Das Auftreten der Linkspartei führt dazu, dass man im Wahlkampf Dinge über den Parlamentarismus lernen kann, die nicht in den Lehrbüchern stehen. Da liest man in der Regel, ein demokratisches Parlament bestehe aus einem Regierungslager und einer Opposition, und diese Dualität löse viele Probleme auf einen Schlag. Erstens zwinge sie die Beteiligten zur Ausarbeitung einfacher Entscheidungsalternativen. Zweitens sorge sie für Aggressionsabfuhr, denn wer mit der Entscheidung, die schließlich gefällt wird, nicht zufrieden sei, könne seinen Protest demokratisch artikulieren. Drittens sei dann nur die herrschende Partei, aber nicht der Staat von der Aggression bedroht. Denn die Bürger, heißt es in einem klassisch gewordenen Aufsatz der sechziger Jahre (von Seymour Lipset und Stein Rokkan), "werden ermutigt, zwischen ihrer Loyalität zum gesamten politischen System und ihrer Haltung zu den Richtungen der konkurrierenden Politiker zu unterscheiden". Viertens falle es diesem System nicht schwer, sich neuen Herausforderungen anpassen, weil die Opposition, immer auf dem Sprung zur Macht, interessiert sei, sie zu benennen und sich als neuen Herkules zu profilieren. Fünftens sei bei allem Wirbel und Wandel stets für eine stabile Mehrheit gesorgt.
Das klingt alles so logisch - aber wie kommt es dann, dass manchmal zwei Oppositionen auftreten, die einander die Oppositionsrolle streitig machen? Wenn einerseits die Union und die FDP, andrerseits die Linkspartei opponieren, ist es mit der "einfachen Entscheidungsalternative" schon vorbei. Wer bürgt dann noch dafür, dass es stabile Mehrheiten, ja überhaupt "Regierung und Opposition" gibt? Das Parlament kann jetzt in drei Minderheiten zerfallen, von denen keine bereit ist, die Regierung einer anderen Minderheit zuzulassen oder sich auch nur mit ihr zu verbünden. Dies zeigt den normativen Charakter der referierten Theorie: Das Parlament soll nicht mehr als zwei Lager haben, sonst kommen die genannten Vorzüge nicht zur Geltung. Dabei haben wir einen besonders wichtigen Vorzug noch gar nicht genannt. Das Interesse der Bourgeoisie, schrieb einst Antonio Gramsci, der Mitbegründer der Italienischen Kommunistischen Partei, sei "ein bestimmtes Gleichgewicht", das von ihr bewahrt werde, "indem sie mit ihren Mitteln abwechselnd diese oder jene Partei auf dem jeweiligen politischen Schachbrett" unterstütze. Systemkritische Parteien seien von der Unterstützung freilich ausgenommen. Deshalb darf es sie möglichst gar nicht geben.
Zur Zeit wird der normative Charakter der Zwei-Lager-Theorie wieder einmal sehr deutlich. Vor Jahren, als aus der SED die PDS hervorging, schien deren Ausgrenzung im Streit "der beiden" parlamentarischen Lager vielen Bürgern plausibel. Man durfte die PDS nicht zur beglaubigten Opposition rechnen: Andernfalls, so sagte man, würde die SED wieder hoffähig. Aber dieses Argument ist heute schon deshalb verbraucht, weil die SPD inzwischen auf Landesebene mit der PDS zusammenarbeitet. Trotzdem kehren die großen Lager zur Ausgrenzung zurück und dehnen sie noch auf Oskar Lafontaine aus. Was hat dieser Mann denn verbrochen, dass man ihn wie einen Verbrecher behandelt? War er nicht vor wenigen Jahren SPD-Vorsitzender und Bundesfinanzminister? Hat er seitdem seine Ansichten geändert? Warum ist er ein "Hassprediger", wenn er sie jetzt wiederholt? Man höre sich nur an, was die Fernsehsendung Panorama aus ihm macht: Kohl und Brandt haben bei der Wiedervereinigung geweint, er nicht; und weil er Physiker ist, neigt er in der Politik, wo es nicht mathematisch zugeht, zum Realitätsverlust! Ein Forum, solchen Unsinn über Angela Merkel zu verzapfen, bietet das Fernsehen niemandem.
Jedes "Argument" ist gut genug zur Ausbootung der Kraft, die der trauten Zweisamkeit von "Regierung und Opposition" in die Quere kommt. Vielleicht wird man ja einfach die Wahlteilnahme der Linkspartei verbieten. Zwei ehemalige Bundesverfassungsrichter haben dies jetzt gefordert. Wenn es dazu nicht kommt, tut man jedenfalls so, als sei die Linkspartei gar nicht vorhanden. Die Wahlkampfführung der SPD ist darauf abgestimmt. "Wir stehen für... Aber was wollen die anderen?", lautet der Refrain ihrer Plakate. Das ist schon deshalb seltsam, weil die SPD doch eben für das steht, was die Union will. Sie zögert eine Weile und führt es dann aus. Die letzten Jahre haben es immer wieder gezeigt. Aber die Rede von "den anderen" behauptet nicht nur, dass Union und FDP ganz "anders" seien als die SPD - sie suggeriert auch, dass es "die einen" und "die anderen" gibt und sonst nichts. Keine Linkspartei!
Das undemokratische Gehabe kann der SPD durchaus nützen. In den letzten Umfragen verlor die Linkspartei leicht. Sie muss sich daher ausdrücklich wehren - nicht nur gegen Hartz IV, sondern auch gegen dieses Gehabe. Aber wie? Es ist jedenfalls immer gut, wenn Angegriffene Dinge, die unterschwellig lanciert werden, ausdrücklich benennen.
Die Linkspartei weiß, sie erlebt nichts Neues. Das ist alles schon da gewesen. So waren die Nachkriegsregierungen Italiens und Frankreichs deshalb wenig stabil, weil es starke kommunistische Parteien in den Parlamenten gab. Diese wurden teilweise ausgegrenzt. Die beiden anderen Lager waren aber jeweils auch nur parlamentarische Minderheiten. Sie mussten versuchen, miteinander zu regieren, doch waren sie zu verschieden, als dass ihre Bündnisse sehr haltbar sein konnten. Wie sich die Ausgegrenzten am besten verhalten, konnte man vor allem von der italienischen KP lernen. Wer Ausgrenzung mit Wut beantwortet, geht in die Falle. Es ist zwar gar nicht leicht, die Falle zu vermeiden, da eine dritte Kraft ja gerade deshalb existiert, weil die Umstände wütend machen. Aber es muss eben gelingen, die Wut auf die Umstände zu konzentrieren. Dagegen darf die Ausgrenzung der Wütenden nicht selbst wieder mit Wut beantwortet werden.
Denn dann heißt es, das sind "Hassprediger", und die Leute fangen an, den Streitgegenstand zu vergessen. In unserem jetzigen Wahlkampf wurde der Ausdruck "Hassprediger" schon vorbeugend gebraucht, wohl in der Hoffnung, dass so benannte Politiker dem Namen dann auch gerecht werden. Aber zum Glück sieht es nicht danach aus. Die dritte Kraft muss sich durch überlegene Ruhe und Sachlichkeit auszeichnen. Wenn sie weinen würde, wäre auch nichts gewonnen. Sie ist anders, aber sie kommuniziert, sie bricht das Gespräch nicht ab: So soll man sie wahrnehmen. Damit die Bürger in diesem Wahlkampf etwas lernen.
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