Wo geht es eigentlich noch um die Bürger?

Vorschau 2007 Eine Mehrheit findet es "unheimlich", dass selbst florierende Unternehmen keine sicheren Arbeitsplätze anbieten

Das neue Jahr beginnt, so scheint es, mit den rosigsten Wachstumsaussichten. "Deutscher Maschinenbau sprüht vor Optimismus", "Lage im verarbeitenden Gewerbe so gut wie seit der deutschen Einheit nicht mehr", "Wieder auf dem Weg zum Exportweltmeister" sind einige Schlagzeilen der letzten Wochen. Die Kommunen rechnen daher "mit Rekordeinnahmen" aus der Gewerbesteuer, die schon 2006 fünf Milliarden Euro mehr eingebracht hat. Sollte das nicht die Lebensqualität der Bürger verbessern? Tatsächlich sagt der Städtetagspräsident, Münchens Oberbürgermeister Ude (SPD), ein "Teil der Städte" könne jetzt endlich Schulden abbauen oder mehr Geld investieren. Für die Bürger beginnt das Jahr aber mit Steuererhöhungen: höhere Umsatzsteuer, die auf die Warenpreise umgelegt wird, höhere Versicherungssteuer, jedes Mal drei Prozentpunkte; ein höherer Rentenbeitragssatz, Krankenhaus und Arzneimittel werden teurer, der Sparerfreibetrag ist halbiert; die steuerliche Begünstigung beim Kindergeld, beim Arbeitszimmer und durch die Pendlerpauschale wird eingeschränkt.

Die Bundesregierung sieht sich bestätigt, weil der Wirtschaftsaufschwung stark genug scheint, die Umsatzsteuererhöhung zu verkraften. Aber wem kommt er zugute? Das dürfte 2007 eine Kernfrage werden. Gibt es höhere Löhne? Darauf wird sich im Frühjahr die meiste Aufmerksamkeit konzentrieren. Sie ist dorthin aktiv gelenkt worden, nämlich von den SPD-Führern Beck und Müntefering. Dass beide die Gewerkschaften zu kräftigen Lohnforderungen ermunterten, war "scheinheilig", wie IG Metall-Vize Berthold Huber feststellt. Sie haben es nötig, da sie, man denke nur an die Rente mit 67, Arbeitnehmerinteressen sonst nicht gerade in den Vordergrund stellen. Ein Risiko gehen sie nicht ein, da es zur Lohnerhöhung natürlich auf jeden Fall kommen wird - selbst der Arbeitgeberverband bestreitet das nicht -, während sie sich bei einem Streit, wie hoch die Erhöhung ausfallen soll, dann wieder mäßigend einmischen können. Bundesfinanzminister Steinbrück (SPD) mahnt bereits zweideutig, Löhne seien "eben beides: Kosten und Kaufkraft".

Die IG Metall und Verdi haben ihre Strategien für die bevorstehenden Tarifauseinandersetzungen noch nicht festgelegt. Besonders wie sich erstere verhält, könnte spannend werden, denn dort wirft auch der Führungswechsel auf dem Gewerkschaftstag im Herbst seinen Schatten voraus. Wenn Jürgen Peters, wie angekündigt, den Stab an Huber abgibt, wer wird dann neuer Zweiter Vorsitzender? Das kann mit davon abhängen, wer sich in welchem Tarifgebiet kämpferisch und klug profiliert. Wird es wieder, wie bei Peters´ seinerzeit schwer erkämpfter Wahl, zum Versuch des Arbeitgeberverbands kommen, in die Nachfolgefrage durch unversöhnliche Tarifkampfführung einzugreifen? Es ist aber wahrscheinlicher, dass er kompromissbereit agiert, um den Aufschwung nicht zu gefährden.

Der Versuch von Beck und Müntefering, sich als "Arbeiterführer" aufzuspielen, hat aber noch eine ganz andere Schlagseite. Soll denn ein Wirtschaftsaufschwung zu weiter nichts als höheren Löhnen führen? Davon haben die Erwerbslosen gar nichts. Was man vor allem erwartet, sind mehr Arbeitsplätze. Dass die Menschen, die sich "Arbeitgeber" nennen, sie nicht einräumen, weder im Aufschwung noch infolge der Steuersenkungen, die ihnen geschenkt werden, das ist seit Jahren der Skandal - ein Skandal, der um so größer wird, je grandioser der Aufschwung ist. Davon würde die SPD-Führung natürlich gern ablenken. Ist doch eben erst berichtet worden, dass durch die Hartz-Reformen des SPD-Kanzlers Schröder die Arbeitssuche noch erschwert wurde! Meldungen, wonach der Aufschwung 2007 mehr Arbeitsplätze bringe, werden jetzt zwar gern kolportiert. Doch man muss genau hinschauen. Der Maschinenbau zum Beispiel hatte schon 2006 etwa 15.000 Menschen mehr beschäftigt als im Vorjahr. 2007 soll die Beschäftigung noch einmal um 10.000 Menschen steigen. Die Industrieunternehmen insgesamt rechnen mit 30.000 neuen Arbeitsplätzen. Bei sechs Millionen Beschäftigten entspricht das einer Zunahme um 0,5 Prozent - nicht viel, aber immerhin. Der Blick auf die Gesamtwirtschaft zeigt jedoch, dass sich gar nichts ändern wird. Nur in neun Branchen wird ein Anstieg der Beschäftigtenzahl für wahrscheinlich gehalten. Elf Branchen, darunter Bergbau, Chemie, Autoindustrie, Textilwirtschaft, Mode und Versicherungen, rechnen mit Personalabbau. Weitere 25 Branchen gehen von unveränderter Mitarbeiterzahl aus.


Diese Verhältnisse werden zunehmend zum Politikum, denn die Bevölkerung hat es gemerkt. Kürzlich vom Allensbacher Institut befragt, "was sie beunruhigt, was ihnen richtig unheimlich ist", antworteten 58 Prozent, "dass immer mehr Sozialleistungen gekürzt werden", viel mehr aber noch - 72 Prozent, der Spitzenreiter -, "dass selbst bei Unternehmen, denen es gut geht, die Arbeitsplätze nicht mehr sicher sind". Mit solchem Bewusstsein steht die Glaubwürdigkeit der Wirtschaftsordnung, die wir haben, auf dem Spiel und auf der Kippe. Es wird sicher nicht schon 2007 zu einem dramatischen Zusammenbruch ihrer Legitimation kommen. Aber im Juni dieses Jahres gründet sich die neue linke Partei. Dieses Ereignis, eigentlich viel zu lange hinausgezögert, scheint nun doch einen wichtigen Zeitpunkt zu erhaschen. Ein ganz anderer Aufschwung als der, der den Menschen nicht hilft, könnte hier beginnen. Dabei würde es helfen, wenn vorher im Mai die WASG einen Achtungserfolg bei der Bremer Landtagswahl erreichte.

Die innenpolitische Agenda, an der sich die neue Partei bewähren kann, ist groß. Noch vor Ostern soll die Rente mit 67 Gesetz werden. Ob die Gesundheitsreform vom 1. April an gilt, ist wieder fraglich geworden. Die geplante Unternehmenssteuerreform soll 2008 in Kraft treten können. Für Hartz IV sind "Nachjustierungen" vorgesehen. Der Mindestlohn wird ein Streitthema der Koalitionäre bleiben. Einig sind sie, einen dritten Arbeitsmarkt für 100.000 Langzeitarbeitslose zu schaffen. In der Umweltpolitik stehen wichtige Klärungen an: 2007 soll das Erneuerbare-Energien-Gesetz novelliert und die Reihe der Energiegipfel zum Abschluss gebracht werden. Bundesumweltminister Gabriel (SPD) entscheidet über Anträge von Energieunternehmen, zwei alte Kernkraftwerke länger laufen zu lassen, wobei ihm Bundeswirtschaftsminister Glos (CSU) die Kompetenz abzusprechen versucht. Die Ausstattung der Unternehmen mit Emissionsrechten ist umstritten, eine Entscheidung für den Zeitraum 2008 bis 2012 muss in diesem Jahr fallen. Im Sommer soll ein Gesetz von Agrarminister Seehofer (CSU) verabschiedet werden, das den Anbau genetisch veränderter Pflanzen erleichtert.

Direkt in die Parteigründungszeit der Linken fallen passend zwei wichtige Ereignisse. Zum einen werden Bund und Länder im Sommer ihre Vorschläge für die zweite Stufe der Föderalismusreform auf den Tisch legen. Um mehr Steuerhoheit der Länder, auch um die Zusammenlegung von Ländern wird es gehen. Wenn man beides erreicht hätte, wäre dann weniger Anlass, die reicheren Länder im Bundesfinanzausgleich zur Kasse zu bitten? Das erhoffen diese jedenfalls. Auf "Wettbewerbsföderalismus" läuft es hinaus, wovon die Bürger wiederum nichts haben. Wo geht es eigentlich noch um die Bürger? Im Juni 2007 haben sie wenigstens einmal Gelegenheit, sich auf den Bildschirm zu bringen - wenn in Heiligendamm der G 8-Gipfel zusammenkommt. Das Motto des Treffens lautet "Wachstum und Verantwortung". Es ist ein deutsches und weltweites Thema. In Deutschland hat das Wachstum des Kapitals keine Arbeitsplätze zur Folge, es hat ansonsten zum Beispiel die Konsequenz, dass Afrika abgehängt worden ist. Bundeskanzlerin Merkel will dem leidenden Kontinent "einen besonderen Platz einräumen" und möchte allein deshalb schon "glauben, dass wir keinerlei Angriffsflächen für heftige Proteste gegen den Gipfel bieten werden". In Wahrheit ist sie schon dabei, sich gegen die Proteste zu verteidigen. Die Regierung pflegt das Gespräch mit Nichtregierungsorganisationen, sie plant mit Vertretern derselben eine große Konferenz im Mai. Ob das ihr oder dem Protest nutzt, bleibt bis dahin offen.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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