Zum Beispiel der Krimi

Kopfstand „Abschied vom Wachstumszwang“ fordert der Grüne Reinhard Loske in seinem neuen Buch. Und was ­bedeutet das für die Kultur?

Man kennt diesen Streit unter Ökologen: Die einen behaupten, es müsse nur richtig „effizient“ produziert werden, dann könne der Lebensstil bleiben, wie er ist, und andere wenden ein, das sei Augenwischerei, nur Verzicht führe weiter. Zu denen gehört Reinhard Loske, der grüne Bremer Umweltsenator; er hat ein winziges Büchlein vorgelegt – Abschied vom Wachstumszwang (Basilisken-Presse 2010) –, das die üblichen grünen Parteiprogramme an Radikalität um ein Vielfaches übertrifft. Mit der Zusammenstellung provozierender Analysen und nützlicher Vorschläge auf 54 Seiten legt er so etwas wie ein innerparteiliches Gegenprogramm vor. Da kommt viel zusammen: dass er den Abschied vom Wachstumszwang für unvereinbar mit Aktiengesellschaften hält, dass er das Recht zur Geldschöpfung auf die Zentralbank beschränken und Ferntransporte von Schlachtvieh verbieten will; dass er Stadtwerke, hohe Spitzensteuersätze, das bedingungslose Grundeinkommen und die kostenlose Verteilung guten Essens in Ganztagsschulen fordert.

Das Programm hat aber auch eine kulturelle Dimension. Das Kulturelle wird meist übersehen. Wenn uns Verzicht gepredigt wird, pflegen sich ärgerlichste Assoziationen einzustellen. Ist das nicht, als hätten wir einen Krieg verloren? Noch schlimmer sogar: Nach Kriegsende waren Verkehrssysteme zerstört, aber man konnte sie wieder aufbauen; und jetzt soll es auf ewig weniger Autos geben? Auch viele „Restaurant-, Fitnessstudio- oder Kinobesuche, Mode, Möbel, Autos, Computerspiele oder Urlaubsreisen“ fallen womöglich weg; dann nämlich, wenn infolge von Wachstumsdrosselung oder -stilllegung mehr Leute teils vom Grundeinkommen, teils von geringerem Lohn wegen allgemeiner Arbeitszeitverkürzung leben. Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich dürfte ein strittiger Vorschlag des Bremer Senators sein. Doch dass Gewerkschaften „fast nur noch um höhere Einkommen“ kämpfen und „sich dadurch extrem mit der Idee permanenten Wachstums vermählt“ haben, ist schwer bestreitbar.

Der Weg zu sich selbst

Weil jedenfalls mehr Freizeit die Folge von Wachstumsdrosselung wäre, ist Loskes eigener Grundansatz am wichtigsten: Eine Politik, die „dem Größenwachstum und der Marktbeherrschung von Unternehmen klare Grenzen“ setzen will, kommt um einen „Kulturwandel“ nicht herum. Die „größte Hoffnung der Nachhaltigkeitsdebatte“ liege darin, dass „mehr und mehr Menschen dem Konsumismus entsagen, weil sie unter gutem Leben zunehmend etwas anderes verstehen als das Anhäufen von Waren“. Entscheidend ist die Einsicht, dass weniger Warenkonsum, aufgewogen durch freie Zeit, „mehr Zeit für Selbstsorge, Familienarbeit, Nachbarschaftshilfe oder gesellschaftliches Engagement“ bedeutet. „Es kann mehr selbst gemacht und organisiert werden, und weniger Leistungen müssen auf dem Markt zugekauft werden.“ „Mehr selbst“ zu sein, ist natürlich Gewinn, nicht Verzicht. Und damit ist die gängige Debatte auf den Kopf gestellt. Das zu begreifen wäre der Kulturwandel.

Dabei weiß Loske, dass „eine solche Transformation Menschen benötigt, die etwas mit sich anzufangen wissen und Dinge gern selbst tun, statt zu konsumieren“. So sind wir nicht ohnehin, sondern wenn wir uns gegenseitig stützen. Die gesellschaftlichen Strukturen müssten es uns erleichtern, statt es zu erschweren. Wir bräuchten daher ein Programm des Kulturwandels, „eine Vorstellung von der guten Gesellschaft“.

Mit sich etwas anzufangen, wozu immer auch die Nachbarn gehören, die Familie, die Freunde, da ist Ernst Blochs Formel nicht weit: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ Habe ich mich – das banalste Beispiel –, wenn ich den Abend vor dem Fernseher verbringe? Wenn mehrere stumm zuschauen, ist das ein „Werden“? Im 19. Jahrhundert gab es kein Fernsehen. Man las sich abends aus Büchern vor, auf Gemälden etwa von Cézanne ist es noch zu sehen. Die Handwerker haben das tagsüber in der Werkstatt getan, solange das noch möglich war. Wenn man gemeinsam liest, pflegt man hinterher oder zwischendurch darüber nachzudenken. Das ist eine Methode, zu „werden“. Stichwort Handwerker: Es war die deutsche Arbeiterbewegung, die auf die Idee kam, regelmäßig am Silvestertag Beethovens Neunte aufzuführen. Als das Bürgertum schon begann, die Utopie dieser Musik „zurückzunehmen“ (Thomas Mann), sprang sie ein und bekannte sich zu ihr. Wie lange ist das her? Für viele sind Tatort-Krimis und Ähnliches an die Stelle all dessen getreten. Der immer gleiche Vorspann der Serie zeigt das Gegenteil von Selbsthabe, von Nachdenklichkeit: eine Spirale der Flucht, die man sogar als Metapher für das ökonomische Wachstum auffassen könnte.

Auch für solche, die das Fernsehen mäßig und gezielt nutzen, gilt Loskes Beobachtung, „dass das Leitmedium Fernsehen zur Prägung der konsumorientierten Leitkultur heute einen ganz wesentlichen Beitrag leistet“. Deshalb kann die Notwendigkeit des Kulturwandels an diesem einzigen Beispiel illustriert werden. Da wird erst einmal deutlich, dass die Formel „selbst tun statt konsumieren“ zu einfach ist. Wenn jemand Goethe oder Bebel kaufte, um vorzulesen, war das ja auch Konsum. Doch kann solchen Käufern ein „werdendes“ Selbst unterstellt werden, das gezielt dazu kauft, weil es schon einen Begriff von sich hat, den es erweitert und vertieft. Es gibt ein ganz anderes Konsumieren, das im Durchwühlen immer neuer Dinge besteht; sich so zu finden – gleichsam zufällig auf sich zu stoßen –, ist dann die Hoffnung des Käufers. In welchem Urlaubsland geht es mir gut, könnte es mir noch besser gehen? Da habe ich viel zu probieren.

Auch diese Gegenüberstellung ist zu einfach, denn keiner hat sich so, dass er nicht auch probieren müsste. Sie ist aber wichtig wegen der mitspielenden gesellschaftlichen Strukturen. Von der Konsumwelt geht ein beharrlicher Druck aus, immer neue Dinge haben zu müssen, was leicht dazu führt, dass sie nicht am Selbst gemessen werden, sondern ein solches sich gar nicht ausbildet. Ich kaufe zu viel, es wird zu viel produziert, es entsteht zu viel CO2- oder Kerosin-Ausstoß. Umgekehrt setzt die Kraft, wenig zu kaufen, das gezielt wählende Selbst voraus.

Über den Tatort-Krimi hinaus kann der Krimi überhaupt Modell stehen. Es ist gut, dass es Krimis gibt, aber warum gibt es nur solche, in denen immer der Andere schuld ist? Schon allein das ist wachstumsanalog, denn wer dann nicht nur einen, sondern viele Krimis lesen will, muss beständig vom einen zum andern Anderen fortgehen, immer neue Verbrecher kennenlernen, die nichts miteinander zu tun haben, so wenig wie die Waren im Kaufhaus; während etwa die Figuren in den verschiedenen Romanen Dostojewskis Varianten voneinander sind.

Verantwortung erkennen

Eine reichere Krimikultur wäre vorstellbar. Neulich fiel mir ein kleiner Roman in die Hände, der wieder am alten Ödipus-Schema anknüpft (Erhard Mader, Mein letzter Fall, Retriever 2010): Ein Kriminalkommissar soll einen Jahrzehnte zurückliegenden Fall aufklären, die Hinrichtung eines RAF-Mitglieds durch seine Genossen; er entdeckt, dass er selbst beteiligt war, ohne es damals zu ahnen. Warum gibt es nicht eine Vielzahl solcher Romane, in denen die Schuld bei mir selbst liegt, wie ich ja auch im wirklichen Leben zu den Tätern gehöre, indem ich die Wachstumsspirale mittrage, die Umwelt also mitzerstöre? Dann ginge es darum, wie meine Identifikationsfigur im Roman – als Modell meines eigenen Selbst – sich verstrickt und sich aus der Verstrickung löst; es ginge um Selbsthabe.

Der Krimi ist nur ein Beispiel. Das Fernsehen kennt viele Wege, uns in den Wachstumszwang zu verstricken. Wenn ich mir jeden Abend in der Tagesschau ansehen muss, ob und wie der DAX gestiegen ist, werde ich da zum Ökologen erzogen? 90 Prozent der Bevölkerung besitzen keine Aktien: Ihnen wird „renditeorientierte Spekulation als das Normalste der Welt präsentiert“. Loske meint, der „aufdringliche“ Börsenbericht sei „mindestens auf das Niveau der Lottozahlen-Vermeldung“ zurückzuschrauben.

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Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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