Das Berliner „Solistenensemble Kaleidoskop“, bestehend aus 15 Streichern und Streicherinnen, wurde vor zehn Jahren gegründet und feiert in diesem Jahr sein Jubiläum: mit Veranstaltungen am 24./25. September im RADIALSYSTEM V und mit der Konzertreihe „Unmöglichkeit I – IV“, dessen vierten Teil ich mir am Samstag angehört habe. Genauer gesagt war ich über längere Zeit dabei: Es war eine Lange Nacht, die von 18 Uhr am Nachmittag bis wohl ca. zwei Uhr morgens dauerte, und ich bin um halb Zwölf gegangen, randvoll mit Eindrücken und nicht mehr weiter aufnahmefähig. Die Session war großartig nicht nur der Musik wegen; auch schon allein der Ort faszinierte und war gewiss nicht zufällig gewählt. Doch der Reihe nach.
In den verschiedenen Berliner Festwochen ist das Ensemble, das von zwei seiner drei Cellisten, Michael Rauter und Tilman Kanitz, künstlerisch geleitet wird, meines Wissens noch nicht aufgetreten, doch war es beispielsweise beim Kunstfest Weimar, der Salzburg Biennale, dem Sydney Festival in Australien und anderswo zugegen. Dabei würde es der Berliner MaerzMusik durchaus gut tun, es baldmöglichst einzubeziehen. Die MaerzMusik definiert sich seit dem vorigen Jahr als „Festival für Zeitfragen“, es will „herrschende Zeitbegriffe, Zeitstrukturen und Zeiterfahrungen aus politischer, wissenschaftlicher und künstlerischer Perspektive“ diagnostizieren und hat sich im März 2016 „auf das Digitale Universum als Geburtsort neuer Zeitformen“ spezialisiert – nicht zu meiner ungeteilten Begeisterung, wie ich gestehe. Da konnte man zum Beispiel hören, wie ein Computer komponiert. Wenn man es hören wollte. Es war natürlich anerkennenswert, dass versucht wurde, neue Wege der Musikproduktion auszuloten. Eben denselben Versuch unternimmt auch das Ensemble Kaleidoskop. Auf Maschinenmusik wird man da nicht stoßen, wenn auch auf elektronische. Die Fragen, die hier gestellt werden, sind welche von Menschen für Menschen:
„Mit der Konzertreihe Unmöglichkeit I-IV stellt Kaleidoskop die Frage nach der Existenz einer absoluten, unzerstörbaren Idee eines musikalischen Werks: Wann wird Geräusch Musik? Wie lassen sich musikalische Standpunkte vermitteln? Welche Unmöglichkeiten des gemeinsamen Musikmachens existieren?“
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Die letzte Frage spielt darauf an, dass das Ensemble nicht nur als musikalische Assoziation auftreten will, sondern ihm auch das sicht- und hörbare Hervortreten der Einzelnen wichtig ist; deshalb sein Name, das Oxymoron „Solisten“ensemble. Eine Art, wie es geschehen kann, wurde im ersten Teil der Langen Nacht vorgeführt: Die Solisten und Solistinnen saßen oder standen über den Raum verteilt, zwischen ihnen lagerte das Publikum auf länglichen Kissen, deren Gesamtmuster an einen labyrinthischen Garten erinnerte. Einzeln oder zu zweit oder dritt spielten sie kurze Stücke von Xenakis, Haas, Sciarrino, Scelsi, Lachenmann und noch vielen anderen, auch Kurtág und Carter, auch Bach sogar (Sarabande und Double), alles aber mit Überlagerung der Anfänge und Enden, ja manchmal übereinander und oft mit ungewöhnlichen Spieltechniken. Eine Violinistin zum Beispiel begleitete ihr leises Spiel mit ebenso leisen hellen Schreien, was klanglich sehr gut zusammenpasste. Überhaupt spielten alle meistens sehr leise, was aber hinreichte, den ganzen Raum mit einem derart überpräsenten Klangteppich zu durchweben, dass man sich zuhörend in einem der höheren Himmel verlor.
An dieser Stelle muss erst einmal vom Raum die Rede sein. Das Konzert wurde im Sudhaus der ehemaligen Kindl-Brauerei in Berlin-Neukölln gegeben. Das ist eines der vielen Industriegebäude, die nach dem Muster der Kirchenarchitektur gebaut sind; so hat der Turm hohe Spitzbogentore und das „Kesselhaus“ links von ihm – wo das Konzert gegeben wurde - kann sich in seiner Höhe, entfernt aber auch in der Fensterfassade und dem Lichtspiel, das sie innen hervorbringt, mit gotischen Kathedralen messen. Da es natürlich von allem Industriellen entkernt und nur der nackte Raum als solcher übrig geblieben ist, könnte es kahl und leer wirken, tut es aber nicht, sondern wirkt mit einigen abgezirkelten schwarzen und braunen Feldern in der Höhe, oder unten mit hellen Ziegelkacheln, die in nackte Mauerstücke auslaufen, wie ein modernes abstraktes Kunstwerk. Natürlich ist der Halleffekt sehr stark, wenn Musik gespielt wird, aber das kann dem Ensemble nicht unlieb sein, darauf komme ich noch. Im ersten Konzertteil machte der Hall es leicht, jenen Klangteppich hervorzubringen.
Er wurde eingeleitet mit einer langen Passage aus Christoph Herndlers Stück abschreiben, vielleicht war’s auch die ganze Komposition; im weiteren Verlauf wurde ein Ausschnitt wiederholt. Dieses Stück stieg von Anbeginn in die erste der Fragen ein: Wann wird Geräusch Musik? Rechts und links von mir spielten zwei Violinistinnen, die eine brachte lange Zeit nur Kratzgeräusche hervor, wie sie beim Schreiben mit der Feder zu hören sein mögen. Das war Geräusch. Allmählich wurden aber musikalische Töne, knappe Tonlinienfragmente daraus. Und von überallher ergänzte der Raum die leise Brandung des Gesamtensembles, denn in diesem Stück spielten alle mit. So leise wiederum die Kratzgeräusche und ihre Verwandlung waren, sie waren mir benachbart und also etwas lauter. Wie eindrucksvoll, die Frage so zu beantworten! Das ist John Cage, aber produktiv weitergedacht. Cage wollte ja in der Musik „das Geräusch emanzipieren“, so wie vor ihm Arnold Schönberg „die Dissonanz emanzipiert“ hatte. Doch kann man sich bei Cage noch fragen, was das denn soll. Er „emanzipiert“ den Verkehrslärm auf der Straße oder das Gluckern von Wasser im Gewächshaus. Ganz anders ist es, wenn Geräusch unter der Frage steht, wie es gleichsam musikalisch wachgeküsst werden kann. Da denkt man an Michelangelos Sklaven, die vom Bildhauer aus dem rohen Steinblock geschlagen werden. Und sieht die Parallele zu einem anderen Unternehmen, das in diesem ersten Teil auch präsent ist: Wie aus Geräusch Musik werden kann, so aus dem nichtvorhandenen Ton der hörbare. Für Letzteres steht etwa Scelsi.
Oder der Ton kann ins Schweigen auch wieder zurückgeführt werden, wie es in Thomas Manns Roman Doktor Faustus geschieht. Dort gestaltet der Komponist Adrian Leverkühn, so jedenfalls empfindet es sein Freund Serenus Zeitblom, „aus tiefster Heillosigkeit, wenn auch als leiseste Frage nur, die Hoffnung“: „Hört nur den Schluss, hört ihn mit mir: Eine Instrumentengruppe nach der anderen tritt zurück, und was übrigbleibt, womit das Werk verklingt, ist das hohe g eines Cellos, das letzte Wort, der letzte verschwebende Laut, in Pianissimo-Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr, - Schweigen und Nacht. Aber der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, ist es nicht mehr, wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht.“ Mit welchem Schlussbild dieser Erzähler, vielleicht auch der Dichter selbst für die Hoffnung Partei ergreift, denn das „Licht in der Nacht“ ist eine zentrale biblische Metapher (Jesaja 9, Vs. 1; Matthäus 5, Vss. 14-16).
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Schönberg, erinnerte ich eben, wollte „die Dissonanz emanzipieren“. Das war ein sinnvolles Unterfangen; es ist in der Tat nicht einzusehen, weshalb bestimmte Klänge, diejenigen, die die einfachsten Proportionen verkörpern, als „konsonant“ vor anderen komplexeren ausgezeichnet sein sollen. Man gewöhnt sich an sogenannte „Dissonanzen“ und öffnet sich damit einem differenzierteren Klangraum. Aber Musik kann noch weiter gehen und es mit der Dissonanz so weit treiben, dass sie dem Hören als solche gar nicht mehr erscheint, vielmehr schillernde Musikfarbfelder bietet, wo das Licht mal die eine, mal die andere Zone stärker akzentuiert. Ligeti war wohl der Erste, der gleichsam systematisch in dieser Weise komponiert hat, nachdem aber schon Schönberg selber mit „Farben“, dem mittleren Satz der Fünf Orchesterstücke op. 16, die Richtung angegeben hatte. Will man solche Musik, tut ein Raum mit starkem Halleffekt ein Übriges. Das trat im zweiten Teil der Langen Nacht hervor, in der das Ensemble geschlossene Stücke spielte, etwa Aroura für 12 Streicher von Xenakis oder ein Streichquartett von Ole-Henrik Moe, ein anderes von Lachenmann. Zipangu for 13 strings von Claude Vivier klang überwiegend tonal und hatte doch des Halls wegen diesen indifferenten Klangeffekt, so dass ich dachte, schade, dass sie nicht auch das Brandenburgische Konzert Nr. 3 von Bach spielen.
Dies Indifferenzerlebnis bringt Tom Rojo Poller im Programmheft sehr interessant zur Sprache: „Dass räumliche Metaphorik so gut wie jedem Zur-Sprache-Bringen von Musik unverkennbar eingeschrieben ist (und das schon in Grundbegriffen wie Tonhöhe, Intervall etc.), ist [...] ein deutlicher Indikator für die essenzielle Raumbezogenheit westlicher Musik und Musikerfahrung. Gleichwohl – oder auch gerade deshalb – hat es in der neueren Musikgeschichte immer wieder Versuche gegeben, den visuell-räumlichen Aspekt von Musik zu transzendieren und die Dimension von Zeit und Klang ganz in den Mittelpunkt zu stellen. Auch der letzte Konzertteil folgt diesem Ansatz.“ Den letzten Konzertteil habe ich mir wie gesagt nicht mehr angehört, doch konnte man es eben schon im zweiten Teil erleben. Ein indifferenter Gesamtklang, der mehr „farblich“ changiert und sich entwickelt, ist tatsächlich insofern raumlos, als sich der Raum durch seine Dimensionen erschließt und man diese in den Abständen der Objekte und Objektteile wahrnimmt. So sind Tonhöhe und Intervalle Abstände, und jede Musik, die sie hörbar macht, scheint gleichsam das Klettern zu erzählen oder über es zu reflektieren. Steigen und Fallen sind oft als musikalische Sinneffekte eingesetzt worden, auch in eher „abstrakter“ Musik. Solche Räumlichkeit wurde also zurückgenommen. Aber was hörte man dann stattdessen?
Gewohnte musikalische Botschaften sind eine Mischung aus Rhetorik und quasimathematischer Entwicklung, wobei das Pendel je nach Absicht und Begabung des Komponisten mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung schwingt. In der Kunst der Fuge von Bach überwiegt der mathematische Charakter, hingegen wenn Wagner im Parsifal-Vorspiel ihr Thema adaptiert und verschiebt, der rhetorische. Mit der „indifferenten“ „Farben“musik kommt ein Drittes ins Spiel. Und ich denke, die zitierten Sätze von Poller treffen es noch nicht ganz. Denn die Alternative zum „visuell-räumlichen Aspekt von Musik“ ist nicht „die Dimension von Zeit und Klang“ – deshalb nicht, weil die Zeitwahrnehmung ja ihrerseits von der Raumvorstellung dominiert sein kann. Dass unsere Vorstellung der Zeit es meistens ist, lehrt der einfachste Blick auf den wandernden Sekundenzeiger. Klang wiederum ist alle Musik, auch die räumlichste. Es ist wohl eher so, dass die indifferente „farblich“ changierende Musik, wie ich sie unvollkommen genug bezeichne, sowohl aus dem Raum als auch aus der Zeit herausfällt. Und umso paradoxer ist es, wenn ihr Klang, der selbst keine Metapher auf Räumliches mehr ist, in einem Raum wie dem „Kesselhaus“ seine realen Orte hat und verändert.
Die Quartette, Zwölf- oder Dreizehnstreichergruppe, als die das Ensemble im zweiten Teil der Langen Nacht auftrat, verstreuten sich nicht mehr über den Raum, sondern sammelten sich vor verschiedenen Wänden, wo sie sich optisch fast verloren – wie es in einer gotischen Kirche nicht anders wäre -, während sie musikalisch umso eindringlicher kommunizierten. Ich denke, das Dritte, nach dem wir suchen, muss jedenfalls eine Dimension des Kommunizierens sein. Kommunizieren heißt nicht nur, dass Botschaften ausgetauscht werden, wofür wir die Sprache brauchen; es fängt mit der Stimme an. Keine Stimme eines Menschen gibt es, die nicht anders wäre als die andere, und jede ist ein indifferenter „farblich“ changierender Gesamtklang von höchster Komplexität. Über diesen Klang kann man sich auch lustig machen. In einem Konzert der MaerzMusik 2016, das ich anhörte, gab es ein Stück mit dem Titel „Tierfrieden“, das die durcheinandergrölende Kreatur musikalisch imitierte, von einem Komponisten (Moguillansky), der im Konzertheft begleitend vom „Klang unserer gescheiterten (humanen?) Natur“ sprach; er stellte menschliche Stimmen dar, als wären sie ein Blöken, Krähen, Röhren, Miauen. Der Komponist selbst machte sich nicht lustig, macht aber darauf aufmerksam, dass manche es schon tun. Es war eine nützliche Provokation. Es gibt tatsächlich schon welche, die den Menschen für gescheitert erklären und meinen, der Stab des Humanen müsse an die Maschine weitergereicht werden. Gescheitert, weil evolutionär zurückgeblieben. Solche Gedanken, man hört es, ohne dass es gesagt werden muss, liegen dem Solistenensemble Kaleidoskop sehr fern.
Die Stimme ist selbst eine Botschaft. Sie zeigt mir, wie unendlich anders mein Nächster ist, denn nie werde ich seine Stimme entschlüsseln können. Was hat er mir zu sagen? Oder sie? Oder die Musik, von der die Rede war? Wenig verstehe ich sie, wenn ich mich über ihr unendliches Anderssein hinwegsetze. Der Raum hört auf und die Zeit steht still, wenn ich der Stimme zuhöre.
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Geräusch ist dann Musik, wenn diese an nichts erinnert, was im äußeren Leben ist. Da muß alles entzaubert sein, wenn Musik Musik ist. Bei den übrigen Künsten muß alles abgerechnet werden, was zu den Sinnen gehört, und die Musik braucht das dann nicht, wenn sie nicht nur Geräusch ist. Oder?
Geräusch kann Musik(material) werden, wenn es nicht mehr indexikalisch verstanden, sondern ikonisch gehört wird.
Musik ist seit je Projektionsfläche. Solange Geräuschkompositionen dieser Funktion nicht im Wege stehen, können sie mit einiger Berechtigung als Musik erachtet werden. Das heißt auch, dasss die Frage nach der absoluten, unzerstörbaren Idee eines musikalischen Werkes nicht überindividuell beantwortet werden kann.
Sie schreiben über eine Abstraktion und tun es so, dass ich nachempfinden kann, welche Schwierigkeiten sich gerade bei einer solchen, nicht festlegbaren Grenze zwischen Geräusch und Musik ergeben. Ich meine, wenn man diese Grenze, wie die Musiker und Komponisten es wollen, bewusst aufsucht.
Sie gehen die Sache recht theoretisch an, ich, will ein wenig noch an Beispielen einbringen, was mir dabei in den Sinn kam. Damit kann ich natürlich auch meinen Mangel an theoretischem Hintergrund zu neueren und neusten, klassischen Musik verbergen.
Wie wird aus Geräuschen Musik?
Ich hatte Ihnen ja schon einmal zu Dame Evelyn Glennie berichtet, dieser wunderbaren, fast tauben Perkussionistin. Ich glaube, mit dem von Anfang aller Zeiten an möglichen Schlag, dem Klatschen, dem Vogelsang und Kreischen der Tiere im Busch, dem Zirpen und Raspeln der Insekten in einem Grasland; mit dem einsetzendem Regen, der auf Böden und auch einmal auf hohle Hölzer fällt, mit Wasserfällen und Laubrascheln, und natürlich mit der Fähigkeit der menschlichen Stimme, fing alles an.
Ein Geräusch kennzeichnet, dass es ungestimmt ist. So geht es los, und daraus entsteht dann der erste Wunsch, einer Trommel eine Stimmung zu verpassen und mit mehreren Trommeln schon mehrere Töne klingen lassen zu können.
Mir fällt nun gerade nichts Klügeres ein, als dazu einen You tube- Link anzubieten, der schon mehrere Millionen mal angespielt wurde. Es ist ein kleiner, aber feiner Film über den Rhythmus.
Danach kommt die Perkussionistin zu Gehör und dann einer, der diesen fließenden Übergang, Geräusch auf Musik zu, bzw., vice versa, spielend hinbekam. Ich halte ihn für einen bedeutenden Musiker des letzten Jahrhunderts: Charles Mingus.
Nun aber zuerst:
FOLI (there is no movement without rhythm) original Version von Thomas Roebers and Floris Leeuwenberg. Alles ist Rhythmus und kommt zuerst ungestimmt und höchstens noch stimmbegleitet zu uns.
Dann entsteht das "erste Instrument", die Djembé, sie hat drei Grundtöne. Besser als die Baro, kann das auch kein Komponist oder Musikwissenschaftler beschreiben.
Was bietet Evelyn Glennie, zusammen mit Fred Frith an? Die beiden improvisieren, teils auch mit präparierten Instrumenten, in einer aufgelassenen Fabrik. Daraus ist auch ein sehr ansehlicher Musik-Dokumentarfilm entstanden ("Touch the Sound" von Thomas Riedelsheimer), der zeigt, dass sogar eine sakrale Stimmung mit minimalen Mitteln möglich ist: "Little prayer".
Gleich möchte ich noch ein Stück von Askell Masson anfügen, "Prim", das Evelyn Glennie, nach einer ungemein witzigen Einführung, auf der Snare Drum spielt. Ein einziger Schlag auf der Snare hat Geräuschcharakter, und nur gute Musiker entlocken diesem Instrument eine verblüffende Musikalität. Nie aber, verschwindet das Maschinenhafte des Snareschlages.
Nun komme ich noch zu Charles Mingus, der zu dieser Art und Weise, vom Geräusch zur Musik zu kommen und wieder umgekehrt, noch eine sehr entschlossene Programmatik und sogar eine eher außermusikalische, politische Stellungnahme hinzufügt.
Das ist in höchstem Grade artifizielle, trotzdem groovende und ausdrucksstarke Musik, die Hörer und vor allem auch Musiker immer wieder anzieht. Erschreckend, wie absolut aktuell diese Musik von 1959 ist: "Fabus Fables".
Hintergrund: Der Mob und Gouverneur Fabus von Arkansas, hatten 1957 scharze Schülerinnen vom Besuch der Little Rock Central High School abhalten wollen. Der Politiker schickte seine Nationalgarde und die Polizei. Dwight D. Eisenhower befahl Teilen der berühmen 101. Luftlandedivision (D-Day), die neun Mädchen in die Schule zu begleiten und unterstellte die Nationalgarde des Staates Arkansas seiner Befehlsgewalt.
Musikalisch kann dagegen nur geschrien werden und es muss ein großes Geräusch erzeugt werden, um die Ungerechtigkeit anzuprangern, die diesen Mädchen geschah.
Mingus ist ein Meister darin, den Aufschrei, das Geräusch, den Ausbruch, in einer geschlossen wirkende Komposition, die sogar klangschöne Momente hat, sozusagen Hoffnung lässt, zu integrieren: "Pithecanthropus Erectus" (1956). Dabei ist er- so wie mancher gute bildende Künstler- in der Lage, Zitate, im Grunde Wiedererinnerungen aus der Musikgeschichte zwanglos einzuweben, also zu belegen auf welchen Schultern er steht, ohne sich anzubiedern.
Beste Grüße und Dank für so viel Anregung
Christoph Leusch
Lieber Columbus, das sind wundervolle Beispiele und sie erweitern meinen Horizont. Ja, heutzutage erscheint es so, als wäre das Geräusch neben dem, was als Musik galt, eine Entdeckung (Cage), aber es ist sehr überzeugend zu hören, daß Musik aus Geräuschen natürlich entstanden ist (solchen der Natur wie der Arbeit!) und immer noch entsteht, und wenn Musik und Geräusch in einer bestimmten Kultur in Trennung geraten sind, auch dort immer von neuem entstehen kann. Sie ist aus bestimmten Geräuschen entstanden; kann sie auch aus dem Straßenautolärm entstehen? Oder auch Generatorlärm (La Monte Young)? Diese im Grunde verzweifelten Fragen kann man sich heute stellen; wobei Cage wohl eher gefragt hat, wie umgekehrt aus der Musik Geräusch entstehen kann, so wenn er Klaviere „präpariert“, dann auch wie Geräusch als solches schon, ohne irgendeine Tranzendierung, Musik sei oder es auf den Unterschied nicht ankomme oder es unsinnig sei, ihn zu behaupten. Ein weites Feld... Mich hat beeindruckt, daß ein Komponist gerade Schreibkratzgeräusche zum Ausgangspunkt genommen hat; die sind schon mal per se rhythmisch, aber auf besondere sehr koomplexe Art.
Charlie Mingus mag ich auch sehr, werde ihn gleich nachher auflegen - „freedom for your mother, freedom for your daddy, freedom for your brothers and sisters, but no freedom for me“ ...
Danke auch Ihnen und viele Grüße, M.J.
Diesen für Musikfreunde so interessanten Beitrag habe ich nicht über die chronologische Beitragsliste gefunden, sondern zufällig durch das aktuelle Kommentarfenster. Warum wird er in der Beitragsliste nicht geführt?
Eine kleine Anmerkung zum Begriff Solistenensemble. Für mich ist das kein Oxymoron. Es gibt, insbesondere in der neuen Musik (Ensemble modern, Klangforum Wien, Ensemble intercontemporain) eine Vielzahl von Kammerensembles, in denen die einzelnen Instrumentalstimmen solistisch besetzt sind (zB zwei Violinstimmen durch zwei Geiger), vergleichbar der Jazz-Combo (vom Trio bis etwa zum Tentett). Im Kontrast dazu das Sinfonieorchester oder die big band, wo die Stimmen chorisch ausgefüllt werden. Es gibt auch den Zwitter Kammerorchester, in dem die Streicher nicht solistisch auftreten (vielleicht um den Streicherklang zu verstärken gegenüber den Bläsern, es könnte auch eine Rolle spielen, daß insbesondere mehrere Streicher einen homogeneren, weicheren Klang erzeugen können). Allerdings ist es ein sehr effektvolles Mittel, an hervorragenden Stellen in einer Sinfonie einen einzelnen Sologeiger (seltener einen einzelnen Bläser) aufspielen zu lassen, aus dem symphonischen Klang herauszuheben.
Das angesprochene Thema des Übergangs zu Musik ist, jedenfalls für Musikliebhaber, so fundamental, daß ich mir vorgenommen habe, mich einmal in einem eigenen Beitrag darauf zu konzentrieren, hier begnüge ich mich mit ein paar zentralen Überlegungen zu diesem und anderen angeschnittenen Sujets.
Als erstes würde ich vorschlagen, den Übergang von Geräusch zu Klang und von akustischen Ereignissen zu Musik und schließlich zur Musikkunst zu unterscheiden. Der erste ist der Unterschied von in der Hauptsache aperiodischen und überwiegend periodischen Schwingungen in dem akustischen Geschehen. Der zweite ist die zu Gehör gebrachte Strukturierung einer zusammenhängenden akustischen Ereignismenge. Solange zB Rufen oder Stampfen nur Koordinationsfunktion haben, würden wir wohl nicht von Musik reden. Aber es ist ein fließender Übergang zur musikalischen Eigenbedeutung, zur Loslösung von der lebenspraktischen Funktion. Auch im Falle ritueller Handlungen beginnen wir von Musik zu sprechen, wenn die akustischen Vorgänge auch losgelöst von der (religiösen oder sozialpsychologischen) Funktion artikuliert oder rezipiert werden.
Zu einer Kunstform wird Musik, wenn sie rein musikalische oder musiksprachliche Qualitätskriterien entwickelt. Nach dieser Definition, die ich für die angemessenste halte, ist jede organisierte Produktion auch von Geräuschen jenseits funktioneller Bedürfnisse Musik, das lustvolle Erzeugen rhythmischer Patterns, die musique concrete, die Organisation von ausgewählten, aufgelesenen akustischen Realereignissen und – auf die reinste, abstrakteste Weise – die elektronische Klangerzeugung. Wie gesagt, wird das zur Kunst, wenn formale oder darstellungspraktische Kriterien entwickelt und erfüllt werden.
Zu Raum und Zeit. Dabei abstrahiere ich einmal von Deinem Thema der Akustik in geschlossenen Räumen. Da Klang nach obiger Definition Musik ist, wenn er nicht Naturklang ist, gilt dies auch für den stehenden, dh unveränderlichen Dauerklang. Aber er markiert die Grenze. Er ist zwar in sich (an sich) Bewegung (= Schwingung), aber er wird im eigentlichen Sinn erst Musik, wenn er sich in der Zeit verändert. Ebenso ist ein gleichmäßiger Surroundklang ein Grenzfall, die Schallerzeugung ist immer lokalisiert (gilt ebenso für die rhythmische Struktur: ein unveränderliches Muster, oder gar die völlig gleichmäßige Taktung ist grenzwertig). Also ist es sinnvoll, davon zu reden, daß Musik in Raum und Zeit stattfindet. Mit diesem Sein in Raum und Zeit kann man allerdings ganz unterschiedlich umgehen, kann es betonen, kann es verschleiern. Wagner läßt das Orchester verschwinden, entmaterialisiert die Musik, löst sich von Raum und Zeit. Hier kann man eine überraschende Parallele zu Bachs Kunst der Fuge erkennen. Diese reine Musik ist nicht an instrumentale Individualcharaktere gebunden. In den angesprochenen Farben von Schönbergs op. 16 geht es, freilich ohne allzu sehr auf die anderen musikalischen Parameter zu verzichten, wie dann konsequenter in Ligetis Musik um Klangfarbenkomposition, also um die Zusammensetzung der Klangakkorde mit Obertönen. Der Klangfarbenwechsel ereignet sich in der Zeit und in der traditionellen Klangerzeugung durch Instrumente auch im Ort, in der neuen Musik aber vermehrt durch unkonventionelle Spielweisen der Instrumente, elektronische Manipulation der traditionell erzeugten und rein elektronisch erzeugte Klänge, womit auch die Verortung des musikalischen Ereignisses frei zur Verfügung steht.
Das Individuelle und das Ganze. Ich hatte vorgeschlagen, in Musik als einer Organisationsweise akustischer Ereignisse eine Abstraktion von funktionalen Bedeutungen zu sehen. Das heißt aber nicht, daß sie sich gänzlich davon löst und zu einem rein bedeutungslosen Spiel wird. Sie entwickelt sich als Kommunikations- und Erlebnisform, also als eine Art Sprache, Du sprichst von der dritten Dimension der Kommunikation. Ich glaube, daß Musik nur intellektuell verstanden werden kann, wenn sie weder mit den extensionalen natürlichen Sprachen gleichgesetzt noch auf eine rein formale Sprache reduziert wird. In der Abstraktion vom Designativen wird sie zum idealen Medium der Gefühlsexpression, sie vermittelt Allgemeines und Individuelles, Objektives und subjektive Bedeutsamkeit. Daher ist es nicht verwunderlich, daß Musik als die bevorzugte Sprache der Gefühle erkannt wird. Gefühlsexpression durch den Musiker und -identifikation durch den Rezipienten, das Einzelne und das Ganze. Schon im kollektiven Musizieren pendelt die Musik zwischen den Individualstimmen und dem Klangintegral. In unserer Musiktradition haben wir die Zweigleisigkeit von konzertanter und sinfonischer Musik. Musik ist das Modell der unmittelbaren Simultankommunikation, und das gilt nicht nur für die Ebene der Synchronie, sondern auch die Diachronie. Ich hoffe, ich bin mit dieser Andeutung nicht zu kryptisch geworden.
Danke auch von mir für die Erinnerung an einen der Größten, Charles Mingus. Er ist insofern einzigartig, als ich niemanden im Jazz kenne, der in vergleichbarem Ausmaß Emotionalität mit musikalischer Intelligenz und Kontrolle verbunden hat. Die Fables of Faubus, eines seiner für ihn selbst wichtigsten Beiträge (vergleichbar der Jazz-Komposition strange fruit in der Performance von Billie Holiday), was man an den vielzahligen, teilweise extrem ausgedehnten Einspielungen in den unterschiedlichsten Besetzungen erkennen kann, sind ein Meilenstein der Jazzgeschichte und ein Referenzmodell seiner Musik. Wer die intellektuelle Seite an den Fables of Faubus nicht erkennen kann, möge sich Tensions von Blues 'n' Roots, einer der besten Platten von Mingus, anhören, ein Höchstmaß an musikalisch kontrollierter Emotionalität.
Übrigens passend zum Thema: Charles Mingus hat den größten Beitrag dazu geleistet, daß der Bass sich aus der Rolle eines Begleitinstruments der Rhythmusgruppe zum Soloinstrument emanzipiert hat.
Danke für Deine Überlegungen, aus denen ich viel lerne. Fühle mich ganz beglückt, daß meine Notizen eine Öffnung dafür sein konnten! Darauf werde ich aufbauen können. Und bin auf Deinen angekündigten Beitrag gespannt.
Wenn mein Text nicht in der chronologischen Beitragsliste stand, dann doch bis gestern auf der online-Aufschlagseite in der Mitte unter der Rubrik „Kultur“. Ursprünglich hatte es ein Printtext im kleinen Format unserer S. 14 unten sein sollen, wo ich sonst manchmal CDs rezensiere. Das mußte aus aktuellen Gründen gecancelt werden, aber dafür hatte ich nun so viel Schreibraum wie ich wollte und freue mich im Nachhinein darüber.
Michael Jäger 17.06.2016 | 21:25
w.endemann 18.06.2016 | 13:48
Zum Glück, geht es ja hier noch ein bisschen weiter. >>Cage wollte ja in der Musik „das Geräusch emanzipieren“, so wie vor ihm Arnold Schönberg „die Dissonanz emanzipiert“ hatte.<< - Das Webmedium reizt doch dazu, es auch ein wenig hörbar zu machen.
Was ist also einem John Cage diesbezüglich zuzutrauen? Allgemein, machen sich viele Feuilletons und Medien, aber eben auch Hörer eher darüber lustig, dass da einer 4 Minuten 33 Sekunden keinen Ton, durchaus aber Geräusche produzierte.
Im Englischen, das nur nebenbei, sind Gräusche Sounds und wann Sounds Noise werden, das ist eher sehr offen.
Da ist "Bird Cage" (1972), gespielt mit den Vorläufern der heutigen Soundsampler, den Mehrspur- Tonbandgeräten. Wer sich einlässt hat nicht nur das Gefühl, in einen Urwald einzudringen, sondern erlebt auch meditative Momente. Manches Mal dringen elektronische Elemente durch, die von Rückkopplungen stammen. Dann wieder sind Seufzer zu hören, Stimmen, die wie Affenschreie oder Ausrufe von Zen- Mönchen klingen, durchgehend die Vogelstimmen. - Zuerst ist alles wirr und mit der Hörzeit stellt sich ein seltsames Trance- Gefühl ein.
Noch während des II. Weltkrieges, 1944, entstand "A book of music". Ein äußerst minimalisiertes Konzept für das "präparierte Klavier". Zunächst scheint es so, als sei mit der Manipulation jede Klangfarbe des Instruments verbannt, die einzelnen Anschlagtöne sind durch die eingefügen Teile gedämpft, verzerrt, abgedunkelt und dumpf. Es entsteht eine mechanistische und fast zeitlupenartige Rhythmik. Später wird es dann richtig kompliziert und, wie häufig bei Cage, gar nicht einfach zu reproduzieren. Nebenbei: Cage versteht es, die perkussiven Möglichkeiten des Flügels zu steigern. Zeitweise klingen die präparierten Sounds wie Marimba- oder Xylofon- Töne, manches Mal wie Gamelan- Schlaginstrumente. Später werden einmal die ersten Synthesizer und Soundcomputer solche Töne erzeugen.
Noch ein Jahr früher, 1943, hat er die "Amores" komponiert, die auch noch Jazz -Elemente aufnahmen und ebenso ganz auf der perkussiven Ebene aufbauen.
Nach langen Jahren der Komposition, wirken hingegen die "Harmonies" von 1985, wie ein musikalisches Notizbuch. Renaissance- und Barockanklänge, Bach, neben irischen Fiedlern, die zu einer Liedbegleitung ansetzen wollen, Assoziationen an Sonaten der Klassik, Jazz und Blues, die auch noch verstärkt werden durch das Fender Rhodes E- piano, mit seinem unverwechselbaren Sound, Choräle, Fanfaren, Ghospel, Predigten aller Arten klingen an. Alles stoppt immer wieder ab, beginnt von neuem. Ich fand das besonders anrührend: "Wohin geht der Weg?" - In allem liegt eine tiefe Friedlichkeit, so, als blättere man bei Cage auf der Couch durch sein musikalisches Jahrhundert. Dabei ist das Haus der insgesamt 44 Harmonies die Basis seines Beitrags zu 200 Jahren Amerika, 1776- 1976. Orchestral und mit Stimmen aufgeführt, klingt es dann so: APARTMENT HOUSE 1776.
Beste Grüße
Christoph Leusch
Auch ich habe Etliches von Cage gehört, das mir gefallen hat. Das präparierte Klavier gehört nicht dazu – ich hab’s im Konzertsaal gehört und fand es nach einiger Zeit langweilig -, aber anderes. Wie auch immer, ich leugne meine Skepsis nicht; Cage ist sozusagen nicht mein Ding. Habe mich aber andererseits sehr bemüht, ihn positiv zu verstehen, und mich ihm so weit genähert, wie es mein Horizont hergab. Er wurde ja mit der MaerzMusik 2012 ausführlich gewürdigt und ich habe das begleitet, gehört, gelesen und nachgedacht (wenn man im Inhaltsverzeichnis bis MaerzMusik 2012 herunterrollt, findet man die sieben Einträge).
Ad John Cage.
Schönberg hat, wenn ich mich recht erinnere, einmal sinngemäß über Cage gesagt, er wäre sein wichtigster Schüler gewesen, ein Musikerfinder, aber ein Komponist wäre er nicht (oder er hätte noch kein Stück Musik geschrieben; vielleicht kennt jemand die genaue Formulierung). Das trifft es haargenau. Es ist völlig korrekt, zu sagen, Cages Musik gefällt mir nicht. Diese Musik will nicht unmittelbar gefallen, sondern will hörbar machen, Ohren und Verstand öffnen. Das ist philosophisch und fernöstlich auf Musik geblickt. Es kann nicht verwundern, daß das bei Adorno auf Sympathie stieß. Die Wahrheit des Nichtidentischen, die strukturalistische Kritik der Identität des Subjekts, das Sprechen-lassen statt Machen, sie speisen sich aus dem gleichen Gedanken.
Cage kann als der radikalste Anarchist der Musik gesehen werden, mit den Ahnherren Eric Satie und dem sehr amerikanischen Charles Ives, der auch schon eine marching band durch seine Musik laufen ließ. Cage ist der Anti-Komponist, der Komponist nicht der Stille, aber des unbeabsichtigt Klingenden, des sich unvorhersehbar Ereignenden. Er ist mehr Denker und Künstler als Musiker. Er dekonstruiert das Zwanghafte des bürgerlichen Künstlers und widerspricht damit extrem der bisherigen Auffassung von Musikkunst, der Tradition, in der Bach, Beethoven, Schönberg und noch die Serialisten stehen. Er paßt besser in die Tradition der bildenden Künste, in denen die Konzeptkunst, das Happening geläufig ist.
Selbstverständlich gibt es auch in der neuen Musik Parallelen. Der anarchistische Mauricio Kagel, als besonders eingängige und überzeugende Beispiele seien die fulminante Hommage Ludwig van und Blue's Blue genannt, der skrupulösere Dieter Schnebel, mit seinen intensiven Schubert- und Klassikbearbeitungen, und Stockhausen (quasi una fantasia) dekonstruieren auch, allerdings statuieren sie kein Neues, sondern restituieren eher mit ihrer Reminiszenz an vergangene Schönheit. Die anarchistische Distanz zur europäischen Tradition ist vielleicht nur einem US-Amerikaner möglich, in einem Land, das kaum eine eigene bzw nur eine ganz junge Tradition hat.
Das Erstaunliche ist nicht, daß Cages Musik nicht schön ist – sie entspricht nicht den Normen unserer Tradition der Schönheitsproduktion – sondern daß sie trotzdem unfaßbar schön sein kann, daß sie tatsächlich eine neue Schönheit restituieren, besser wäre zu sagen: eine Metaschönheit entstehen lassen kann. Neben den Europeras ist das Apartment House 1776 ein gutes Beispiel. Die Schönheit kommt aus der Harmonie des Disparaten, Freiheit und Gleichgültigkeit (im positiven Sinne) des vielheitlichen Einzelnen, eine wahrhaft friedliche (Columbus) Musik. Allerdings zeigt sich auch, das ist erst als Postmoderne, nicht ohne das Ante möglich. Ist das wagnerische Ende der hier eingestellten Apartment-House-Musik Zufall oder eine tiefe Verbeugung vor der europäischen Tradition, die trotz allem die stärkste Referenz für Cage geblieben ist?
Michael Jäger 19.06.2016 | 01:46
w.endemann 19.06.2016 | 16:27
Ich bin ja kein Musikologe, sondern kam nur, angeregt durch das lange und auch unermüdliche Nachdenken Michael Jägers zur modernen Musik- Wer macht das sonst, in einem so allgemein zugänglichen, öffentlichen Forum?- bezogen auf das Grundthema, wie, wann und warum aus Geräuschen Musik wird, wie Geräuschmusik entstehe, zu ein paar Hörbeispielen, die mir noch in Erinnerung waren.
Ob nun Cage, als Komponist, ein Anarchist und eher ein Antikomponist (im Sinne Schönbergs) war, das kann ich schlicht nicht theoretisch beurteilen. - Für mich sind seine Kompositionen sowohl überlegt, als auch sehr frei und er kann, was ich doch sehr anerkenne und sehr schätze, sowohl programmatische Aussagen zu seiner Welt und seiner (Zeit-)Geschichte tätigen, als auch reine Formübungen abliefern. Er schuf Werke, die Exaktheit und Unterwerfung (als Dienst an seiner Komposition) verlangen und solche, die die Interpreten und das Publikum zu Mitkomponisten werden lassen. Was will man von einem Komponisten mehr erwarten?
Viele Stücke der minimalistischen Musik sind ja äußert schwer zu spielen. Ganz anders, als dies oft geglaubt wird. Schon kleine Tempoabweichungen oder Auslassungen sind hörbar. Bei Cages Perkussionskompositionen, müssen sich die miteinander spielenden Musiker wirklich gut verstehen, um nicht alles durcheinander zu bringen.
In diesem Sinne hat Cage viel mit Charles Mingus gemein, dessen Vorstellungen zur Aufführungspraxis seiner Werke oftmals unter den Musikern, mit denen er zusammenarbeitete, die er also auch ungemein schätzte, Spannungen auslöste. Die gleichen Spannungen, die sich auch mit dem Publikum ergeben konnten.
Ich kann nicht viel Cage hören, weil mir zu oft die eigene Spannung und Konzentration dazu fehlt und zu oft auch die emotionale Stimmung. Alles das ist ja wichtig, damit der "Kontakt", den ich eher spirituell empfinde (Bitte jetzt nicht diskutieren, was das für Linke bedeuten könnte (;-))), überhaupt gelingt.
Mit dem Verstand und einigem Wissen, kann ich mir zwar Zeitumstände, Motive und Bezüge, die bei Cage wikrklich allumfassend sind, klarmachen. Das ersetzt aber nicht diese eher stillschweigende und emotionale Übereinkunft, das Einverständnis des hörenden Ichs.
Was ich aber mit den Hörbeispielen schon andeuten möchte, dass es keine Hexerei sein muss, dass kein Zwang nötig ist, keine selbstgewählte Zumutung erforderlich, sich auf Cages Musik einzulassen, die zudem manches Mal regelrecht witzig (performativ und gedanklich) sein kann.
Daher zum Ende, von meiner Seite noch ein Perkussions- Beispiel: John Cage - Le Percussioni infinite, gespielt von Perkussionisten des römischen Musikinstituts Accademia Nazionale di Santa Cecilia.
Beste Grüße
Christoph Leusch
Mich treibt, offen gestanden, seit geraumer Zeit vielmehr die Frage um: Wann wird ein Geräusch als auditiver Reiz so interessant, dass es, ohne Musik zu sein, ansprechend genug ist, um es zu goutieren?
Dazu eins meiner allerliebsten Beispiele:
http://www.aslsp.org/de/das-projekt.html
Ein Blog dazu
Also für mich ist das Musik.
Die Neuzeit ist gekennzeichnet durch das Überwinden der Schranken unserer menschlichen Mesoperspektive (Relativitätstheorie, Quantentheorie). In der Kunst ist es die Entdeckung von Langsamkeit (Robert Wilson) und Schnelligkeit (Werner Nekes – Einzelbild und beschleunigte Wahrnehmung) jenseits unseres Normalmaßes, im engen Zusammenhang mit den technischen Möglichkeiten (Zeitlupe, Zeitraffer). Schon bei Hindemith haben wir die Anweisung: so schnell wie möglich. Klarenz Barlow, vorher schon Conlon Nancarrow, verwenden Computer und Maschinenmechanik, um schneller zu sein. Die Extremmaße entsprechen der Dimensioniertheit in Makro und Mikro.
Das ist das Hörbarmachen (und hier nicht unwichtig auch das Sichtbarmachen) von akustischen Mikroereignissen, und, da organisiert, nach meiner Definition (im ersten Kommentar) Geräuschmusik. Ein wichtiges Detail bleibt unsichtbar, der Tonabnehmer am rückseitigen Boden des Holzstücks. Der Tonabnehmer spielt in der neuen Musik eine zentrale Rolle (wie das Mischpult). Berühmt geworden ist die paper music von Josef Anton Riedl (1968). Wie interessant solche Musik ist, muß dem Zuhörer überlassen bleiben, hängt von dessen Assoziationsbereitschaft ab. Die Sensibilisierung für ein genaueres Hören ist allemal verdienstvoll, allerdings klingt diese Musik im Unterschied zu unserer klassischen kaum nach. Bei Cages water music kann ich mir schon, solange sie sich ereignet, meine Gedanken machen, aber sie ergreift mich nicht (und das kann ich mir auch bei anderen nicht vorstellen), wirkt nach kurzer Zeit etwas albern, wie viele Happeningkunst. Das Problem dieser Art Kunst ist, daß sie ihren Sprachcharakter (die Semantik) verloren hat, formal geworden ist. Der weise Schönberg hat sich einmal lustig gemacht über die Kollegen, die glauben, Musik zu machen, wenn sie die Methode der Dodekaphonie anwenden können.
Hallo Calvani, wie schön, von Dir mal wieder was zu hören.
Ich würde wie Maga sagen, "für mich ist das Musik". Das ist doch eine Art Schlagzeugsolo. Ein sehr komplexes zudem. Die Entwicklung der Schlagzeuge hat in den letzten Jahrzehnten einen ungeheuren Aufschwung genommen. Es gibt viele Kompositionen für (Kammer-) Orchester, die zur Hälfte aus Schlagzeugen bestehen. Und das kommt daher, daß man nach immer neun Klängen gesucht hat.
Wenn ich auch eine Komposition anführen darf, die mir gefällt:
https://www.youtube.com/watch?v=U2cubmnH6MQ
Ihren Blog hatte ich damals nicht gelesen. Und habe selbst auch erst später angefangen, hier über Musik zu schreiben. Meine kleine Reihe über Cage ist wie gesagt von 2012. Dieses Orgelstück kommt darin auch vor, genauso wie das von Columbus angeführte 4''33'', und beide gehören zu dem, was mich sehr beeindruckt.
Warum nicht als Musik akzeptieren, zumindest, mit dem heiligen Joachim- Ernst Behrendt, die Welt als Klang wahrnehmen, Calvani?
Da das eine sehr sinnliche und zugleich friedliche Einstellung ist, ergäbe sich ein unkalkulierter Nebengewinn. Nebenbei: Cage regte auch scharenweise Choreographen an, sich tänzerisch auszudrücken und damit wieder Bewegungsgeräusche zu erzeugen, die musikalisch sind.
Die Heilige Hildegard hörte gar visionäre, himmlische Musik. Schon lange hörten Menschen auf Äolsharfen, Wellenschlag und Klapperstein.
Nur weiter und hoffentlich öfter
Christoph Leusch