In der Geiz-ist-geil-Falle

Europäische Union Eine Deflation beschert nunmehr acht Mitgliedsstaaten fallende Preise, weniger Wachstum und auch steigende Schulden
Ausgabe 18/2014

Der Deutschen liebste Obsession, das Schreckgespenst Inflation, glänzt durch Abwesenheit. In diesem Frühjahr ist die offizielle Inflationsrate in der Eurozone auf 0,5 Prozent abgesackt, so tief wie seit dem Scheitelpunkt der Finanzkrise im November 2009 nicht mehr. Vor gut einem Jahr lag sie noch bei 1,7 Prozent, also in der Nähe des offiziellen Inflationsziels der EZB von zwei Prozent glatt. Seit dem Winter 2011/12 hält sich die Geldentwertung in Grenzen und das spürbar.

Dieser Befund klingt nach einer guten Nachricht – trotz einer von der EZB ausgelösten Geldschwemme und steigender Staatsschulden bei etlichen Eurostaaten kommt die Inflation nicht in Trab. Nach der in Deutschland bestgeglaubten ökonomischen Irrlehre müsste sie längst galoppieren. Weil das nicht einmal im Ansatz stattfindet, lautet die weniger gute Nachricht für die Eurozone: Der Eurokurs steigt auf den internationalen Devisenmärkten wie schon lange nicht mehr. Fast 1,40 Dollar müssen inzwischen für einen Euro bezahlt werden, fast so viel wie vor Ausbruch der Finanzkrise im Spätsommer 2008. Das verbilligt Importe in die Länder der Gemeinschaftswährung, nimmt aber den Krisenstaaten Südeuropas die Aussicht, sich durch vermehrte Ausfuhren aus der Affäre zu ziehen. Für Deutschlands Exportindustrie, die seit jeher nicht mit Billigpreisen, sondern mit Spitzenqualität konkurrieren will, ist das nur lästig, gefährlich weniger.

Löhne unter Druck

Schwedens Riksbank, die älteste Zentralbank Europas, erinnert an zwei Jahrzehnte Deflation und Stagnation in Japan, einst die zweitgrößte Ökonomie der Welt, und will alarmieren. In Schweden ebenso wie in Griechenland sei die Deflation bereits eine wenig komfortable Realität. Besonders die Preise für Konsumgüter würden sinken, so dass im März für Schweden eine Negativ-Inflationsrate von minus 0,4 Prozent zu konstatieren war. Zu ergänzen wäre, in Griechenland betrug sie zur gleichen Zeit minus 1,5 Prozent, ebenso in Spanien, in Portugal minus 0,4 Prozent. Bulgarien übertraf sie alle mit minus zwei Prozent. Insgesamt erfasst die Deflation derzeit acht EU-Länder, während die übrigen höchst magere Inflationsraten vorweisen. Nur die Briten dürfen sich noch an einer halbwegs anständigen Geldentwertung von 1,6 Prozent bei einem steigenden Pfundkurs erfreuen.

Soll man sich wegen sinkender Preise Sorgen machen, wie es der Ökonom Lars Svensson tut, einst Vizepräsident der schwedischen Riksbank? Und warum bricht niederländischen Zentralbankern bei einer Inflationsrate von schlappen 0,1 Prozent der Schweiß aus?

Keine Frage, Deflation bedeutet Entwertung. Und wenn sie lange genug anhält, Vernichtung von Kapital und Vermögen. Deflation setzt einen Abwärtstrend in Gang, der für eine von der Droge Wachstum abhängige Wirtschaft pures Gift ist. Alle sitzen auf ihrem Geld, das immerweniger wert ist, weil alle auf weiter sinkende Preise setzen. Die Geiz-ist-geil-Falle schnappt zu und die Märkte – allen voran die für Konsumgüter – schrumpfen. Wird daraus ein stabiler Trend, steigen die Realzinsen – ein bisschen, während die Gewinne und Investitionen absacken. Worauf wiederum die Unternehmen mit Rationalisierungs- und Einsparrunden reagieren, in deren Folge die Arbeitslosigkeit steigt, verbunden mit dem Druck auf Löhne und Einkommen.

Endlich Strafzinsen

Ohne Inflation verlieren die Schulden nicht an Wert, sondern verharren nominal auf dem gleichen Niveau, während es bei den Vermögen durchaus einen Wertverfall gibt. Folglich steigt das Volumen der „faulen“ Kredite. In Ländern mit extrem hohen Staats- und Privatschulden droht so eine „Schuldendeflation“. Auch wenn man eisern spart und fleißig Verbindlichkeiten abbaut, steigt deren Quote unaufhörlich. Mit einem Wort: Wer in eine Deflation gerät, sitzt in der Überschuldungsfalle.

Deshalb fordert Christine Lagarde als Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF) die EZB zu einer schärferen Gangart auf. Gegen die Deflationsspirale müsse man schnell vorgehen, so schnell wie möglich. Selbst eine chronische Niedriginflation von 0,5 Prozent in der Eurozone sei hochgefährlich. Die Schweden, immerhin Pioniere einer Reflationspolitik, die sie während der Weltwirtschaftskrise Anfang der dreißiger Jahre vor dem Schlimmsten bewahrt hat, stimmen laut ein. EZB-Präsident Mario Draghi und mit ihm der ganze Zentralbankrat sind der gleichen Ansicht und kündigen drastische Maßnahmen an. Man werde im Fall des Falles intervenieren und europäische Staatspapiere aufkaufen – und zwar unbegrenzt. Sogar von Strafzinsen für die bei der Zentralbank geparkten Gelder der Privatbanken ist die Rede.

Also endlich die Kreditklemme lösen? Offenbar will die EZB noch einmal „quantitative easing“ betreiben und noch mehr Geld in Umlauf bringen, damit die Inflation anspringt und so viel Liquidität wie möglich in die Wirtschaft gepumpt wird. Über die Details eines möglichen Ankaufprogramms wird noch debattiert. Schließlich hat die Zentralbank Länderquoten zu respektieren und darf nicht dort am stärksten eingreifen, wo es am nötigsten wäre.

Jens Weidmann, Angela Merkels Mann in der Bundesbank, ist auffallend moderat geworden. Von den konservativen Hardlinern der deutschen Ökonomenszene kommt die Versicherung, eine Deflation sei doch sehr unwahrscheinlich. Im Chor wiederholt die politische Klasse samt Wirtschaftssachverständigen das Mantra vom Aufschwung, der gerade um die nächste Ecke biegt und alles ausbügelt.

Einige Ökonomen hingegen – wie der jedes Radikalismus unverdächtige Lars Svensson – haben gemerkt, dass etwas fatal danebenging mit der Krisenpolitik der vergangenen Jahre. Merkel und ihre Gefolgschaft haben eisern die falsche Krise bekämpft, die Augen starr aufs Inflationsgespenst gerichtet. Die drakonische Austeritätspolitik, die sie über Europa brachten, hat eine Deflation in Gang gesetzt, die kaum noch zu stoppen ist. Dazu bedürfte es mehr als nur einer konzertierten Aktion der EZB. Nötig wären Abkehr und Abschied von der Austerität in ganz Europa.

Michael Krätke schrieb zuletzt über die Sanktionspolitik gegenüber Russland

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