Theresa May hat wie erwartet die Abstimmung im Unterhaus über ihren Austrittsvertrag mit der EU verloren. Und das haushoch, da zwei Drittel der Abgeordneten gegen ihren Deal stimmten, davon 118 Konservative. Es war eine große Negativkoalition über Parteigrenzen hinweg, an der die Premierministerin gescheitert ist. Allerdings gibt es eine ähnlich große Mehrheit gegen einen No-Deal-Ausstieg. Die Frage lautet, wie soll der verhindert werden, wenn das Unterhaus die britische Regierung de facto entmachtet hat? Dass Jeremy Corbyn sofort nach der Abstimmung einen Misstrauensantrag gegen das Kabinett May eingereicht hat, war absehbar. Auch dass er sich auf den Beistand der Liberaldemokraten stützen konnte, aber Neuwahlen erzwingen, das kann Labour nicht, solange die Phalanx der Konservativen hält.
Labour nichts schenken
Die Debatte am 15. Januar war heftig, es ging nach Mays Worten um die wichtigste Entscheidung, die jeder der anwesenden Parlamentarier je in seinem politischen Leben zu treffen hatte. Am schlagkräftigsten wirkte die Regierungschefin noch, als sie Jeremy Corbyn frontal anging, der sich aus ihrer Sicht nicht der Verantwortung gegenüber dem Land stellen wolle. Das brachte ihr donnernden Applaus ein. Mehr als ein Indiz dafür, dass die Konservativen Labour absolut nichts schenken wollen. In dieser Lage erst recht nicht.
Wenn ab sofort außer Zweifel steht, dass auf der Insel keine Mehrheit für den mit Brüssel ausgehandelten Vertrag zu haben ist, sollte ebenso Klarheit darüber herrschen, dass die EU nicht nachverhandeln will und kann. Auch beim sogenannten „backstop“ sind keine Konzessionen zu erwarten. Gemeint ist die Zusicherung im vorliegenden Vertrag, dass die innerirische Grenze durchlässig bleibt und deren endgültiger Status erst in einem Handelsvertrag zwischen London und Brüssel geklärt wird. Bis dahin verbleibt Großbritannien mit der EU in einer Zollunion – besonders daran haben sich Unmut und Zorn im Unterhaus entzündet. Doch können die EU-Unterhändler hierbei um keinen Deut nachgeben. Alles andere liefe darauf hinaus, die Republik Irland im Stich zu lassen, würde eine „harte“ Grenze zwischen dem Norden und Süden hingenommen. Bisher hat Dublin das Karfreitagsabkommen von 1998 mit voller Rückendeckung Kontinentaleuropas verteidigt. Für die Briten heißt das, ihre Verpflichtungen respektieren zu müssen, die sie einst mit diesem völkerrechtlich gültigen Vertrag eingegangen sind. Mit anderen Worten, ein Brexit-Deal steht nicht über dem Karfreitagsabkommen, das von den Brexiteers proklamierte Recht auf Selbstbestimmung muss sich dem Recht auf Frieden in Nordirland unterordnen. Darauf darf keinen Einfluss haben, dass es vor dem Parlament in London zu irrwitzigen Verbrüderungen von Brexit-Gegnern und -Anhängern kam, denen die mit dem Karfreitagsvertrag zugestandenen „Bindungen“ zwischen Dublin und Belfast suspekt sind.
May sollte es besser wissen
Keine Frage, eine große Mehrheit der Briten will den großen Crash vermeiden. Besonders hoch steht ein No-Deal-Exit nicht im Kurs. Deshalb suggeriert May, sie wolle in Brüssel „ihren“ Vertrag nachverhandeln. Sie sollte es besser wissen, allein eine Fristverlängerung für den Ausstieg wäre denkbar. Immerhin würden auch die kontinentaleuropäischen Volkswirtschaften von einem Brexit ohne Reglement in Mitleidenschaft gezogen. Schadensbegrenzung ist alles, was die EU in den kommenden Wochen betreiben kann. Eilig gezimmerte Sonderabkommen mit dem Vereinigten Königreich – beispielsweise um einen gestörten Flugverkehr zu verhindern – gehören dazu.
Eine Verlängerung der Austrittsfrist um einige Monate wird es freilich nur geben, wenn in absehbarer Zeit Neuwahlen anstehen und damit möglicherweise eine andere Regierung in Sicht ist. Sollte Labour unter Jeremy Corbyns Führung ein solches Votum gewinnen, was keineswegs sicher ist, dann erben die Sozialdemokraten den durch die Tories angerichteten Schlamassel. Die Labour-Führung scheint das nicht zu beunruhigen. Sie ist offenbar von der Überzeugung beseelt, dass die EU einer Labour-Regierung einen anderen Vertrag anbietet als Theresa May. Immerhin hat Corbyn des Öfteren erklärt, auf Dauer in der Zollunion, ja sogar im Binnenmarkt bleiben zu wollen. Eine Lösung „Norwegen plus“ – privilegierte Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), nicht in der EU – hätte für Brüssel den Vorteil, dass Britannien als Markt und Beitragszahler erhalten bliebe, man die Briten aber als ewige Bremser und Neinsager los wäre.
EU-Ratspräsident Donald Tusk stellt die richtige Frage: Wer auf der Insel hat den Mut, den Menschen zu sagen, worin die einzig konstruktive Lösung in dieser verfahrenen Lage besteht? Sie sollten den Abschied von der EU absagen. Was daran gebunden wäre, dass Unterhaus und Regierung den rechtlichen Rahmen für eine erneute Volksbefragung schaffen. Aber solchen Heldenmut, sich gegen die weit verbreitete EU-Skepsis zu stellen – gegen den Willen zu unbedingter Souveränität, gegen maßlose Illusionen, gegen Realitätsverweigerung, gegen den tief verwurzelten Glauben an eine Ausnahmestellung der Briten in der Welt, gegen die Träume vom „globalen Britannien“, das die Glorie des Empire wiederbeleben kann –, diese Courage hat keiner. Jeremy Corbyn nicht und die Konservativen schon gar nicht.
Kommentare 10
Sie sind also der Meinung, ein Rechtsstaat müsse nicht jedem Täter seine individuelle Schuld nachweisen, sondern müsse bei so einer "Katastrophe" schon mal pauschal irgendjemanden aburteilen, nur weil es so viele Tote und Verletzte gegeben hat?
Jeremy Corbyn einen Mangel an politischem Mut vorzuwerfen ist schon eine etwas überraschende Schlußpointe. Anders als in Deutschland stehen die britischen Sozialdemokraten nicht als staatpolitische Hilfstruppen zur Verfügung, wenn die Konservativen mal nicht spuren. Das macht die Neoliberalen hüben wie drüben ganz fassungslos. Mir zeigt das eher, wie mutig Corbyn ist. Und wie phantasielos einige Kommentatoren. Man könnte den Krisenball jetzt auch ganz im Feld der EU sehen, deren Wortführer in Ratlosigkeit versinken. Und die bisher den Brexit nur als technische Frage behandelt haben, obwohl sie Anlass genug hätten, eine politische Krise der EU darin zu sehen.
May, Johnson, Corbyn, Farage etc.pp. - das ahnte schon Pink Floyd:
“Hanging on in quiet desperation is the English way…” (Dark Side of the Moon, Time 1973)
Wozu soll Corbyn denn den Mut haben? Er und seine Partei haben sich in hunderten Veranstaltungen für das Remain ausgesprochen. Trotz des Einsatzes von erheblichen Parteigeldern (die Tories haben als Partei kein einzelnes Pfund für eine Remain-Kampagne spendiert) waren sie den Leave-Betrügern im Referendum unterlegen. Corbyn hat erklärt er und seine Partei würden das Ergebnis respektieren. Nun sollen sie also wortbrüchig werden. Sie sollen "verantwortungsvoll" im Sinne der Blairisten handeln. Wer so seine politische Verantwortung sieht war und ist bereit, einen Staat mit Lügen in kriegerische Abenteuer zu treiben - so geschen durch Blair im Falle des Irak, so auch von deutschen Sozialdemokraten im Falle Jugoslawiens.
Aber Krätke gehört offenbar zu den Menschen mit einem reduzierten Erinnerungsvermögen. Aber und das ist bezeichnend: Krätke steht auf der ersten Seite des Freitag, Paul Mason nur im Online-Angebot. Auch das ist eine Botschaft.
Es hat aber mit Mutlosigkeit nichts zu tun, wenn sich in allen Umfragen - und davon wurden sehr viele angefertigt in den vergangenen Monaten in GB - immer noch die Hälfte der Briten für den Brexit ausspricht. So verrückt es ist. Mehr als sich den Mund fusselig reden können die Brexit-Gegner aber nicht.
Ich sehe es mittlerweile so: Raus aus der EU mit den Briten, wenn keine klare Mehrheit bleiben möchte. May hat alles versucht. Mehr war nicht möglich. Und die EU muss sich keinen Zentimeter mehr bewegen. Auch die hat genug getan. Sollen sie halt den No-Deal-Brexit bekommen. Inklusive harter Grenze zu Nordirland. Wenn es Demokratie ist, dann bitte.
Das ist nicht, was ich mir wünsche. Wer wünscht sich das schon? Die Hälfte der Briten offenbar. Dann soll es so sein.
"Man könnte den Krisenball jetzt auch ganz im Feld der EU sehen, deren Wortführer in Ratlosigkeit versinken."
Hört man immer wieder. Aber die Verantwortung liegt allein bei den Briten. Wenn ich mich entscheide aus meinem Turnverein auszutreten, muss ich mich umdrehen und gehen. Der Verein muss gar nichts.
Das kann man so sehen. Aber ein vernünftiger Vereinsvorstand würde sich immer fragen, was er gegen Mitgliederverlust unternehmen kann. Die EU wird wahrscheinlich nicht nur von der Hälfte der Briten abgelehnt. Das sieht doch in anderen europäischen Ländern nicht anders aus.
Zustimmung. Ein chauvinistischer Ausstieg aus Europa ist wohl noch schlimmer als ein Festhalten an einer falschen Europakonstruktion, aber es geht nicht anders als daß man den demokratischen Willen respektiert und die Folgen ausbaden läßt. Corbyn macht es richtig, indem er weg von der Frage Europa oder kein Europa den supranationalen Zusammenschluß von der Verbesserung der sozialen, rechtlichen, mentalen Lage abhängig macht. Dies ist der Schritt von einer manipulativen Scheinalternative zu einer substantiellen. Es muß wieder auf die Frage einer rechten oder linken Organisation der Gesellschaft hinauslaufen. Wenn der Sozialstaat im europäischen Maßstab nicht verwirklicht werden kann, muß er national angestrebt werden. Der Brexit-Irrsinn liegt nicht in einer teilweise berechtigten Kritik am Bürokrateneuropa, sondern in den illusionären und friedensgefährdenden imperialen Restaurationswünschen.
"Aber ein vernünftiger Vereinsvorstand würde sich immer fragen, was er gegen Mitgliederverlust unternehmen kann."
Nur was soll die EU sich im Fall GB fragen; bei einer Kampagne, die auf höchst alternative Fakten und gefühlige Lügen gebaut ist? Das Mitglied will trotz Extrawurst-Rabatt den Beitrag nicht zahlen und fühlt sich von den Vereinsregeln seiner nationalen Herrlichkeit beraubt. Dann muss es bleiben und versuchen, die Dinge noch weiter im im Hinblick auf den "Finanzplatz London" zu beeinflussen; wirtschaftsliberal und unsozial. Ich darf annehmen, dass Ihnen diese Richtung so unsympathisch ist wie mir. Jedenfalls möchte ich in einer EU leben, die erkennt, wann der Preis zu hoch ist ein Mitglied (bei Laune) zu halten. Die Geschlossenheit der restlichen Mitgliedsstaaten im Brexit Case ist mehr als ich vor einem Jahr zu hoffen gewagt hätte. Unabhängig davon dürfen andere Dinge in und an der EU gerne kritisch hinterfragt werden. Wenn 27 sich einig sind, kann die Haltung zu Brexit und Abkommen so falsch und undemokratisch aber nicht sein.
"Bezeichnender Weise droht offenbar kein politischer Tsunami wegen der erwiesenen Wählertäuschung vor dem Referendum. Es wird intensivst darüber geschwiegen, welche Tricks der ungekämmte Boris und seine Kumpanen im Geiste, von Halbwahrheiten und Lügen bis zu unhaltbaren Versprechungen, gegenüber ihren Wählern angewandt haben, um ihr Ziel zu erreichen."
Wenn es nur so wäre. Das Unglaubliche ist aber, dass schon während der Kampagne von Johnson und Co. mehr als genug Aufklärung stattgefunden hat - und erst recht danach. Doch sie hat nicht verfangen. Schlimmer noch: Den meisten der heute Befragten Brexit-Befürwortern dürfte klar sein, dass sie belogen wurden. Aber das ist ihnen egal. Vielleicht wussten viele sogar vor dem Referendum schon, dass ihnen Quatsch erzählt wird; stimmten aber trotzdem für den Austritt. An mangelnder, sachlicher Information durch "die großbürgerlichen Medien" kann es nicht gelegen haben. Es scheint vielmehr, als hätten irgendwelche Gründe hergemusst, egal welche, um das Gefühl der Brexiteers mit irgendwas zu unterfüttern - und sei es Blödsinn.
Falls mir ein Vergleich gestattet ist, mit dem ich mir nur selbst ein Bein stellen kann: Farage und Johnson haben die EU zu etwas verzerrt, das mich an Goebbels' Propaganda-Produkt "Die Juden" erinnert. Damals war, trotz Dauerbeschallung und Repression, nicht fehlendes Besseres Wissen das größte Problem, sondern die nicht in Betracht gezogene Gewissheit, dass mit dem Gefühl etwas nicht stimmen kann wenn die "Fakten" keinen Sinn ergeben. Vielleicht ist es sogar so, dass die Briten einen Selbstläufer produziert haben, bei dem Umkehr das Eingeständnis wäre, Lug- und Trugschlüssen aufgesessen zu sein. Trotz als Verhinderer von Selbsterkenntnis.
Daraus kann man lernen, dass es nie zu spät ist eigene Positionen zu hinterfragen und gegebenenfalls zu ändern. Aber nur, wenn man die Verantwortung nicht allein bei "den Medien" sucht und findet.