Diese Narbe bleibt für immer

Arbeitslosigkeit Zwei EU-Spitzentreffen haben sich mit der sozialen Ausgrenzung einer ganzen Generation in Europa beschäftigt, aber schon beim Geld versagt
Ausgabe 28/2013

Es dürfe keine „verlorene Generation“ in Europa geben, meint Angela Merkel, als sie vor knapp 2 Wochen ihren inoffiziellen EU-Gipfel zur Jugendarbeitslosigkeit im Kanzleramt zelebriert. Der Sinn des Treffens ist schwer nachvollziehbar, denn fünf Tage zuvor hat sich der Europäische Rat in Brüssel mit ebendiesem Thema beschäftigt. Offenbar nicht mit der gebotenen Qualität, scheint die Berliner Veranstaltung sagen zu wollen. Aber schon die Aussage der Kanzlerin zur verlorenen Generation lässt daran zweifeln, ob Berlin mehr zu bieten hat als Brüssel. Denn zwölf Millionen junger Menschen zwischen 16 und 25 werden größtenteils für immer „verloren“ sein. Ihnen bleiben nicht nur Ausbildung, Einkommen und soziale Anerkennung vorenthalten – ihnen wird das Recht auf Zukunft bestritten. Was sie bereits an Berufsleben entbehrt haben, lässt sich kaum mehr aufholen. Die Euro-Krisenpolitik hat riesige Schneisen in die ökonomische Landschaft Europas geschlagen, doch wird der Jugendarbeitslosigkeit leider nicht genauso entschlossen begegnet wie den kollabierenden Staatsfinanzen Griechenlands, Portugals, Spaniens oder Italiens. Dies zeigen die Absichtserklärungen des EU-Gipfels vom 28. Juni nicht anders als die des Berliner Treffens.

Sechs Milliarden Euro, verteilt auf zwei Jahre, sollen helfen, eine sogenannte Jugendgarantie ins Werk zu setzen. In der Eurozone sind nach der amtlichen Statistik mehr als 5,5 Millionen Jugendliche unter 25 arbeitslos gemeldet – eine irreführende Zahl. Hunderttausende tauchen in den Eurostat-Bilanzen nicht auf, weil sie sich von unbezahltem Praktikum zu unbezahltem Praktikum, von Befristung zu Befristung, von Billigjob zu Billigjob hangeln oder es vorziehen, so lange wie möglich an Universitäten und Fachhochschulen zu bleiben.

Nicht mehr als 272 Euro

In Griechenland gehören mehr als zwei Drittel der 16- bis 25-Jährigen zu den sozial Abgehängten, in Portugal fast die Hälfte, in Spanien mehr als die Hälfte. In Regionen wie Ceuta, Andalusien, Extremadura und Melilla haben derzeit bis zu 70 Prozent aus dieser Altersgruppe weder Ausbildungsplatz noch Anstellung. Natürlich macht sich bei diesen Werten bemerkbar, dass die Jugendarbeitslosigkeit in etlichen EU-Staaten schon vor Ausbruch der Finanzkrise 2008 hoch war. Dramatisch gestiegen ist sie indes erst von 2010 bis heute: in Portugal von 27 auf 42 Prozent, in Italien ebenso, in Spanien von 41 auf 56 und in Griechenland von 30 auf 59 Prozent. Auch im Norden sieht es bedenklich aus, in Schweden etwa ist im Juni 2013 jeder Vierte unter 25 erwerbslos, in Finnland jeder Fünfte.

Bei den vom EU-Gipfel in Aussicht gestellten sechs Milliarden Euro handelt es sich wohlgemerkt um keine zusätzlichen, sondern umgeschichtete Ausgaben aus dem EU-Etat 2014–2020, von dem jeder weiß, dass er nicht reichen wird, um laufende Ausgaben zu decken. Sechs Milliarden, das sind 0,13 Prozent der 4,5 Billionen Euro, die seit 2008 in der EU für diverse Bankenrettungen bewilligt wurden oder als Garantiesummen für Euro-Stabilitätsfonds zur Verfügung standen. Für einen erwerbslosen Jugendlichen bleiben von den sechs Milliarden nicht mehr als 272 Euro pro Jahr. Nur die Götter wissen, wie die EU-Granden ihr Versprechen einlösen, jedem Jugendlichen in der Union spätestens nach vier Monaten vergeblicher Suche einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu garantieren. Die Bundesregierung versucht es mit einer noblen Geste: 5.000 junge Spanier will Deutschland aufnehmen. Fachkräfte braucht das Land. Und gleich schallt es zurück: die hierzulande Betroffenen zuerst!

Schon vor einem Jahr hatte ein EU-Gipfel sechs Milliarden gegen die Jugendarbeitslosigkeit bewilligt. Die Europäische Investitionsbank sollte mit billigen Krediten die Unternehmer EU-weit ermuntern, das zu tun, was sie angeblich ununterbrochen tun: Ausbildungsplätze und danach feste Jobs schaffen. Klappt leider nicht mitten in einer Weltdepression.

Selbstverständlich hat man in Deutschland längst erkannt: Die Mindestlöhne in den Krisenstaaten sind schuld an der Misere, stattdessen müsse es „Arbeitsmarktreformen“ geben. Im Klartext: noch mehr staatlich subventionierte Billigjobs ohne Perspektive, noch mehr Praktika. Sinnvoller wäre eine gründliche Reform des Berufsausbildungssystems in ganz Europa, durchaus nach deutschem Vorbild, wie einige der helleren Köpfe des Politikbetriebs vorschlagen. Nur sollte man auch den Mut haben, in Deutschland, wo jedes Jahr Zehntausende von Ausbildungsplätzen fehlen, das vielgerühmte duale System gleichfalls zu reformieren. So beschädigt wie das mittlerweile dank etlicher Arbeitsmarktreformen ist, taugt es kaum zum Exportartikel.

Familienkommunismus

Aber das braucht Zeit, kein Ausbildungssystem lässt sich in ein paar Monaten aus dem Boden stampfen, keine Berufsausbildung im Schnellverfahren durchziehen. Zudem sind viele der jugendlichen Arbeitslosen bereits hoch qualifiziert, weil sie Ausbildung an Ausbildung, Umschulung an Umschulung reihen. Sie brauchen keine weiteren Warteschleifen, bis die von der Troika angerichtete Dauerkrise vielleicht vorüber ist. Im Moment wächst in ganz Südeuropa das Heer der Arbeitslosen unter 35 und mit Universitätsdiplom besonders rasant. Sie überleben in Spanien, Portugal oder Griechenland dank eines funktionierenden Familienkommunismus. Die Großfamilie hält zusammen, man geht zu den Eltern, wohnt bei Verwandten, zieht notfalls aufs Land und arbeitet nur noch für den Eigenbedarf. Auch dann, wenn es gelegentlich einen Job gibt. Viele emigrieren, das hat Tradition, auch in Deutschland, und gehört dort zur verdrängten Geschichte.

Niemals gab es in Europa eine Generation, die so flexibel, so mobil, so lernwillig, so polyglott und gut ausgebildet war. Wer hineinkommt, passt sich dem „flexiblen Arbeitsmarkt“ an. Doch lässt sich ein Leben kaum auf Patchwork-Karrieren aus Praktika und Billigjobs gründen. Die große Mehrheit dieser Jungen hat nur einen Wunsch: Sie will eine halbwegs berechenbare Perspektive, das zeigen alle Umfragen seit den achtziger Jahren. Doch das war einmal. Da unsere Eliten beschlossen haben, aus der sozialen und ökonomischen Sicherheit, die sie selbst im Übermaß genießen, wieder ein Klassenprivileg zu machen, gilt der Abbau einer angeblich „privilegierten Vollzeiterwerbstätigkeit“ in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis als Allheilmittel. Einen „New Deal“ für Europa haben die Regierungen in Paris und Berlin jüngst mit viel Tamtam verkündet. Bislang liegt nichts Greifbares auf dem Tisch.

Michael Krätke schrieb zuletzt über die in Karlsruhe erhobene Verfassungsklage gegen die EZB-Anleihekäufe

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