Gegen die Wand

Brexit Da der Ausstiegsdeal gescheitert ist, wird aus Großbritannien mehr denn je ein Land der schier unbegrenzten Möglichkeiten
Ausgabe 03/2019
Wer auf der Insel hat den Mut, den Menschen zu sagen, worin die einzig konstruktive Lösung in dieser verfahrenen Lage besteht?
Wer auf der Insel hat den Mut, den Menschen zu sagen, worin die einzig konstruktive Lösung in dieser verfahrenen Lage besteht?

Foto: jack Taylor/Getty Images

Theresa May hat wie erwartet die Abstimmung im Unterhaus über ihren Austrittsvertrag mit der EU verloren. Und das haushoch, da zwei Drittel der Abgeordneten gegen ihren Deal stimmten, davon 118 Konservative. Es war eine große Negativkoalition über Parteigrenzen hinweg, an der die Premierministerin gescheitert ist. Allerdings gibt es eine ähnlich große Mehrheit gegen einen No-Deal-Ausstieg. Die Frage lautet, wie soll der verhindert werden, wenn das Unterhaus die britische Regierung de facto entmachtet hat? Dass Jeremy Corbyn sofort nach der Abstimmung einen Misstrauensantrag gegen das Kabinett May eingereicht hat, war absehbar. Auch dass er sich auf den Beistand der Liberaldemokraten stützen konnte, aber Neuwahlen erzwingen, das kann Labour nicht, solange die Phalanx der Konservativen hält.

Labour nichts schenken

Die Debatte am 15. Januar war heftig, es ging nach Mays Worten um die wichtigste Entscheidung, die jeder der anwesenden Parlamentarier je in seinem politischen Leben zu treffen hatte. Am schlagkräftigsten wirkte die Regierungschefin noch, als sie Jeremy Corbyn frontal anging, der sich aus ihrer Sicht nicht der Verantwortung gegenüber dem Land stellen wolle. Das brachte ihr donnernden Applaus ein. Mehr als ein Indiz dafür, dass die Konservativen Labour absolut nichts schenken wollen. In dieser Lage erst recht nicht.

Wenn ab sofort außer Zweifel steht, dass auf der Insel keine Mehrheit für den mit Brüssel ausgehandelten Vertrag zu haben ist, sollte ebenso Klarheit darüber herrschen, dass die EU nicht nachverhandeln will und kann. Auch beim sogenannten „backstop“ sind keine Konzessionen zu erwarten. Gemeint ist die Zusicherung im vorliegenden Vertrag, dass die innerirische Grenze durchlässig bleibt und deren endgültiger Status erst in einem Handelsvertrag zwischen London und Brüssel geklärt wird. Bis dahin verbleibt Großbritannien mit der EU in einer Zollunion – besonders daran haben sich Unmut und Zorn im Unterhaus entzündet. Doch können die EU-Unterhändler hierbei um keinen Deut nachgeben. Alles andere liefe darauf hinaus, die Republik Irland im Stich zu lassen, würde eine „harte“ Grenze zwischen dem Norden und Süden hingenommen. Bisher hat Dublin das Karfreitagsabkommen von 1998 mit voller Rückendeckung Kontinentaleuropas verteidigt. Für die Briten heißt das, ihre Verpflichtungen respektieren zu müssen, die sie einst mit diesem völkerrechtlich gültigen Vertrag eingegangen sind. Mit anderen Worten, ein Brexit-Deal steht nicht über dem Karfreitagsabkommen, das von den Brexiteers proklamierte Recht auf Selbstbestimmung muss sich dem Recht auf Frieden in Nordirland unterordnen. Darauf darf keinen Einfluss haben, dass es vor dem Parlament in London zu irrwitzigen Verbrüderungen von Brexit-Gegnern und -Anhängern kam, denen die mit dem Karfreitagsvertrag zugestandenen „Bindungen“ zwischen Dublin und Belfast suspekt sind.

May sollte es besser wissen

Keine Frage, eine große Mehrheit der Briten will den großen Crash vermeiden. Besonders hoch steht ein No-Deal-Exit nicht im Kurs. Deshalb suggeriert May, sie wolle in Brüssel „ihren“ Vertrag nachverhandeln. Sie sollte es besser wissen, allein eine Fristverlängerung für den Ausstieg wäre denkbar. Immerhin würden auch die kontinentaleuropäischen Volkswirtschaften von einem Brexit ohne Reglement in Mitleidenschaft gezogen. Schadensbegrenzung ist alles, was die EU in den kommenden Wochen betreiben kann. Eilig gezimmerte Sonderabkommen mit dem Vereinigten Königreich – beispielsweise um einen gestörten Flugverkehr zu verhindern – gehören dazu.

Eine Verlängerung der Austrittsfrist um einige Monate wird es freilich nur geben, wenn in absehbarer Zeit Neuwahlen anstehen und damit möglicherweise eine andere Regierung in Sicht ist. Sollte Labour unter Jeremy Corbyns Führung ein solches Votum gewinnen, was keineswegs sicher ist, dann erben die Sozialdemokraten den durch die Tories angerichteten Schlamassel. Die Labour-Führung scheint das nicht zu beunruhigen. Sie ist offenbar von der Überzeugung beseelt, dass die EU einer Labour-Regierung einen anderen Vertrag anbietet als Theresa May. Immerhin hat Corbyn des Öfteren erklärt, auf Dauer in der Zollunion, ja sogar im Binnenmarkt bleiben zu wollen. Eine Lösung „Norwegen plus“ – privilegierte Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), nicht in der EU – hätte für Brüssel den Vorteil, dass Britannien als Markt und Beitragszahler erhalten bliebe, man die Briten aber als ewige Bremser und Neinsager los wäre.

EU-Ratspräsident Donald Tusk stellt die richtige Frage: Wer auf der Insel hat den Mut, den Menschen zu sagen, worin die einzig konstruktive Lösung in dieser verfahrenen Lage besteht? Sie sollten den Abschied von der EU absagen. Was daran gebunden wäre, dass Unterhaus und Regierung den rechtlichen Rahmen für eine erneute Volksbefragung schaffen. Aber solchen Heldenmut, sich gegen die weit verbreitete EU-Skepsis zu stellen – gegen den Willen zu unbedingter Souveränität, gegen maßlose Illusionen, gegen Realitätsverweigerung, gegen den tief verwurzelten Glauben an eine Ausnahmestellung der Briten in der Welt, gegen die Träume vom „globalen Britannien“, das die Glorie des Empire wiederbeleben kann –, diese Courage hat keiner. Jeremy Corbyn nicht und die Konservativen schon gar nicht.

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