Wahlkampf im Schatten des Krieges

PDS-Parteitag Die PDS ist mit dem amerikanischen Volk solidarisch, nicht mit der Bush-Administration

Der Zeitpunkt des Treffens der Sozialisten ist eine Chance und zugleich ein Problem: vier Wochen nach den Anschlägen, ein paar Stunden vor dem Gegenangriff und zwei Wochen vor der Berliner Wahl. Sie können sich zwar früher als andere auf einem solchen Treffen zu den Ereignissen äußern. Aber dieser Parteitag hat eigentlich der Wahl zuarbeiten sollen; er kann nicht vollständig umgeschrieben werden. Zwei große Reden gibt es, Gabi Zimmer am Anfang, Gregor Gysi am Ende, und sie haben denselben Aufbau: Es geht zuerst um die Terrorschläge, dann wird über dieses Ereignis hinweg die innenpolitische und vor allem die sozialpolitische Debatte fortgesponnen.

Die Aussagen zum Terror als solche sind eindrucksvoll. Man möchte ihnen eine große Verbreitung wünschen. Der Terror sei kein Anschlag nur auf die westliche Zivilisation, sondern auf die Weltzivilisation, analysiert Frau Zimmer. Wer sie verteidigen wolle, müsse sie ändern. Ihr fehle nämlich noch die Basis. Die Gerechtigkeit. Wie Frau Zimmer erkennt, ist dies die Stunde, das schreiende Unrecht in Erinnerung zu rufen. Täglich verhungern 20.000 Menschen. Täglich sterben 25.000 Menschen an den Folgen des Mangels an sauberem Wasser. Sie hätte den Befund Jeremy Rifkins ergänzen können: Was Nordamerikaner und Westeuropäer für Kosmetik und Eis ausgeben, würde hinreichen, die zwei Milliarden Menschen, denen es nicht nur an sauberem Wasser, sondern auch an sanitären Anlagen und an Schulbildung fehlt, mit all dem zu versorgen. Frau Zimmer stellt stattdessen die unterlassene Hilfe der Kapitalisten heraus: Rund 5.000 Milliarden Dollar wurden "in Steueroasen geparkt und damit dem Kampf gegen Armut und Hunger und Aids und andere Nöte entzogen".

Sie schlägt "konkrete Initiativen" vor. Einen kurzfristigen Stufenplan zur Erhöhung der Entwicklungshilfe. Die Bundesregierung soll einen Betrag in Höhe der Kosten des Kosovo-Kriegs dem internationalen Flüchtlingswerk zur Verfügung stellen, damit afghanischen Flüchtlingen und Palästinensern geholfen werden kann. Nicht Deutschland, sondern ein islamischer Staat soll ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats werden. Der Bundesverband der Deutschen Industrie müsste sich zum kostenlosen Technologietransfer in die ärmsten Länder verpflichten. Schulen, in deren Nähe rechtsextreme Anschläge auf Ausländer vorkamen, könnten "zu Zentren öffentlicher, sozialer und interkultureller Angebote für Kinder und Jugendliche" werden. Die Finanzierung soll nach Frau Zimmers Vorstellung durch "eine Sondervermögensabgabe der deutschen Milliardäre" erfolgen.

Die veränderte Sicherheitslage reflektiert sie erwartungsgemäß anders als andere Parteivorsitzende. Außenpolitisch sehr klar: "Ich bin gegen militärische Gegenschläge." Innenpolitisch abwägend: "Jeder Besucher des World Trade Center musste durch eine Sicherheitsschleuse - das hat nichts geholfen." Dennoch will sie alle Vorschläge, die der Verfolgung der Terroristen dienen, wohlwollend prüfen. Nein zum Bundeswehreinsatz gegen Demonstranten, ja zur Lockerung des Bankgeheimnisses, "das es für Sozialhilfe-Beziehende sowieso nicht gibt".

Und dann steht der zweite Teil der Rede an. Wie ist eine Überleitung möglich von den 20.000, die täglich weltweit verhungern, zu dem Hinweis, dass Roland Koch sich nicht allein in Schwarzgeld-Affären hervortue, sondern auch "vorgeprescht" sei, die deutsche Sozialhilfe zu amerikanisieren? Frau Zimmer sagt: "Wer globale Gerechtigkeit will, muss damit im eigenen Lande beginnen."

Das ist der Diskurs der PDS. Die Debatte zeigt, wie sehr die Parteivorsitzende allen aus dem Herzen gesprochen hat. Eine wirkliche Debatte findet gar nicht statt. Die Gruppierungen, die der Parteiführung widerstreiten, sind als Minderheit quasi eingekapselt. Die Mehrheit hört ihr emotions- und folgenlos zu. Sie spendet Beifall, wenn da nur hilflos mit Allgemeinplätzen opponiert wird. Sie lacht, wenn einer beteuert, nichts sei ihm wichtiger als der Konsens. Ein Fraktionsverbot könnte kaum schlimmer sein als diese Form der Duldung. Freilich, die opponierenden Gruppen sind selbst schuld. Das Erlebnis ihrer redenden Repräsentanten ist durchweg schmerzhaft. Man sieht der beleidigten Unschuld, der strengen Gouvernante oder dem wiedererstandenen Trotzki zu. Sympathisch redet nur der, der sich als Opponent wohlweislich nicht zu erkennen gibt. Doch das Frappierende ist, dass sie der Parteiführung alle miteinander gar nichts entgegenhalten, außer wenn es um Verfahrensfragen geht.

So bleibt es Sahra Wagenknecht, der Exponentin der Kommunistischen Plattform, vorbehalten, den Kern der Rede von Gabi Zimmer zuzuspitzen: "Die PDS ist Antikriegspartei ohne Wenn und Aber, oder sie ist nicht." Und weiter: "Für Bushs Politik empfinde ich keine Solidarität, auch keine kritische, sondern gar keine." Frau Zimmer hat mehr Worte gebraucht, um dasselbe zu sagen: "Es gehört zur Solidarität mit dem amerikanischen Volk, sich in den Widerstand gegen jene Art kapitalistischer Globalisierung einzureihen, die in vielen Teilen der Erde als Unterordnung unter die ökonomischen, politischen und militärischen Interessen der US-Eliten und der Reichen dieser Erde empfunden wird." Viele wiederholen es: Die Solidarität der PDS gilt nicht der Bush-Regierung, sondern allein dem amerikanischen Volk und vor allem den Hungernden und Dürstenden in aller Welt.

Eine korrekte Position? Vielleicht. Aber der Beobachter kämpft mit Zweifeln. Können demokratische Sozialisten ein Volk von seiner eigenen Regierung so strikt trennen? Das amerikanische Volk wurde doch schon ungeduldig, als bis Ende letzter Woche immer noch kein "Vergeltungsschlag" erfolgt war. Ist die Solidarität der PDS denn echt? Mit dem Volk, auch wenn es irren sollte? Es scheint eher, dass die westeuropäischen Regierungen, die in der NATO mit der Bush-Administration zusammenarbeiten, Solidarität mit dem Volk auf dem Umweg über seine Regierung geübt haben, und zwar kritische Solidarität. Auf einer NATO-Sitzung sollten Beweise für die ausländische Herkunft der Terroranschläge vorgelegt werden. Dazu kam es nicht oder die Beweise wurden nicht akzeptiert. Jedenfalls verzichteten die USA auf die Ausrufung des Bündnisfalls. Damit hatten die Europäer jede Möglichkeit der Einflussnahme verloren. Eine Woche später wurde der Bündnisfall aber ausgerufen. Der amerikanisch-britische Angriff auf Afghanistan muss daher als in der NATO abgesprochen gelten. Worin die Differenzen im Bündnis bestanden haben, wissen wir nicht. Wollte Bush gleich den Irak angreifen? Oder gar taktische Atomwaffen einsetzen? Auch dieser Vorschlag war ja schon aufgetaucht. Die Frage, ob die Europäer alles mitmachen, was Bush noch einfallen mag, oder ob sie eine wirksame Grenze gegen "Abenteuer" gezogen haben - die deutsche Regierung betont ständig, auf solche lasse sie sich nicht ein -, bleibt offen.

Bekommen Sozialisten schmutzige Hände, wenn sie sich auf solche Feinheiten einlassen? Es stellen sich auch andere Fragen. Wie weit trägt es, den amerikanischen Gegenschlag zu kritisieren? Es ist ja nicht wirklich überraschend, dass eine Supermacht sich ihrer Todfeinde entledigen will. Rom hat Karthago zerstört, Washington will die Helfer-Netze des Terrors zerstören. Und was ist eigentlich das Argument gegen den Militärschlag? Dass Bin Ladens Schuld nicht erwiesen sei? Dass Unschuldige getroffen werden können? Doch Bin Laden ist jedenfalls ein Terrorist, der den USA seinen Krieg erklärt hat. Unschuldige wurden auch im Krieg der USA gegen die Nazis getroffen. Der Vergleich mit den Nazis wurde oft missbraucht in den letzten zehn Jahren, aber könnte er nicht trotzdem auf die Taleban passen, die bin Laden schützen, das Hören von Musik bestrafen und allen Frauen die Ausbildung, ja die Aushäusigkeit verbieten? Die PDS aber "ist nicht", wenn sie nicht Antikriegspartei "ohne Wenn und Aber" ist.

Die pazifistische Position der PDS scheint im Zusammenhang mit ihrer Art des Widerstands gegen die kapitalistische Globalisierung zu stehen. Diese wird auf die Dynamik des Kapitals zurückgeführt. Das Kapital ist aber laut Karl Marx ein Verhältnis, das aus Kapitalisten und Lohnarbeitern besteht. Die Lohnarbeiter sind wir; wir sind es, die unseren Lohn für jene Kosmetik und jenes Eis ausgeben, deren Wert ausreichen würde, um alle Menschen mit sauberem Wasser zu versorgen. Unsere Regierungen, an ihrer Spitze die Regierung Bush, sind die legitimen Vertreter der Kapitalisten und der Lohnarbeiter, also von uns allen. Was bedeutet es dann, wenn wir nur die Kapitalisten kritisieren, indem wir nur eine "Sonderabgabe der Milliardäre" fordern, und wenn wir unsere Regierungen nur als Regierungen der Kapitalisten abbilden, indem wir ihnen die kritische Solidarität verweigern - den Dialog, das Widersprechen -, um uns stattdessen in einer wirklichen oder eingebildeten Gegenmacht zu verschanzen? Es bedeutet, dass wir angeblich nicht dazugehören. Diese Angabe wiederum bedeutet, dass wir unsere Zugehörigkeit schützen. Denn ist es nicht unsere Kosmetik und unser Eis, das von Präsident Bush verteidigt wird? Wir leugnen das natürlich. Wir sind Pazifisten, wir haben mit seinem Krieg nichts zu tun. Friedrich Engels hätte uns wohl, wie weiland die britischen Proletarier, für "bestochen" erklärt.

Ich hatte zufällig Gelegenheit, eine Woche vor dem Parteitag an einer Art Parteiversammlung der Leipziger PDS teilzunehmen. Dort wurde auch über die Frage der Kosmetik und des Eises diskutiert. Die anderen Teilnehmer fanden sie absurd. Sie waren ganz sicher, dass es unmöglich wäre, den Gegenwert dieser Güter in die Dritte Welt zu transferieren. Wer so einen Transfer auch nur wünsche, rede praktisch dem Lohndumping und Sozialabbau das Wort. Er ist aber doch möglich: Man müsste den "Milliardären", statt sie nur um eine Sonderabgabe zu bitten, die Herrschaft über Ökonomie und Politik entreißen. Nein, ungefährlich wäre das nicht. Beim Kampf um eine andere Produktionsweise könnte die Kosmetik verrutschen und das Eis auf die Hose tropfen.

Es wäre gewiss bösartig, in Gabi Zimmers Satz "Wer Gerechtigkeit will, muss im eigenen Land beginnen" die Quintessenz eines politischen Programms zu sehen. Er verdankt sich ja nur der Formpflicht. Er ist weiter nichts als eine blöde Überleitung. Aber jedenfalls ist das ein falscher Satz. Die Gerechtigkeit beginnt nicht bei uns, sondern bei jenen 20.000, die täglich verhungern. Die PDS-Führung sieht genau, sie muss jetzt die Programmdebatte von vorn beginnen. Nach der Bundestagswahl soll ein neuer Entwurf vorgelegt werden. So steht es im Leitantrag, der mit großer Mehrheit angenommen wurde. Wird sie ihr Paradigma dann wechseln und die Problemlage von den internationalen Fragen her aufrollen?

Kein gutes Umfeld für Gregor Gysis Wahlkampf. Wie immer macht er das Beste daraus. Er als Einziger deutet seine Solidarität auch mit der US-Administration an, indem er sagt, sie gelte dem amerikanischen Volk und den Vereinigten Staaten. Und weil er diesem Volk zubilligt, dass es legitim sei, auf "Sühne" für die Anschläge zu bestehen, ist Solidarität in seiner Rede kein leeres Wort. Vergeltung ist eine Form der Sühne: eine archaische, im Rechtsdenken unserer Zivilisation längst überwundene Form. Nur in sehr zugespitzten Situationen taucht der Vergeltungsgedanke wieder auf. Man muss ihm dann widersprechen, eben indem man ihn auf den Sühnegedanken zurückführt. Wenn es nicht auf Anhieb gelingt, muss man den Widerspruch wiederholen. Das ist kritische Solidarität. Auch zum Militärschlag kann Gysi Klärendes ausführen. Einen Terroristen im fremden Land zu ergreifen, sei eigentlich eine Polizeiaufgabe, die aber nach Lage der Dinge von Militärs ausgeführt werde. So sei es auch bei der Ergreifung Adolf Eichmanns gewesen. Also führt es hier nicht weiter, das Wort "Militärschlag" zu meiden. Gysis Forderung, es dürften keine Unschuldigen leiden, bleibt aber ungenau. Entweder er scheut sich, die Risiken einzuräumen, die von jedem Militärschlag untrennbar sind, oder er meint es so strikt, dass seine Argumentation hinfällig wird.

Zum innenpolitischen Teil seiner Rede überzuleiten, fällt ihm leichter als seiner Vorsitzenden. Er braucht ja nur vom Sicherheitsbedürfnis der Berliner zu sprechen. Das heißt, es fällt nicht auf, dass er einen Überleitungsgedanken gar nicht äußert. Auf den Straßen und Plätzen sollen sich mehr Polizisten zeigen. An einem 7. Oktober wie heute, sagt er plötzlich, ist auch die DDR gegründet worden. Und auch viele DDR-Bürger haben sich gefragt, wozu sie eigentlich eine Hauptstadt brauchen. Diese Bemerkung wird mit Lachen und Beifall quittiert. Gysi entwickelt nun das Hauptstadt-Programm. Die Hauptstadt soll nicht führendes Zentrum, wohl aber Motor sein, und zwar des deutschen Föderalismus. Bevor die Bundesländer das bezahlen, wird Berlin aber zeigen müssen, dass es wirtschaften kann. Also soll bis 2009 die Neuverschuldung abgebaut werden: durch Einschnitte "zu Lasten derer, die sich das auch leisten können". Für Bildung indessen muss mehr Geld ausgegeben werden als bisher.

Zum Schluss ist Gysi beim innerdeutschen Ost-West-Gegensatz. Den soll sein Wahlkampf überwinden helfen. Über Schröders Sommerreisen durch die Neuen Länder macht er sich lustig. Es seien Auslandsreisen, "als wenn er auf den Philippinen wäre: Die Leute sind ganz nett ..." Eine brillante Rede. Nur kann uns auch Gysi nicht erklären, was eine Innenpolitik im Zeichen des Kampfes für eine gerechte Weltordnung wäre. Doch schärfer als Gabi Zimmer benennt er das Problem, das weder zu Roland Kochs Schwarzgeld-Affären noch zur Motorfunktion der deutschen Hauptstadt überleitet: "Entwicklungshilfe wird zur Existenzbedingung unserer Gesellschaften. Wenn wir sie nicht leisten, werden wir selbst nicht weiter existieren können."

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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