vieler Anläufe bedurfte es etwa, um die Wirkungen von Gewicht und Masse klar auseinanderhalten zu können und damit den Unterschied ihrer Begriffe, den ich in der Schule nie begriffen habe. Warum wird Physik nicht als Nachvollzug der Entstehung des physikalischen Gedankens unterrichtet? Dann würden Schüler vom Alltagsverständnis aus durch Schlussfolgern zur Einsicht geführt – den Physikern gelang es doch auch nicht anders –, anstatt sie nur Gesetzesformeln auswendig lernen zu lassen.

Ein neuer Rahmen

Die Irrationalität der wissenschaftlichen Revolution war behauptet worden, weil eine revolutionäre Theorie aus dem zu ihrer Zeit vorhandenen Wissen nicht abgeleitet, dann aber, wie es schien, überhaupt nicht „begründet“ werden kann. Gegen diese Ansicht bringt Schmidt auf den ersten 200 Seiten den Ansatz ihres akademischen Lehrers, des Hamburger Philosophen Harald Wohlrapp, in Stellung. Wohlrapp hatte schon unabhängig von der Frage wissenschaftlicher Revolutionen gezeigt, dass „Argumente“, die zu gebrauchen zweifelsfrei ein Akt der Rationalität ist, durchaus nicht immer Ableitung aus vorhandenem Wissen sind. Sie treten ja gerade dann auf, wenn eine These das vorhandene Wissen überschreitet; können sie sich dennoch darauf stützen, dann nur, indem sie es dabei auch umstrukturieren. So gesehen ist die „rationale Lücke“ Ausgangspunkt jeder Argumentation und ein vollkommen trivialer Fall rationalen Verhaltens.

Ferner hatte Wohlrapp gezeigt, dass Behauptungen wie auch deren Bestreitung stets einen „Rahmen“ voraussetzen, in welchem man sie aufstellt. Schmidt folgert, eine Behauptung „revolutionär“ zu nennen, bedeute, es bahne sich mit ihr ein neuer Rahmen an, in dem sich neu entscheide, was Wissen ist und was nicht. Argumentation nimmt dann die Gestalt an, die sie so penibel nachzeichnet: Dass in der Umstrukturierung vorhandenen Wissens Schritt für Schritt der neue Rahmen aus dem alten heraus entsteht. Der Rahmen entscheidet erst darüber, was überhaupt „Gegenstände“ sind. Es ist ein neuer „Rahmen“, in dem die Jupitermonde auftauchen; im alten sind sie nicht zu sehen, obwohl man meint, durchs Fernrohr blicken könne doch jeder. Der Gegenstand wiederum entscheidet, was als „Empirie“ gelten kann. Daraus folgt, dass – wie überall, so auch in der Naturwissenschaft – Argumentation noch wichtiger ist als Empirie. Denn diese kann nur im wissenschaftlichen Alltag Prüfkriterium sein, während es da, wo Wissenschaft allererst entspringt, also in der wissenschaftlichen Revolution, zunächst um die „Konstitu­tion“ der Voraussetzung – des neuen Gegenstands – geht.

Um mit Michel Foucault zu sprechen: In verschiedenen Diskursen tauchen verschiedene Gegenstände auf. Auf Foucault beziehen sich Schmidt und Wohlrapp aber nicht.

Wie wissenschaftliche Revolutionen zustande kommen. Von der vorkopernikanischen Astronomie zur Newtonschen MechanikUrsula Schmidt Königshausen & Neumann 2010, 443 S., 64

Der Begriff des Arguments. Über die Beziehungen zwischen Wissen, Forschen, Glauben, Subjektivität und Vernunft Harald Wohlrapp Königshausen Neumann 2008, 527 S., 29,80

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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